Armin Schmiedeberg liebt Heavy Metal. Nicht in der Musik, sondern in der Industrie. Gestapelte Stahlrohre, tonnenschwere Gussteile in Fräsmaschinen und Maschinen, die sanft vor sich hinsurren: das ist der Sound seines Berufslebens. Ein Berufsleben, das ihn zu einem der kenntnisreichsten Fachleuten für die Frage macht, wie es um den Industriestandort Deutschland steht.
Schmiedeberg hat drei Jahrzehnte als Berater in die Tiefen von Industriebetrieben geschaut. Nun leitet er die Aufsichtsgremien von drei großen, familiengeführten Mittelständlern, Chiron Group, Hoberg&Driesch und Arburg. Die Unternehmen verkaufen Maschinen und Stahlrohre in die ganze Welt. Sie sind Teil dessen, was gerne als das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bezeichnet wird.
Die Produktionshallen des 102 Jahre alten Spritzgussmaschinenherstellers Arburg GmbH und Co+KG sind schon von weitem zu sehen. Sie bedecken einen Schwarzwaldhügel am Rande des Luftkurorts Loßburg. Von der gläsernen Eingangshalle bis zur Rückwand der Fabrik geht man einen Kilometer. Armin Schmiedeberg wartet im ersten Stockwerk, vor ihm liegt eine Liste, die er vorbereitet hat.
30 Beauftragte für alle möglichen Dinge
Schmiedeberg will nicht nur abstrakt über zu viel Bürokratie und Berichtspflichten in den Betrieben sprechen, sondern ganz konkret. „Allein an einem Standort gibt es mehr als dreißig Beauftragte für alle möglichen Dinge“, sagt er. „Für Strahlenschutz, für Menschenrechte, für Datenschutz, für Hinweise von Whistleblowern, Ombudsleute für alles mögliche.“
Der Kreativität sind anscheinend keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, Mitarbeiter für Tätigkeiten mit zweifelhaftem Nutzen abstellen zu müssen. Sogar dafür, wie man Leitern zu benutzen hat, muss es regelmäßig Schulungen geben. Das Äquivalent von vierzig bis fünfzig vollen Stellen müsse man für all diese unproduktiven Aufgaben verplanen, rechnet Schmiedeberg vor. Was kostet das ein Unternehmen mit rund 3000 Mitarbeitern? „3,5 bis 4 Millionen Euro. Jedes Jahr“, sagt Schmiedeberg.
Der 63 Jahre alte Wirtschaftsingenieur trägt solche Zahlen ohne Zorn vor. Er ist kein Habeck-Hasser, er tobt auch nicht als erstes in Richtung Brüssel. Die Schulungen, in denen man lernt, wie eine Leiter funktioniert, habe beispielsweise gar nichts mit der Politik zu tun, sagt er. Die Berufsgenossenschaft, die Unfälle im Betrieb versichert, zahlt bei einem Leitersturz nur, wenn die Nutzung der Leiter vorher korrekt geschult wurde. Sinnvoll findet das in den Betrieben in dieser Ausprägung niemand. Aber ändern lässt es sich auch nicht so einfach.
Sinnvolle Vorgaben mit dilettantischer Umsetzung
Viele Vorgaben der Politik findet Schmiedeberg von der Idee her sinnvoll, in der Umsetzung aber dilettantisch. Das Lieferkettensorgfaltsgesetz, das sicherstellen soll, dass entlang der gesamten Lieferkette keine Kinderarbeit oder Umweltzerstörung stattfindet, sei so ein Beispiel. Eines der Unternehmen, das er berät, habe schon vor fünf Jahren begonnen, Nachhaltigkeitsberichte zu schreiben – nicht aus Zwang, sondern weil man darin einen Wettbewerbsvorteil bei der Kundschaft erkannt habe.
Seitdem hätten sich allerdings schon zweimal die Kriterien geändert, die man in dem Bericht beleuchten müsse. Die nächste Änderung sei bereits angekündigt. Um die derzeit 500 bis 600 Datenpunkte für den Bericht zu erfassen, brauche es rechnerisch zwei Vollzeitkräfte im Jahr. „Ein großer Mittelständler kann das irgendwie ausschwitzen. Aber was ist mit dem Zehnmannbetrieb, der dann Fragebögen dazu bekommt, unter welchen Arbeitsbedingungen seine Vorprodukte entstanden sind?“, fragt Schmiedeberg.
