Retro-Republik: Deutsche und ihre Wirtschaftswunder-Sehnsucht

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Es lag während der zurückliegenden Wochen des Wahlkampfs eine seltsame Sehnsucht über dem Land, eine Sehnsucht nach dem Gestern. Das mag kaum erstaunen angesichts des Umstands, dass die Aussichten für die nähere Zukunft wenig erfreuen. Der russische Präsident führt noch immer Krieg in der Ukraine, sein amerikanischer Kollege kündigt das westliche Bündnis auf, auch in EU-Ländern steht die liberale Demokratie auf der Kippe. Derweil erscheinen die wirtschaftlichen Aussichten zumindest für Deutschland düster, die automobile Leitbranche steckt in der Krise, der Umstieg auf erneuerbare Energien stößt auf wachsenden Widerstand.

Interessanter ist schon, auf welche Epoche sich diese Suche nach einer besseren Zeit bezieht, über politische Lagergrenzen hinweg, wenn auch mit verschiedenen Schwerpunkten: auf die Zeit der alten Bundesrepublik und erstaunlicherweise auch der alten DDR, nicht so sehr kurz vor dem Epochenbruch von 1989/90, sondern sehr viel weiter zurück. Es herrscht eine gewisse Sehnsucht nach den fünfziger und sechziger Jahren, als das Wirtschaftswunder niemals endende Wohlstandsgewinne versprach und die Welt zugleich noch übersichtlich erschien.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Am offensichtlichsten sprechen die politischen Extreme dieses Sentiment an. Die AfD schmiegt sich im Osten der weitverbreiteten Ansicht an, in der DDR sei ja auch nicht alles schlecht gewesen, während Sahra Wagenknecht gleichsam seitenverkehrt in ihren Büchern ein Loblied auf die gezähmte Marktwirtschaft der frühen Bundesrepublik singt. Aber auch Union und SPD versuchen, die Sehnsucht nach übersichtlicheren Zeiten zumindest nicht zu stören. Und „Zuversicht“, der trotzige Slogan der Grünen, steht dazu nur scheinbar im Widerspruch: Auch er schließt gedanklich an Zeiten an, in denen es noch Hoffnung gab, und sei es auch in der Form des Protests.

Es handelt sich keineswegs bloß um ein deutsches Phänomen, im Gegenteil, andernorts ist es mindestens genauso ausgeprägt. Auch viele Franzosen denken mit wachsendem zeitlichem Abstand immer sehnsüchtiger an ihre „Trente Glorieuses“ zurück, an die drei Jahrzehnte nach dem Kriegsende von 1945, der dortigen Variante des Wirtschaftswunders.

Von der Massenmotorisierung träumt auch Italien

Die Italiener schwelgen gleichfalls in Erinnerungen an die Zeit, als sich mit dem Fiat Cinquecento ähnlich wie in Deutschland mit dem VW Käfer die Massenmotorisierung vollzog, auf der römischen Via Veneto die Filmstars Hof hielten und Maria Callas den Operngesang revolutionierte. Von den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen, wo Donald Trumps neuer Autoritarismus im Gewand des vermeintlich alten daherkommt. „Make America Great Again“, das heißt eben: wieder so ­„great“ wie damals in den Boomjahren der Nachkriegszeit.

Die wenigen Beispiele deuten es schon an: Obwohl es sich beim Wirtschaftswunder um ein grenzüberschreitendes Phänomen handelte, schreiben es die einzelnen Nationen jeweils eigenen Leistungen zu. Man kann ein deutsches Publikum immer wieder mit dem banalen Hinweis erstaunen, dass die heimischen Wachstumsraten zwischen 1950 und 1973 keineswegs exorbitant über jenen der anderen westeuropäischen Länder lagen. Im Schnitt wuchs die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik während dieser Zeit zwar um stolze 6,0 Prozent im Jahr. In Frankreich oder Italien waren es aber auch 5,4 Prozent, und das diktatorisch regierte Spanien kam sogar auf 6,2 Prozent.

Nur das Vereinigte Königreich blieb aufgrund der veralteten Industrie und dem schmerzhaften Verlust des Empire mit 2,8 Prozent weit zurück, ein Umstand, der auch die geringere Euphorie für den europäischen Einigungsprozess erklärt – zumal der Boom auf dem Festland gerade vorbei war, als sich die Briten 1973 endlich zum Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entschließen konnten.

