Wie Russland die Bundestagswahl beeinflussen will

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Anfang der Woche tauchten auf den Social-Media-Plattformen X und Tiktok mehrere Videos auf. Auf allen sah man denselben Tisch und darauf dieselben Papiere. Die Stimmen, die zu hören waren, unterschieden sich in jedem Video, aber sie behaupteten alle dasselbe: dass hier Briefwahlunterlagen zu sehen seien, die im Wahlbezirk Leipzig 1 versendet worden seien. Und dass auf diesen Unterlagen absichtlich die AfD weggelassen worden sei. Den AfD-Kandidaten auf Platz eins gab es nicht, die Liste für die Erststimme begann mit der Nummer zwei. Auch bei der Zweitstimme tauchte die AfD nicht auf.

Die Videos verbreiteten sich rasant. Und die Nutzer, die die Videos sahen und weiterleiteten, waren außer sich: „Wahlbetrug in der dreistesten Form“, „So fängt es an, die Betrüger sind wieder am Werk“, „Briefwahl muss verboten werden!!! Manipulationen ohne Ende werden damit gemacht . . .“, „Das nennt man Demokratie“.

Fakevideo zeigt geschredderte Wahlzettel mit AfD-Stimmen

Nur: Die gezeigten Wahlunterlagen waren manipuliert. Die Stadt Leipzig hatte alle Unterlagen auf einmal drucken lassen. Wenn die AfD gefehlt hätte, dann wäre das auf allen Wahlzetteln zu sehen gewesen – war es aber nicht. Außerdem nannte ein Sprecher der Stadt gegenüber der F.A.S. weitere Details, welche die Unterlagen eindeutig als Fälschungen entlarven, aber aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich thematisiert werden sollen. Die Stadt Leipzig sah in den Videos eine „gezielte Kampagne“, um den Bundestagswahlkampf zu beeinflussen, und erstattete Anzeige wegen Wahlbetrugs, das Landeskriminalamt ermittelt. Die ursprünglichen Videos verschwanden.

Aber das Netz ist zu schnell. Die Videos sind im Umlauf, und man kriegt sie nicht mehr eingefangen. So wie viele andere Fake­videos. Auf einem sieht man, wie angeblich Briefwahlunterlagen in Hamburg geöffnet und – wenn die AfD angekreuzt ist – geschreddert werden. Der Staatsschutz ermittelt. Aber auch von linker Seite wird manipuliert: Mit Videos im heimatlich-heroischen Stil, offenbar an AfD-Wähler gerichtet, rufen Social-Media-Accounts dazu auf, die Wahlzettel zu unterschreiben. Dadurch würden die Stimmen ungültig werden.

„Vertraust Du blind? Oder schaust Du selbst hin?“

Das Irrwitzige ist: Deutschlands Wahlen gehören mit zu den sichersten der Welt, das zeigen Rankings immer wieder. Fehler passieren, aber Manipulationen gibt es beinahe nie. Trotzdem vertrauen viele Leute der Wahl nicht mehr. Der WDR zeigte kürzlich eine Dokumentation, in der ein junger Mann sagte, er wähle nicht. Warum nicht, fragte der Journalist? Der junge Mann: Er habe so viele Videos im Netz gesehen, dass die Wahl manipuliert sei, er wisse, dass Wählen eh nichts bringe.

Für die Bundeswahlleiterin Ruth Brand liegt das Risiko der Wahl deshalb auch nicht in tatsächlicher Manipulation. „Die Wahl ist sicher“, sagte sie der F.A.S. Brand sieht das Risiko in den Desinformationen über die Wahl, die in den letzten Jahren zugenommen hätten und verunsicherten.

