Einmal im Jahr treffen sich die Chefs der großen deutschen Wirtschaft-Forschungsinstitute zum „Leibniz-Wirtschaftsgipfel“, um die aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen zu erörtern. In diesem Jahr stand der Termin unmittelbar vor der Bundestagswahl an, Anfang vergangener Woche diskutierten sie in einem virtuellen Treffen über die dringlichsten Aufgaben für die neue Bundesregierung. Vor allem in zwei Punkten bestand weitgehend Einigkeit. Erstens: Die neue Regierung muss für eine effizientere Verwaltung sorgen und dabei auch Bürokratie abbauen, allerdings nicht mit der Kettensäge. Und zweitens: Nachdem sich die Vereinigten Staaten zunehmend von Europa abwenden, muss Deutschland in den kommenden Jahren dringend deutlich mehr für seine militärische Verteidigungsfähigkeit tun. Intelligent gemacht, könne davon auch die Zivilwirtschaft profitieren.
„Wir müssen innerhalb der Nato jetzt vorrangig und sehr schnell mit den Staaten zusammenarbeiten, die bereit sind, etwas für unsere Sicherheit zu tun“, sagte Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts in München. Wünschenswert sei eine stärkere europäische Zusammenarbeit, doch leider sei die Europäische Union nicht dafür gemacht, jetzt schnell zu handeln und eine europäische Verteidigung aufzubauen.
„Wir müssen die Strukturen nutzen, die vorhanden sind, also insbesondere die Nato“, sagte Fuest, „vielleicht auch so etwas wie eine europäische Nato“, ergänzte der Münchener Ökonom. In jedem Fall müsse Deutschland endlich seine Verpflichtungen innerhalb der Nato erfüllen.
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Das sieht auch Moritz Schularick so: „Wir haben in den vergangenen Jahren so viele Weckrufe erhalten und immer wieder auf die Snooze-Taste gedrückt“, sagte der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft: „Wir brauchen eine Luftverteidigung, die uns vor russischen Raketen schützt“. Es gebe ganz akut Handlungsbedarf, wenn die Vereinigten Staaten als verlässlicher Bündnispartner in der Verteidigung ausfallen. „Wir müssen jetzt mit extrem hoher Geschwindigkeit innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre in der Verteidigung Kapazitäten aufbauen, die wir nicht haben.“ Dabei gehe es nicht allein darum, nur mehr Geld für die Verteidigung zur Verfügung zu stellen. Entscheidend sei auch, wie das Geld ausgegeben werde: „Wir müssen sehen, dass wir mit der Erhöhung unserer Verteidigungsausgaben auch unseren technologischen Rückstand beseitigen“, sagte Moritz Schularick.
Das Geld müsse in neue Technologien investiert werden und nicht in solche, die schon 20 Jahre alt seien und gerade veralten, wie etwa bemannte Flugsysteme. Im Ukrainekrieg habe sich gezeigt, dass eine 5000 Euro teure Drohne einen 25 Millionen Euro teuren Panzer außer Gefecht setzen kann. Konkret brauche Europa zum Beispiel einen Ersatz für das amerikanische Satellitennetzwerk Starlink, „weil wir keine eigenen Echtzeit-Aufklärungskapazitäten haben, da hingen wir bislang am Tropf der Amerikaner.“ Schularick sprach von einem „europäischen Manhattan-Projekt“ in Anspielung auf das amerikanische Atomforschungsprojekt im Zweiten Weltkrieg. Der Großteil des Geldes sollte dabei in Europa ausgegeben werden, forderte Schularick. Amerikanische Kampflugzeug vom Typ F 35 zu kaufen, helfe Europa nicht im Streben nach mehr Eigenständigkeit, sagte der Kieler Ökonom.
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Dass in der Steigerung der Rüstungsausgaben Chancen liegen, sagte auch Achim Wambach, der Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim: „Die Vereinigten Staaten geben 16 Prozent ihres Verteidigungsbudgets für Forschung und Entwicklung aus, wir Europäer nur 4,5 Prozent“, klagte Wambach.
Dabei sei nachgewiesen, dass es von der militärschen Forschung bedeutende Spill-Over-Effekte für die Zivilwirtschaft gebe. In der Wirtschaftsgeschichte gebe es eine ganze Reihe an Technologien, die ursprünglich im Auftrag des Militärs entwickelt worden seien, von der später aber die zivile Wirtschaft erheblich profitiert habe – angefangen vom Raketen- und Düsenantrieb, dem Internet, Computerchips bis hin zu Nylonstrümpfen, ergänzte Schularick.
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Tatsächlich war das amerikanische Verteidigungsministerium einer der Geburtshelfer des Silicon Valley, als es nach dem Sputnik-Schock im Herbst 1957 zur Aufholjagd im Bereich der Hochtechnologie blies und große Summen für die militärische Forschung bereit stellte. Die damals von US-Präsident Dwight D. Eisenhower gegründete amerikanische Innovationsagentur Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) legte die Grundlagen für das Internet, die Satellitennavigation GPS und Drohnen. Auch in Israel gingen Hunderte von Start-ups aus militärischer Forschung hervor und bilden heute die Grundlage der dortigen Tech-Szene.