Eine ganze Armee von Unternehmensberatern habe sich auf dieses lukrative neue Geschäftsfeld gestürzt. „Was für Versicherungsunternehmer mit ihren Drückerkolonnen die Riesterrente war, ist für die großen Prüfungsgesellschaften die Nachhaltigkeitsberichterstattung“, sagt er.
Kurzarbeit so bürokratisiert, dass sie zu Überstunden führt
Schmiedeberg hat viele weitere Beispiele parat: Die Datenschutzgrundverordnung DSGVO, die dazu führe, dass alle immer zuerst an den Datenschutz denken. Das Verbot der Ewigkeitschemikalien, bekannt unter dem Kürzel PFAS, das international ein Wettbewerbsnachteil sei. Die Kurzarbeitsregelung, die so bürokratisiert sei, dass die Personalabteilungen Überstunden schieben müssen, wo doch eigentlich gespart werden soll.
Hat die Politik die Folgen ihrer Gesetzgebung im Blick? Schmiedeberg schüttelt mit dem Kopf. Letztlich seien all die Regelungen das Ergebnis einer gesellschaftlichen Willensbildung, nur eben extrem schlecht umgesetzt. Was zu tun ist? Obwohl die Bürokratielast sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt habe, ist Schmiedeberg nicht für eine Radikalreform im Stil der Kettensägenpolitiker.
Ihm schwebt vor, was er in seiner Berater-Zeit als „Zero-based-Budgeting“ verinnerlicht hat: also gedanklich alles auf Null zu setzen und Schritt für Schritt überlegen, was wirklich gebraucht wird und Wohlstand schafft. „Der Rest kann dann gezielt beschnitten werden.“
Unoordinierter Energiewende treibt die Kosten
Ein weiterer Schmerzpunkt für die Industrie sind die Energiekosten. Auch hier gilt für die Unternehmen, die Schmiedeberg begleitet: Es musste nicht erst der Staat kommen und Fördergeld ausschütten, damit die Mittelständler erkannten, dass sie mit erneuerbaren Energien Kosten sparen können.
Schon vor zwei Jahrzehnten wurden in Loßburg in Eigeninitiative Windräder gebaut. Photovoltaikanlagen zieren die Fabrikdächer und liefern Eigenstrom. Wärmerückgewinnung an den Fassaden, Regenwasseraufbereitung – das alles gehört zum Standard in den Betrieben. Dennoch ist der Strom in Deutschland im internationalen Vergleich teuer.
Die Unternehmen würden gerne noch mehr in Eigenstrom investieren, wenn sie denn mehr Platz und Baugenehmigungen bekämen. Derweil treibt die unkoordinierte Energiewende, in der Stromnetze und Speicherkapazitäten fehlen, die Energiekosten. Dann war da noch der plötzliche Preissprung, der die Unternehmen traf, als Wladimir Putin den Deutschen das billige russische Pipelinegas abdrehte. All das führt dazu, dass Schmiedebergs Mittelständler Industriestrom für 16 Cent je Kilowattstunde beziehen. In Amerika ist der Strom nur halb so teuer.
Keine neuen Standorte in Deutschland
Überhaupt die Standortkonkurrenz. Keines der Unternehmen, das Schmiedeberg eng begleitet, hat in den vergangenen Jahren neue Standorte in Deutschland eröffnet. Wachstum finde ausschließlich im Ausland statt, sagt der Manager, der in Argentinien, Dubai und in Abu Dhabi gearbeitet hat.
Wer ihm zuhört, ahnt, dass die Entscheidungen gegen Deutschland nicht nur am Strompreis liegen. Schmiedeberg berichtet davon, wie amerikanische Delegationen angeführt vom Gouverneur in deutsche Unternehmen einmarschieren und „schlüsselfertige Angebote“ für neue Standorte vorlegen. Flächen für Fabriken, Fachkräfte vor Ort, Schulplätze für Kinder – alles inklusive.