Kargheit der Verhältnisse

Die Hoffnung, an den Nachkriegsboom wieder anschließen zu können, lebt mehr als fünfzig Jahre nach dessen Ende immer noch fort. Dabei zeigt schon ein Blick auf die langfristige Konjunkturentwicklung, dass der Ölpreisschock von 1973 allenfalls der äußere Anlass, aber wohl nicht der tiefere Grund für das Ende des rasanten Aufschwungs war. Die westlichen Volkswirtschaften hatten zu diesem Zeitpunkt schlichtweg ihren langfristigen Wachstumspfad wieder erreicht, die Verluste aus der Zeit der beiden Weltkriege und der dazwischenliegenden Wirtschaftskrise aufgeholt.

Das galt sogar für das weit entfernte Japan mit seinen ganz anderen Voraussetzungen. Eine jährliche Steigerung des Sozialprodukts von mehr als zwei Prozent nimmt hierzulande kein Politiker selbst in seinen kühnsten Hoffnungen noch an. Für ein Revival der nostalgisch verklärten Boomzeiten reicht das allerdings nicht aus.

Übersehen wird dabei gern die Kargheit der Verhältnisse, die in den fünfziger und sechziger Jahren herrschte. Noch 1962, als der Boom schon weit fortgeschritten war, verfügte erst jeder zweite westdeutsche Haushalt über einen Kühlschrank und jeder vierte über eine Waschmaschine. Einzig in den Vereinigten Staaten waren derlei Konsumgüter seinerzeit schon sehr viel weiter verbreitet.

Das Adidas-Design entsprang einem Geist der Kargheit

Der weit überwiegende Teil der Wohnungen wurde damals mit Kohleöfen beheizt, auf den Bahnstrecken fuhren überwiegend Dampfloks. Und die neuerdings so begehrten „Midcentury“-Möbel verfügen nicht deshalb über so wenig Stauraum, weil ihre Schöpfer schon einem modernen Minimalismus gefrönt hätten. Sondern weil die Haushalte damals gar nicht über mehr Habseligkeiten verfügten. Auch am Schuhwerk lässt sich das ablesen: Das minimalistische Design des Adidas Samba von 1949, das heute wieder so gefragt ist, entsprang ja gleichfalls einem Geist der Kargheit.

Bescheiden waren die Verhältnisse erst recht in der realsozialistischen Hemisphäre Europas. Anders als im Westen lag der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung nicht auf Produkten für den Massenkonsum. Im Ganzen war der Rückstand gegenüber den kapitalistischen Ländern allerdings noch nicht so ausgeprägt wie in den achtziger Jahren, als Vollkomfortwohnungen im Plattenbau und ein paar wenige Ferienplätze an der bulgarischen Schwarzmeerküste auch nicht mehr darüber hinwegtäuschen konnten, dass westdeutsche Industriearbeiter längst Eigenheime bauten und nach Mallorca flogen. Als eine gemütliche Welt ohne Konkurrenzdruck und ständigen Veränderungszwang mochte die Zeit im verklärenden Rückblick trotzdem erscheinen.

Aufstiegserwartungen und Verlustängste

Auch im Westen waren Teile des Wirtschaftslebens seinerzeit viel stärker reglementiert als heute. Erst seit 1958 konnte man die D-Mark frei in andere Währungen umtauschen, die Zwangsbewirtschaftung des kriegsbedingt knappen Wohnraums endete in manchen Städten sogar erst 1968. Bis 1977 waren verheiratete Frauen laut Gesetz für den Haushalt zuständig und durften nur erwerbstätig sein, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war.

Bei allen wirtschaftlichen Beschränkungen war der gemeinsame Aufschwung des kontinentalen Westeuropas allerdings nicht denkbar ohne eine zunehmende Verflechtung, eine neuerliche Welle der Globalisierung – oder, mit den Worten mancher Nostalgiker: ohne Entgrenzung und Kontrollverlust. Und der Systemgegensatz half, auch wenn er noch nicht so eingehegt war wie später in den siebziger und achtziger Jahren. Koreakrieg, Mauerbau, Kubakrise: Die Kriegsgefahren waren zwar real, so gemütlich wie im Rückblick erschienen den Zeitgenossen die Verhältnisse nicht.

