Ihr Buch handelt allerdings nicht nur von Despotie, Gewalt und Konflikt im Zarenreich, sondern auch von der sich darin entwickelnden künstlerischen Kultur, die ganz Europa begeisterte. Wie war deren Entstehung möglich?
Man muss sich einen grundlegenden Unterschied zwischen Europa und dem Zarenreich klarmachen. Im Westen Europas entwickelten sich liberale Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten und Gewaltenteilung im Milieu des Bürgertums, in Korporationen, Ständen und Universitäten. In Russland war das geistige Potenzial hingegen in der Staatsbürokratie konzentriert. Auch der Liberalismus war eine Angelegenheit der Eliten, die nun versuchten, ihren Staat von innen zu verändern, ihn zu reformieren und zu mäßigen.
Also war es ein Elitenprojekt, das die Lebenswelt eines Großteils der Bevölkerung Russlands damals überhaupt nicht berührte?
Ja. Die Liberalisierung war ein Werk der Bürokratie, sie kam von oben. Die aufgeklärten Bürokraten, wie man sie genannt hat, versuchten in den 50er- und 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts, den Raum des Sagbaren zu erweitern und ihn für Kritik zu öffnen. Die herrschenden Eliten wollten nicht weiterleben wie bisher. Und so kam die Idee der Freiheit in das Leben von Millionen.
1856 hatte der als liberal geltende Alexander II. seinen reaktionären Vater Nikolaus I. auf dem Thron abgelöst.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts verlor der russische Staat seinen despotischen Charakter. Alexander II. hob die Leibeigenschaft auf, die Rechtsprechung wurde von der Exekutive getrennt, eine lokale Selbstverwaltung in Russland eingeführt. Die unabhängige Justiz zog kritische junge Menschen geradezu magisch an. Lenin, später Führer der Bolschewiki, und Alexander Kerenski, ein prominenter Sozialrevolutionär und Abgeordneter der Duma, waren Anwälte, bevor sie sich der Revolution verschrieben. Auf dem Markt erschienen Zeitungen und Journale in hoher Auflage. Charles Dickens, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, John Stuart Mill und die Bücher anderer westlicher Autoren wurden gekauft und gelesen. In wenigen Jahren eröffnete sich eine vollkommen unbekannte, neue Welt. Aus Untertanen wurden Bürger, die den Geist der Freiheit atmeten.
War es auch die Entdeckung des Gewissens durch Teile der russischen Elite?
Die Elite entdeckte nicht nur ihr schlechtes Gewissen, sie zog aus dieser Entdeckung auch Konsequenzen. Die Schriftsteller Iwan Turgenjew und Lew Tolstoi litten unter der Gleichgültigkeit, mit der die Elite dem Leiden der Bauern begegnet war. Sie engagierten sich für die Belange des einfachen Volkes, wollten nicht länger auf Kosten der Bauern ein üppiges Leben führen. Dieses Leiden am schlechten Gewissen richtete auch ihr Verhältnis zum Staat ein, der abgelehnt und bekämpft wurde, weil man ihn für das Elend verantwortlich machte.
Allerdings sind sie am Ende gescheitert. Warum?
Es hat am Ende nicht funktioniert, weil die Elite vom Rest des Volkes nahezu vollständig getrennt war. Die russischen Intellektuellen hatten kein Publikum, mit dem sie sich hätten verständigen können. Die Kaufleute in den Städten waren konservativ, die Bauern lebten in einer anderen Welt. Im Grunde waren die verhassten Beamten in der Bürokratie das einzige Publikum, mit denen Intellektuelle in einen Austausch treten konnten. Und weil Intellektuelle nicht erproben konnten, was sie sich ausgedacht hatten, verwandelten sich Ideen in Ikonen, die angebetet und verehrt wurden, nur weil sie aus Europa stammten. Die russische Intelligenzija entwickelte eine Mentalität, wie man sie in weltabgewandten religiösen Sekten findet.
Eine Mentalität, die dann auch in Teilen in Extremismus und Terrorismus ausartete. 1881 ermordete eine sozialrevolutionäre Organisation ausgerechnet Alexander II., der 20 Jahre zuvor die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft hatte.
Alexander II. lebte angesichts der terroristischen Bedrohung in Furcht, verbarrikadierte sich hinter Palastmauern. Am Ende fiel er dem Terror zum Opfer. Es ist tragisch, dass ausgerechnet Alexander II., der Reformer, von Terroristen getötet wurde, die nicht verstanden, dass der zarische Staat auch ihre Lebensversicherung war. Alexanders Sohn beendete die Ära der liberalen Reformen.
Alexander II. bekannte einmal, dass er Russland eigentlich verachte.