In anderer Himmelsrichtung spielt die Musik in China. Nachdem das Land sich Anfang des Jahrtausends wirtschaftlich geöffnet hatte, konnten deutsche Maschinenbauer sich vor Aufträgen kaum retten. Heute stellen die Chinesen PC-Drucker für Privatleute her, die ein Zehntel von dem kosten, was deutsche Produkte einst kosteten.
Abwanderung ist nicht das Mittel der Wahl für Mittelständler
Auch in dem Segment, in dem Maschinen maßgeschneidert für Kunden angefertigt werden, vollgestopft sind mit Software und hochwertigen Materialien und mehrere Hunderttausend Euros kosten können, wird für die deutschen Hersteller die Luft langsam dünner.
In der Oberklasse seien die Chinesen hier noch nicht angekommen, so Schmiedeberg. Aber manchen Kunden reiche eben auch ein Mittelklasseprodukt. Viele Kunden verlangten zudem heute, dass die Maschinen schnell geliefert werden können. Auch das mache die Produktion in den Wachstumsmärkten attraktiver – während hierzulande steigende Sozialabgaben die Arbeitskosten weiter verteuern.
„Wenn man allein betriebswirtschaftlich denken würde, dann müsste man komplett nach Polen gehen“, sagt Schmiedeberg. „Aber so denken sie nicht, die Eigentümer der Familienunternehmen.“ Sie wollen in den Orten bleiben, in denen ihre Väter und Großväter die Unternehmen groß gemacht haben und in denen sie selbst auch noch oft leben. Sie halten auch die hoch qualifizierten Beschäftigten an diesen Standorten.
Der Kern der Wertschöpfung bleibt am Heimatort
Auch das ist ein Teil der Realität, wie das Wachstum im Ausland. Der Kern der Wertschöpfung, die Schnecken und Zylinder aus den hochfesten Stählen, die das Herz der Spritzmaschinen im Schwarzwald bilden, der bleibt am Heimatort. Die süddeutschen Beschäftigten profitieren so davon, wenn das Geschäft in anderen Fabriken auf der Welt brummt.
In der Autoindustrie sei die Lage prekärer, berichtet Schmiedeberg, aber zumindest in den Unternehmen, in denen er unterwegs ist, sei nicht mit einem Arbeitsplatzabbau und wegbrechenden Geschäften zu rechnen. „Das Glas ist halb voll. Und es könnte sogar ganz voll sein.“
Richtig gehört. Der Mann aus der Wirtschaft sieht in Deutschland enormes Potential, wenn nur endlich damit begonnen werde, alles darauf auszurichten, den Wohlstand zu erhöhen. Damit meint er nicht zuallererst den Bürokratieabbau. „Was mich vielmehr aufregt, ist die Vernachlässigung der Produktivität“, sagt Schmiedeberg. Der so moderate Manager wird im Tonfall nun doch etwas vehementer.
Schulen müssen besser werden
Die maroden Schulen, in die es reinregne und aus denen die Schüler mit so schlechten Mathematikkenntnissen rausgehen, dass sie in der Ausbildung erst einmal nachgeschult werden müssten. Die fehlende Umgehungsstraße zu einer der Fabriken, die seit 25 Jahren diskutiert werde. Die Knauserigkeit in der Haushaltspolitik, in der gespart werde, während in den Nachbarländern kreditfinanziert Wachstum entstehe.
„Ich bin und bleibe Optimist“, sagt Schmiedeberg, „aber ich habe in keinem einzigen Wahlprogramm der Parteien, eine echte Strategie für gezieltes Produktivitätswachstum in Deutschland gefunden.“ Es werde ein bisschen Geld hin- und hergeschoben. Mal hier ein wenig entlastet, dann dort wieder erhöht.
Aber eben nichts, das jemanden zufriedenstellen kann, der es gewohnt ist, Probleme von der Wurzel her zu packen. „Die Wirtschaftspolitik könnte uns mit dem Aufzug hoch ins Penthouse bringen“, sagt Schmiedeberg. „Aber sie lässt uns regelmäßig im ersten Stock aussteigen.“