Der Wirtschaftswunder-Impuls ging von Amerika aus

Aber der Systemwettbewerb verstärkte das Interesse der Vereinigten Staaten an einem ökonomischen Aufschwung in Westeuropa, und der vom Koreakrieg ausgelöste Rüstungsboom lieferte den entscheidenden Impuls fürs Wirtschaftswunder. In der Bundesrepublik erreichten die Rüstungsausgaben im Jahr 1963 mit 5,2 Prozent der Wirtschaftsleistung ihren historischen Höhepunkt. Aber die Verhältnisse waren immerhin klar: Die Vereinigten Staaten standen fest an der Seite des westdeutschen Staates, und selbst noch die Protestbewegungen der sechziger Jahre, die sich gegen die Politik aus Washington richteten, nahmen Maß an Vorbildern jenseits des Atlantiks.

Was die wirtschaftlichen Verhältnisse betrifft, geht es in der verklärenden Erinnerung nicht nur um ein objektives Wohlstandsniveau, sondern um Erwartungen und Entwicklungen. Das Lebensgefühl der Zeit war seit Mitte der fünfziger Jahre von der Annahme geprägt, es könne immer nur aufwärts gehen – anders als in der Gegenwart mit ihren verbreiteten Verlustängsten. Rechtspopulistische Bewegungen feierten ihre frühen Erfolge nicht in abgehängten, sondern in den reichsten Regionen des Kontinents. Die italienische Lega Nord etwa schaffte ihren Durchbruch 1990 in der überaus wohlhabenden Lombardei. In Österreich kaperte Jörg Haider 1986 die Freiheitliche Partei, in der Schweiz explodierten seit den neunziger Jahren die Stimmenanteile der Volkspartei.

Vor Kohls Grenzöffnung

Immer ging es dabei auch um eine Vorstellung, die Donald Trump in den Vereinigten Staaten derzeit auf die Spitze treibt: um die Idee, von anderen ausgenutzt und ausgebeutet zu werden. Im Falle der Lega von arbeitsscheuen Mafiosi im Süden des künstlich zusammengezimmerten italienischen Einheitsstaats, in anderen Fällen von Asylbewerbern oder von einer vermeintlich abgehobenen europäischen Bürokratie in Brüssel. Unterstellt wird dabei, das sei in den glücklichen Boomjahren nach dem Krieg anders gewesen. Dass höhere Steuerlasten und Staatsquoten, auch bürokratische Hindernisse und Schwerfälligkeiten vor allem eigener Anspruchshaltung zuzuschreiben waren, vom weitverbreiteten vorgezogenen Ruhestand bis zum Wunsch nach einer Umgehungsstraße für jedes Dorf: Das geriet dabei gelegentlich aus dem Blick.

Vergessen wurde rasch auch der Umstand, dass die populäre Ausweitung der Rentenansprüche durch Konrad Adenauer im Jahr 1957 aus damaliger Perspektive auch deshalb als finanzierbar erschien, weil die bescheidene Lebenserwartung das durchschnittliche Renteneintrittsalter nicht so stark übertraf wie heute. Auch hier gilt allerdings: Damals stieg die Zahl der zu erwartenden Lebensjahre wenigstens noch an, während sie inzwischen in Europa stagniert.

Aber es geht im nostalgischen Rückblick nicht nur um Materielles im engeren Sinne, sondern beispielsweise auch um die Vorstellung, dass man sich noch in einem geschützten Raum des Nationalstaats befunden habe, bevor sich Helmut Kohl mit der Schengen-Grenzöffnung seinen Jugendtraum vom Ende der Schlagbäume in Europa verwirklichte. Tatsächlich kamen die Migrationsbewegungen während der fünfziger Jahre für einen kurzen historischen Augenblick so sehr zum Stillstand wie zu kaum einer anderen Zeit der Geschichte. Bei Lichte besehen war der Abstand zwischen dem Abschluss der kriegsbedingten Vertreibungen 1946 und dem ersten Anwerbe-Abkommen mit Italien im Jahr 1955 einigermaßen kurz. Allerdings dauerte es noch bis 1964, bis die Zahl der sogenannten Gastarbeiter die erste Million erreicht hatte.