Über den Nutzer „Save Germany“ wurde der Clip zu einem angeblichen Wahlbetrug in Hamburg auf X geteilt. Der mutmaßliche Fakeaccount von „Storm 1516" wurde mittlerweile gesperrt.
Über den Nutzer „Save Germany“ wurde der Clip zu einem angeblichen Wahlbetrug in Hamburg auf X geteilt. Der mutmaßliche Fakeaccount von „Storm 1516″ wurde mittlerweile gesperrt.savegermanyx/X

Und Desinformation muss nicht gleich ein manipuliertes Video sein. Es kann ganz harmlos beginnen, zum Beispiel mit einem Aufruf, Wahlbeobachter zu werden. Jeder Bürger kann den Auszählungen der Wahlen beiwohnen, es ist ein demokratisches Recht. Man muss sich nicht anmelden, man kann einfach kurz vor 18 Uhr im Wahllokal vorbeikommen, übrigens auch zur Auszählung der Briefwahlstimmen. 

Der Publizist und Rechtsextremist Götz Kubitschek säte vor den drei Landtagswahlen 2016 aber durch genau dieses Recht auf Transparenz erhebliche Zweifel an den Wahlen. „Wahlbetrug verhindern!“, lautete die Kampagne. Kubitschek orakelte damals, dass wegen der Migration sehr viele Bürger die AfD wählen würden. Aber: „Die etablierten Parteien werden sich die Macht nicht einfach so nehmen lassen. Es könnte zu Wahlbetrug, Wahlfälschungen kommen.“ Mit dem rechtsextremistischen Verein „Ein Prozent für unser Land“ rief er dazu auf, die Wahl flächendeckend durch eigene Leute zu beobachten – so, als ob allen anderen nicht zu trauen sei.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Auch die AfD organisierte ein paar Jahre später eigene Wahlbeobachter. Nach den Wahlen hörte man zwar nichts mehr von ihnen über tatsächliche Manipulationen. Aber für beide, den Verein und die AfD, war das Projekt auch deshalb von Nutzen, weil Interessierte ihre Daten abgeben sollten. Sie konnten also auch später gezielt angesprochen werden. Bei dieser Bundestagswahl gibt es mit der Initiative „Wabeo“ aus dem Querdenker-Umfeld einen weiteren Akteur. „Vertraust Du blind? Oder schaust Du selbst hin?“, wird hier geworben. Etwa 4000 Leute sollen sich registriert haben.

Russland gilt als „auffälligster Akteur“

Die Verbreiter von Desinformationen zielen nicht nur auf den eigentlichen Wahlvorgang. Auch die Meinungsbildung der Wähler soll beeinflusst werden. In Sicherheitskreisen gilt Russland als „auffälligster Akteur“. Fachleute beobachten, dass der Kreml seine Desinformationskampagnen vor der Bundestagswahl hochgefahren hat. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) Arndt Freytag von Loringhoven spricht von einer „Eskalation“. Als drei große Einflussoperationen Russlands mit Bezug zur Bundestagswahl nennt Loringhoven „Storm 1516“, „Doppelgänger“ und „Operation Overload“.

Der ehemalige Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) Arndt Freytag von Loringhoven
Der ehemalige Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) Arndt Freytag von LoringhovenPicture Alliance

„Doppelgänger“ ist mindestens seit Mai 2022 aktiv. Um prorussische Narrative zu fördern, werden die Internetseiten etablierter Medien kopiert und mit gefälschten Artikeln bespielt. Für den Nutzer ist auf den ersten Blick unklar, dass er nicht auf einer seriösen Nachrichtenseite gelandet ist, sondern bei einer russischen Fälschung. „Operation Overload“ wiederum zielt darauf ab, Faktenchecker und Journalisten mit Falschinformationen zu fluten und so zu überlasten. Bei „Storm 1516“ geht es vor allem darum, Politiker der Grünen und der CDU in den Schmutz zu ziehen.

Ausgedachte Missbrauchsvorwürfe gegen Habeck und Merz

Julia Smirnova hat zu der Einflussoperation recherchiert. Sie arbeitet als Datenanalystin für den Thinktank „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“, kurz CeMAS. Auch bei den Videos zu angeblicher Wahlmanipulation in Leipzig und Hamburg sieht sie Hinweise, dass sie von russischer Seite verbreitet worden sein könnten. Womöglich stünden die Videos in Verbindung zu „Storm 1516“, sagt Smirnova. Denn auch inszenierte Videos und die Verwendung von gefälschten Dokumenten seien für die Kampagne typisch. 

