Warum spielt der Naturschutz keine Rolle?

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Wirtschaftliche Rezession, Gewalttaten, Migration: Der deutsche Wahlkampf scheint seine Themen gefunden zu haben. „It’s the economy, stupid“. Dieses Zitat von Bill Clinton hat auch gut 30 Jahre später noch seine Gültigkeit. Alle vier Jahre können wir an den Wahlurnen entscheiden, in welche Richtung unser Land politisch gesteuert werden soll. Und wir können bewerten, wie verantwortungsvoll die aktuelle Regierung gehandelt hat.

Blau, grün, orange, rot, lila: wirtschaftlich, ökologisch, geopolitisch, gesellschaftlich, technisch. In diese Kategorien platziert das Weltwirtschaftsforum jedes Jahr in seinem Weltrisikobericht diejenigen Entwicklungen, die die größten Herausforderungen für unsere globale Gesellschaft darstellen. Für die kommenden zehn Jahre sind diese fast durchgängig in grüner Farbe gehalten: Extreme Wetterereignisse auf Platz eins, gefolgt vom Verlust der Biodiversität und dem Kollaps von Ökosystemen, kritische Veränderungen der Erdsystemdynamik auf Platz 3, dann Knappheit natürlicher Ressourcen. Erst auf Platz 5 findet sich mit Desinformation ein Risiko, das nicht im direkten Zusammenhang mit unserer Umwelt steht.

Bill Clintons Wahlteam müsste heute anders formulieren: „It’s the environment, stupid”. Aber langfristige Gefahren folgen nicht der Logik von Legislaturperioden und schon gar nicht der tagesaktuell getriebenen öffentlichen Debatte um Neuigkeiten – was ist wo passiert? Dabei schafft biologische Vielfalt Wohlergehen für uns alle. Auch mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung hängt direkt von einer funktionsfähigen Natur ab. Das Artensterben, der Verlust ganzer Ökosysteme, die weitreichenden Auswirkungen auf unsere Gesundheit, all das geschieht schleichend und doch schreiend laut. Warum hört es niemand? Und warum hat es so wenig Einfluss auf Wahlentscheidungen.
Der Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Klement Tockner, in einem Ausstellungsraum seines Museums.
Der Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Klement Tockner, in einem Ausstellungsraum seines Museums.dpa

Die Zahlen sind mehr als deutlich: Seit dem 16. Jahrhundert sind mindestens 680 Wirbeltierarten ausgestorben – unwiederbringlich. Prognosen zufolge könnten wir weltweit innerhalb der nächsten Jahrzehnte 40 Prozent aller Insekten verlieren. 75 Prozent der natürlichen Landökosysteme und etwa 66 Prozent der Meeresökosysteme sind bereits erheblich beeinträchtigt oder gar zerstört worden – rund 3,2 Milliarden Menschen sind hiervon heute schon betroffen. Der Verlust von Bodenorganismen führt zu schlechterer Bodenqualität und zu Herausforderungen für unsere Nahrungsmittelproduktion. Der Biodiversitätsverlust kostet die Weltgemeinschaft laut dem Weltbiodiversitätsrates IPBES jährlich rund 145 Billionen Dollar – mehr als das Eineinhalbfache des globalen Bruttoinlandsprodukts. Die Zerstörung tropischer Lebensräume erhöht das Risiko für Zoonosen wie Covid-19. In den vergangenen Jahrzehnten sind Hochwasserfrequenz, -höhe und -risiko durch massive Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme deutlich gestiegen. Nur zu gut haben wir die Bilder des katastrophale „Ahrtal-Hochwasser“ im Kopf, das in Westdeutschland mehr als 180 Menschen das Leben kostete sowie Schäden in Höhe von 29,2 Milliarden Euro verursachte.

In den bisherigen Fernsehdebatten der Spitzenkandidat*innen wurden die Themen Klima, Biodiversität und Umwelt dennoch nur am Rande gestreift. Und auch wenn man sich die Wahlprogramme derjenigen Parteien anschaut, die laut Umfragen die 5-Prozent-Hürde nehmen könnten, und schlicht nach Begriffen wie „Biodiversität“ oder „Artenvielfalt“ sucht, sieht es eher mau aus. Die SPD setzt ihren Schwerpunkt auf gute Löhne und soziale Sicherheit. Die CDU wirbt mit dem Vorschlag drastischer Steuersenkungen. Die Wirtschaft steht im Mittelpunkt der FDP. Die Linke fordert eine gerechtere Sozialpolitik und möchte beispielsweise einen bundesweiten Mietendeckel sowie eine „Milliardärssteuer“ einführen. Die AfD meint es sei „Zeit für Wohlstand, Sicherheit und Zusammenhalt“. Und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) legt in seinem Wahlprogramm den Fokus auf „Friedenssicherung, Soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftliche Stabilität und Migration“. Die Grünen schreiben immerhin den Kampf gegen die Klimakrise und den Schutz der Umwelt auf ihre Prioritätenliste.

Fakt ist: Wenn wir es in dieser Dekade nicht schaffen, den dramatischen Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, riskieren wir, bis zu eine Million Arten zu verlieren. Und wir verfehlen gleichzeitig 80 Prozent der Nachhaltigkeitsziele sowie zentrale Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens.

Die Lösungen sind da, die rechtlich bindenden Abkommen wurden geschlossen: Das Kunming-Montreal-Protokoll mit klaren Zielen zum Schutz und zur Wiederherstellung von Ökosystemen und zur Wahrung der biologischen Vielfalt. Das Paris-Abkommen mit bindenden Verpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasen. Das EU-Renaturierungsgesetz. Wir müssen dringend ins Handeln kommen – der ungebremste Verlust der Biodiversität und die zunehmende Erderwärmung sind die Herausforderungen für die Zukunft unserer Gesellschaft, der gesamten menschlichen Zivilisation. Das hätte dringend auch auf Wahlplakate gehört, in die Reden der Spitzenkandidaten und -kandidatinnen, und es sollte sich auch bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen widerspiegeln – es wäre „stupid“ es nicht zu tun.

Der Autor

Prof. Dr. Klement Tockner ist seit 2021 Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und leitet die operativen Geschäfte. Sein Ziel: Mit ganzheitlicher Geobiodiversitätsforschung zur Bewältigung globaler Herausforderungen beitragen.

Tockners Schwerpunkt liegt auf der Dynamik, Biodiversität und dem Management von Gewässern. Er arbeitet interdisziplinär zwischen Ökologie, Geomorphologie und Hydrologie, kombiniert Grundlagen- und Anwendungsforschung und berät internationale Forschungseinrichtungen.