Die „gewöhnlichen Leute“ stellten die Mehrheit

Hinzu kommt die Vorstellung, das Leben sei damals weniger kompliziert gewesen als heute. Zwar kostete ein Telefongespräch zwischen München und Frankfurt nach heutigen Maßstäben ein Vermögen, aber man musste sich in Zeiten der Bundespost immerhin nicht mit den komplizierten Tarifmodellen unterschiedlicher Anbieter herumschlagen – und nicht mit dem schlechten Gewissen leben, niemals die optimale Wahl getroffen zu haben. Und die knifflige Frage, ob man bei Ryanair lieber Aufgabegepäck buchen, einen Wunschsitzplatz wählen oder eine Rücktrittsversicherung abschließen solle, stellte sich überhaupt nicht. Gewöhnliche Leute konnten sich Flugreisen ohnehin nicht leisten.

Dafür stellten diese sogenannten „gewöhnlichen Leute“ damals noch die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, anders als in späteren Zeiten der Bildungsexpansion. Niemand musste sich dafür rechtfertigen, dass er nicht Abitur gemacht oder studiert hatte. Gesellschaftlich anerkannte, einigermaßen sichere und leidlich gut bezahlte Jobs gab es trotzdem. Gerade von diesem Phantomschmerz leben heute rechte und linke Protestbewegungen, obwohl sich solche Jobs in Deutschland viel länger gehalten haben als andernorts.

Aber auch manchen Linken gelten die fünfziger Jahre im Rückblick als Sehnsuchtsort. „Faktisch verdienten amerikanische Männer mit Highschool-, aber ohne Universitätsabschluss Ende der fünfziger Jahre inflationsbereinigt in etwa so viel wie Arbeiter mit ähnlichen Qualifikationen heute“, betonte etwa der US-Ökonom Paul Krugman schon 2008. „Und ihr relativer Status war natürlich viel höher.“ Mit einer gewissen Bewunderung registrierte Krugman auch, dass der Spitzensatz der Einkommensteuer in den Vereinigten Staaten Mitte der fünfziger Jahre auf 91 Prozent angehoben wurde, um die Rüstungsausgaben im Kalten Krieg zu finanzieren.

Sehnsucht nach besseren Zeiten

Wer den Abstand zwischen dem Ungenügen an der Gegenwart und der Sehnsucht nach früheren Zeiten ausmessen will, der braucht nur die beiden Eröffnungsfilme der diesjährigen Berliner Filmfestspiele gegeneinanderzuhalten. Da war einerseits Tom Tykwers „Das Licht“, eine dystopische Parabel des heutigen Großstadtlebens zwischen Bullshit-Jobs, spielsüchtigem oder substanzmissbrauchendem Nachwuchs und namenlosem Dienstleistungspersonal, die zwischendurch zwar eine hoffnungsvolle Wendung nimmt, was aber an der gefühlten Überforderung nichts ändert.

Und da war andererseits Timothée Chalamets Reanimation des jugendlichen Bob Dylan in „A Complete Unknown“, der in seiner politischen Phase während der frühen sechziger Jahre für die andere, die rebellische Seite der Boomjahre stand. „The times they are a changin’“, heißt es bei Dylan, die Zeiten, sie ändern sich. Was heute als Bedrohung erscheint, galt 1964 als Verheißung.

So übergreift die Sehnsucht nach einem angeblich besseren Gestern alle politischen Lager. Die einen träumen von einer Welt ohne Migration und Cannabis-Legalisierung und können in dieser Hinsicht selbst der Repression in der DDR etwas Positives abgewinnen. Für die anderen sind zumindest die sechziger Jahre die Zeit, als der Fortschritt noch eine klare Richtung hatte.

Allerdings scheint die Idee eines besseren Gestern durchaus eine Konstante in der Menschheitsgeschichte zu sein. Selbst die übelsten Verhältnisse eignen sich zur rückblickenden Verklärung. Noch im Jahr 1962 gaben in einer Erhebung immerhin 20 Prozent der befragten Westdeutschen an, ihnen sei es im Jahr 1938 besser gegangen als jetzt. Im Vergleich dazu wirkt der nostalgische Blick auf die Jahre des Wirtschaftswunders noch einigermaßen harmlos.