Smirnova beobachtet, dass „Storm 1516“ nach dem Bruch der Ampelregierung Deutschland ins Visier genommen hat. Zuvor sei die Kampagne, die mutmaßlich in Verbindung mit dem russischen Militärgeheimdienst GRU stehe, im amerikanischen Wahlkampf aktiv gewesen. Im November und Dezember 2024 seien in kurzer Zeit rund hundert Internetseiten erstellt worden, um „gezielt Meinungen vor der Wahl zu manipulieren“.

Julia Smirnova vom Thinktank „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“
Julia Smirnova vom Thinktank „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“Picture Alliance
Die Liste der Lügen, die durch „Storm 1516“ verbreitet wurden, ist lang. Im November 2024 tauchte die Falschmeldung auf, der FDP-Politiker Marcus Faber sei ein russischer Agent. Kurz vor Weihnachten erschien ein Artikel zu einem Keniabesuch von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die Reise gab es wirklich, nur die im Text erwähnten 1,9 Millionen kenianischen Arbeiter, die Habeck angeblich nach Deutschland holen wollte, waren erlogen. Kurz zuvor streuten die Russen falsche Missbrauchsvorwürfe gegen den grünen Kanzlerkandidaten. Zu Beginn des neuen Jahres sollten auch die CDU-Spitzenpolitiker Friedrich Merz und Ursula von der Leyen mit ausgedachten Missbrauchsvorwürfen diskreditiert werden.

„Unsere Demokratie ist unsere kritischste Infrastruktur“

Seiten mit Desinformationen erwecken den Eindruck, unabhängige Nachrichtenportale oder lokale Zeitungen zu sein. Die Rechercheplattform „Correctiv“ hat mehr als neunzig Seiten aufgespürt, die sie „Storm 1516“ zuordnet. Die Internetadressen tragen Namen wie „munchener-nachrichten.de“ oder „newsfuereuch.de“. Verbreitet werden die Inhalte, indem Links oder Screenshots der Seiten über Telegram oder soziale Medien wie Tiktok und Facebook geteilt werden. So erreichen sie Millionen von Aufrufen. Dass die russischen Kampagnen massiv auf den Wahlausgang einwirken, glaubt Datenanalystin Smirnova dennoch nicht. Es sei aber schwer zu messen, welchen Einfluss sie auf die Gesellschaft haben. Der frühere BND-Mann Loringhoven sagt: „Doch dass sie wirken, ist unbestreitbar.“

Um die Lage rund um Desinformationen zur Bundestagswahl zu überblicken, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Taskforce gegründet. Im Juni 2024 nahm außerdem die Zentrale Stelle zur Erkennung ausländischer Informationsmanipulation ihre Arbeit im Bundesinnenministerium auf. Sie soll die Bundesregierung über aktuelle Desinformationskampagnen ausländischer Staaten informieren und beraten.

Dass die beiden Stellen eingerichtet wurden, sei ein Fortschritt, sagt Loringhoven, aber nicht ausreichend. Staaten wie Frankreich und Schweden setzten mehr Personal und Ressourcen ein. Beide Länder verfügen bereits über Agenturen für den Informationskrieg. Loringhoven schlägt vor, eine ähnliche Stelle auch in Deutschland zu schaffen. Dort sollen alle Aspekte des hybriden Krieges gebündelt werden. Auch müsse die Bevölkerung stärker über Einflussnahme aus dem Ausland aufgeklärt werden.

Ein weiteres Problem: Serverbetreiber tun grundsätzlich nichts Illegales, wenn sie Desinformationen ausländischer Staaten verbreiten. Ob russische Fakeseiten vom Netz genommen werden, entscheiden die Betreiber also selbst, die Behörden können das nur freundlich anregen. Loringhoven hält Deutschland deshalb für „handlungsunfähig“, er fordert von der künftigen Bundesregierung, eine juristische Lösung zu finden. Denn Desinformation werde immer extremer, auch durch Künstliche Intelligenz. „Unsere Demokratie ist unsere kritischste Infrastruktur.“