Alexander II. war ein Mann, der im frühen 19. Jahrhundert sozialisiert worden war, der sich die Autokratie als Erzieher und Dompteur des Volkes vorstellte. Für die Lebenswelt der Untertanen brachte er kein Verständnis auf, die Vorstellung, es könne auch außerhalb der Bürokratie Sinnvolles hervorgebracht werden, war ihm vollkommen fremd. Die Industrialisierung des Zarenreiches im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aber erschütterte all diese Gewissheiten und stellte das Leben auf den Kopf. Auf diese Erschütterung war das staatliche Gefüge nicht vorbereitet.
Die sozialen Verwerfungen der Industrialisierung konnten vom Staat nicht abgefedert werden. Millionen Bauern wanderten in die Städte, Sankt Petersburg und Moskau veränderten ihr soziales Antlitz binnen weniger Jahre. Russlands Industriestädte wurden von Bauern erobert, die die Kultur des Dorfes nun auch in der Stadt verankerten. Es gab keine Sozialversicherung, keine Gesundheitsfürsorge, keine Polizei, die modernen Ansprüchen gerecht geworden wäre. In den Städten entluden sich gewalttätige soziale Konflikte, auf die die Staatsgewalt nicht vorbereitet war und der sie nicht Herr wurde.
Nach der Ermordung Alexander II. kam es in südrussischen und ukrainischen Gouvernements zu Pogromen gegen Juden. War es ein Kontrollverlust der Herrschaft?
Nichts fürchteten Russlands Herrscher mehr, als die Entladung sinnloser und epidemischer Gewalt. Pogrome ereigneten sich vor allem an den Bahnlinien und Verkehrsknotenpunkten, überall dort, wo Nachrichten übermittelt werden konnten. Das soziale Gefüge war fragil, die Sicherheitsorgane auf die Massierung von Gewalttätern nicht vorbereitet.
1905 loderte die Gewalt in Russland erneut auf. Nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg forderten Revolutionäre Reformen, die Armee schoss sie zusammen.
Zwar war die Revolution des Jahres 1905 ein blutiges Geschehen. Aber Russland war nach ihrem Ende auch ein anderes Land. Nikolai II. gewährte eine Verfassung, berief ein Parlament. Seit 1906 war das Zarenreich eine konstitutionelle Monarchie. Die Zensur wurde abgeschafft, mehr Menschen als je zuvor gingen zur Schule, niemals hatte es so viele Zeitungen und Journale gegeben. Die Liberalen bekamen, was sie verlangt hatten: ein Parlament und eine Verfassung, und sie begriffen, dass sich ihre Partizipationschancen erweiterten. Die Revolution öffnete auch der radikalen Intelligenzija die Augen. Sie verstand, dass die Staatsgewalt mit ihren Bajonetten auch sie vor der Wut des Volkes schützte.
Die Duma galt aber als zahnlos, später als gescheitert: Im Prinzip hat sie also nichts bewegt?
Man muss das konstitutionelle Experiment an seinen Möglichkeiten bemessen. Das Wahlgesetz privilegierte die Besitzenden und Gebildeten, und dennoch gab es in der Duma Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, Liberale und Konservative, Polen, Georgier, Tataren und Ukrainer. Hätte man das russische Wahlgesetz von 1905 auf Großbritannien angewandt, dann wäre das Unterhaus von Abgeordneten aus Indien dominiert worden. Die Duma war eine Bühne, auf der sich alle Regionen des Imperiums zur Sprache bringen konnten.
Allerdings verblieben diesem Reich nur noch wenige Jahre bis zu seinem Untergang. Besteht darin Russlands Tragik, die bis heute fortgreift?
Der Erste Weltkrieg hat all diese Errungenschaften zunichte gemacht, weil das Zarenreich auf die Herausforderungen des totalen Krieges nicht vorbereitet war. Es ging 1917 schließlich in inneren Wirren zugrunde.
Ist das Zarenreich letztlich auch an seiner Größe und dem imperialen Anspruch gescheitert?
Sergei Witte, der wohl einflussreichste Politiker im späten Zarenreich, riet Nikolai II. davon ab, Russland in den Weltkrieg zu führen, und er sagte ihm voraus, was geschehen werde, sollten die Armeen des Zaren unterliegen. In seinen Memoiren findet sich auch eine hellsichtige Reflexion über das Vielvölkerreich. Russland müsse sich vom Imperium verabschieden, sich von seinen nationalen Rändern trennen, wenn es in Frieden leben wolle, schrieb er. Russland müsse sich als Nationalstaat neu erfinden, vom Imperium lassen. Leichter gesagt als getan. Denn am Ende errichteten die Bolschewiki das Imperium auf neuen, stabilen Fundamenten. Und auch heute fällt es den Eliten offenbar schwer, sich vom Vielvölkerreich vergangener Tage zu verabschieden.
Haben Sie Hoffnung für Russland, das derzeit sein Imperium durch den Krieg gegen die Ukraine restaurieren will?
Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Russland sich eines Tages verändern und seinen inneren Frieden finden wird. Das aber wird nur gelingen, wenn alle an diesem Krieg beteiligten Parteien nicht die Fehler wiederholen, die in diese Katastrophe geführt haben.
Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.