Rechtschreibung: Ohne Rechtschreibung keine Gerechtigkeit

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Meine neue
siebte Klasse in Berlin-Neukölln hat 27 Schüler, davon können mehr als zwei
Drittel laut einer Schreibprobe kaum einen Satz ohne Rechtschreib- und
Grammatikfehler schreiben. Einige verschriftlichen ihr Kiezdeutsch, zum
Beispiel schreiben sie “es gibt’s” statt “es gibt” oder lassen Artikel weg “gehst
du auch Kino” oder “bist du schon Ubahn”. Bei der Hälfte der Klasse sind Texte
teilweise unverständlich — die Wörter sind entweder so unleserlich geschrieben,
dass man die Rechtschreibung gar nicht prüfen kann, oder so falsch, dass man
auch mit viel Kreativität nicht deuten kann, was gemeint war.

Wenn es nach dem
baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ginge, wäre das kein
Grund zur Sorge, denn die KI oder die Autokorrektur wird alles regeln, das sagt er
immer mal wieder. Hinter der Debatte steckt auch die veraltete Praxis des sogenannten
Fehlerquotienten, den sich manche zurückwünschen. Er berechnet die Anzahl der
Rechtschreibfehler im Verhältnis zu der Wörteranzahl eines Aufsatzes oder einer
Klassenarbeit und hat die Note mitbestimmt. Doch der Fehlerquotient ist in den
meisten Bundesländern abgeschafft.

Ich halte es
für extrem wichtig, dass meine Schüler und Schülerinnen Rechtschreibung lernen,
ohne deshalb einer altmodischen Benotungspraxis hinterherzutrauern.

Homeschooling in der Grundschule verschärft das Rechtschreibproblem in der weiterführenden Schule

Viele der Rechtschreibschwachen in meiner Klasse leben in armen Familien. Ein
Migrationshintergrund zieht hingegen nicht automatisch Rechtschreibprobleme
nach sich. Von den zwei Dritteln, die sehr schlecht in Rechtschreibung sind,
sprechen die allermeisten Kinder zu Hause Deutsch. Die beiden
Rechtschreibprofis der Klasse wachsen mehrsprachig auf. Was alle gemeinsam
haben: Sie waren gerade in der zweiten bis vierten Klasse, als wegen Corona die Schulen geschlossen
waren. Rechtschreibregeln hätten sie im Homeschooling lernen müssen. Nur
wenige Eltern haben den Ausfall ausgleichen können. Die Grundschule hat es auch
nicht geschafft. Hinzu kommt, dass Videos auf dem Handy sogar das Lesen von Mangas und Comics verdrängen.

Trotzdem halten
wir Lehrkräfte an meiner Schule es für eine schlechte Idee, die Standards
herunterzusetzen. Nach wie vor und aus gutem Grund zählt in den
Abschlussprüfungen in der zehnten Klasse oder im Abitur auch die sprachliche
Leistung – also Grammatik, Ausdruck und Rechtschreibung. Klassenarbeiten und
Klausuren werden als Vorbereitung auf die zentralen Prüfungen deshalb identisch
bewertet. Wenn die Verständlichkeit einer Klassenarbeit durch
Rechtschreibfehler erheblich beeinträchtigt wird, kann dabei auch eine Sechs
herauskommen. Der ein oder andere Kommafehler wird jedoch niemandem mehr zum Verhängnis.
Anders als beim alten Quotienten wird die sprachliche Leistung eher ganzheitlich
und funktional als rein mathematisch bewertet.