„Wir müssen in Europa viel stärker zusammenarbeiten“ mahnte Achim Wambach. Das sei die klare Botschaft, die von der Münchener Sicherheitskonferenz ausgehe, mit der sich die geopolitische Lage dramatisch verändert hat. Durch eine bessere Zusammenarbeit ließe sich in der Rüstungsbeschaffung viel Geld sparen: „Wir haben in Europa zwölf verschiedene Panzer-Technologien, die USA haben nur eine“. Durch Konzentration auf wenige Systeme können Größenvorteile genutzt werden. Die neue Bundesregierung brauche auf jeden Fall eine neue Vision für Europa, sagte Nicola Fuchs-Schündeln, die Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. In den vergangen Jahren hätten die Deutschen Europa gegenüber zu viel Desinteresse gezeigt, dadurch habe der Motor für Europa gefehlt.
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„Die EU ist gefordert, in der neuen Weltordnung ihre Rolle zu finden“, hieß es dazu in der jüngsten Ausgabe des „ifo Schnelldienstes“, der Zeitschrift des Münchener Instituts von Clemens Fuest. Er selbst schreibt in derselben Ausgabe, Deutschland müsse seine Waffenindustrie entwickeln. Das werde aber nur funktionieren, „wenn Rüstungsunternehmen mehr Exportmöglichkeiten erhalten, wenn Hochschulen bereit sind, sich in der militärischen Forschung zu engagieren, und wenn Regulierungen, die Investitionen in der Rüstungsindustrie bislang erschweren, angepasst werden.“ Mehr europäische Kooperation bei Rüstungsprojekten sei dringend geboten: „Nicht zuletzt ist die Rolle der nuklearen Abschreckung für Deutschland zu definieren“, schreibt Fuest: „Hier liegt der Vorteil darin, dass mit begrenzten Mitteln ein hoher Abschreckungseffekt erzielt werden kann.“
Uneins waren sich die Spitzenökonomen in der Frage, wie die höheren Rüstungsausgaben finanziert werden sollen. „Wir haben im Moment zu viele Herausforderungen gleichzeitig, die alle sehr viel Geld kosten“, skizzierte Reint Gropp, der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) das Grundproblem. Eigentlich hätten wir mit dem Bewältigen der Klimakrise und der Transformation der Energiewirtschaft schon genug Mammutaufgaben. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, plädierte für eine Reform der Schuldenbremse, damit der Staat auf solche Situationen wie derzeit angemessen reagieren könne. Kurzfristig könnten nur Sondervermögen für die Verteidigung und die Infrastruktur helfen. Auch Moritz Schularick betonte, dass die Schuldenbremse „kein Selbstzweck“ sei. Er plädierte dafür, dass Investitionsausgaben für die Verteidigung von der Schuldenbremse ausgenommen werden sollen.
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Clemens Fuest fürchtet indes, dass die Politik jetzt aufgrund der Dringlichkeit der geopolitischen Lage alle Schuldenregeln zur Seite schieben will und sich so davor drückt, Prioritäten zu setzen – ganz nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“. Es sei zwar richtig, dass es kurzfristig für neue Schulden einen Platz gebe, aber es müssten auch Staatsausgaben umgeschichtet werden. „Wir dürfen die Politik nicht aus der Verantwortung entlassen, Verteilungskonflikte auszustehen“. Die Botschaft, wir könnten uns höhere Rüstungsausgaben leisten, ohne dass an irgendeiner anderen Stelle gekürzt werden müsse, sei eine „üble Irreführung der Bevölkerung“.
Hinsichtlich der überbordenden Bürokratie mahnten die Ökonomen größeren Einsatz an. „Bisher bewegen wir uns auf diesem Feld mit viel zu kleinen Schritten voran“, sagte Nicola Fuchs-Schündeln, die Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: „Es reicht nicht, ein paar Aufbewahrungsfristen zu verkürzen“. Ein Großteil der Bürokratie in Deutschland sei durch Regelungen aus Brüssel induziert, sagte Achim Wambach. Womöglich liege das daran, dass die EU kaum eigenes Geld habe und stattdessen nur mit neuen Regelungen Politik machen könne. Fuchs-Schündeln warnte allerdings davor, die viele Bürokratie allein auf Brüssel zu schieben. Es sei zwar richtig, das viel aus Brüssel komme, die Deutschen hätten aber erheblich Mitschuld in der Art und Weise, weil wir hierzulande die Regeln immer noch ganz besonders strikt umsetzten.
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Wo könnte Bürokratie beschnitten werden? Die Berichtspflichten der Unternehmen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit seien „über das Ziel hinaus geschossen“, sagt Florian Heider, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE in Frankfurt. Er warnt aber davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Eine gute Regulierung der Banken sei wichtig für die Stabilität des Finanzsystems. Ob die Politik beim Bürokratieabbau die viel beschworene Kettensäge zur Hand nehmen müsse, um das Dickicht zu beseitigen? „Nein – der brachiale Weg passt nicht zu uns“, sagte Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen.