Am späten Sonntagabend stehen viele im Genscher-Haus in Berlin unter Schock. Das hindert sie nicht, Bier zu trinken und zu scherzen. Aber wenn man mehr als zwei Sätze spricht, wird es ernst: Es endet nicht nur eine Ära – eigentlich enden zwei. Erstens: die FDP im Bundestag. Und zweitens: Christian Lindner an der Spitze der Partei. Beides scheint am Sonntagabend um kurz vor elf ziemlich sicher. Lindner hatte am Abend im Fernsehen und auf der Plattform X klargestellt: Seine politische Karriere endet nun. Auch FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki kündigte am Abend im „Flensburger Tageblatt“ an, für ihn sei „politisch Schluss“, wenn seine Partei nicht abermals in den Bundestag einziehe.
Beides – das Ausscheiden der FDP aus dem Parlament und das Ende der Ära Lindner – hat Folgen, die jetzt noch schwer absehbar sind. Dass die FDP wohl nicht im Bundestag dabei sein wird, kostet viele Abgeordnete und Mitarbeiter den Job. Melancholisch lassen manche Revue passieren, wie schön die Jahre waren. Big Macs nachts auf der Autobahn, lange Abende bei Wein im Büro, aufgeregte Anrufe frühmorgens, das ganz normale Abgeordnetenleben eben. Mit der FDP geht es trotzdem weiter, irgendwie, sind die Liberalen überzeugt. Optimismus gehört zu ihrer DNA.
Was kommt nach der Ära Lindner?
Aber Lindners Ankündigung steckt vielen in den Knochen. Was kommt nach ihm? Diese Frage schoben er und andere in den vergangenen Jahren immer nach hinten. Es war ja noch nicht so weit – jetzt aber schon. Einer mutmaßt, es müsse Lindner jemand nachfolgen, der ein Mandat habe, also in einem Landtag oder dem EU-Parlament sitze, allein schon, weil es sonst finanziell gar nicht machbar sei. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, oder wer sonst? Die polarisiert allerdings in der Partei. Außerdem sagt sie am Sonntagabend, sie sei da glücklich, wo sie sei – in Brüssel.
Leute, die näher an Lindner dran sind, nennen einen anderen Wunschkandidaten: den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Christian Dürr. Er ist ein Vertrauter Lindners, steht also nicht unbedingt für eine Neuausrichtung. Zugleich ist er einer der auffälligsten Politiker der Liberalen, ein guter Redner im Bundestag, bei vielen beliebt, smart. Er könne auch beide Flügel der Partei integrieren, sagen seine Anhänger. Andere fürchten, jetzt könnte, Dürr hin oder her, ein allgemeines Zerfleischen beginnen, und zwar über die Frage: An wem lag es? Waren es Lindner und seine Leute, die die Sache verbockt haben? Oder wurden die viel mehr sabotiert von Progressiveren wie dem Vize-Parteichef Johannes Vogel, die bei Merz‘ Migrationsabstimmung im Bundestag Lindners Kurs nicht mitfuhren?
Am Montag tagt das Präsidium
Mit Spannung wird das Ergebnis der Präsidiumssitzung am Montag erwartet. Da könnten Weichen gestellt werden, Leute ihren Namen ins Spiel bringen oder aus dem Spiel nehmen. Viele sind auch gespannt darauf, wie Lindner den Prozess moderiert, ob er jemanden als Wunschnachfolger unterstützt. Doch auch er dürfte im Ausnahmezustand sein. Bis zuletzt hatte er gehofft, die Partei noch über die Fünfprozenthürde hieven zu können.
Noch am Samstag hatte Lindner um jede Stimme gekämpft. Nach seinem Wahlkampf-Marathon der vergangenen Wochen – achtzig Veranstaltungen – absolvierte er am Samstagnachmittag einen „Social-Media-Marathon“. Der Parteivorsitzende saß im Wollpulli im heimischen Sessel und sendete live auf der Plattform X, dann auf Facebook, dann auf Tiktok und schließlich auf Instagram. Die Strapazen der vergangenen Wochen waren ihm anzumerken, vor allem das viele und laute Reden in Winterluft – Lindner krächzte mehr, als dass er sprach. Doch was er krächzte, war: Zweitstimme FDP.
Er gab sich zuversichtlich. So wie auch FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki, der sich auf X zuschaltete. Wenn jeder, der ihm versprochen habe, FDP zu wählen, es auch tue, „sind wir bei zehn Prozent“. Dass es anders kommen würde, war wohl beiden Politikern klar. Darum malten sie den Teufel an die Wand – FDP bleibt unter fünf Prozent -, um dann zu beschwören, dass es ja nicht so kommen müsse.
Lindner hatte im Wahlkampf zunächst für Schwarz-gelb geworden, und dann, als das zunehmend unrealistisch erschien, für eine Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP. So tat er es auch am Samstag nochmals. Ein Kenia-Bündnis – Union, SPD und Grüne – sei „noch schlimmer als die Ampel“, warnte er. Und zwar, „weil die FDP nicht dabei ist“. Viele Nutzer sendeten zustimmende Kommentare; allerdings waren auch FDP-Abgeordnete darunter, die sich wohl zugeschaltet hatten, um ihren Chef anzufeuern. „Bester Politiker des Landes“, lobte der frühere FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai und schickte drei rote Herzen. Der Parlamentarier Jens Teutrine sendete eine Reihe von Freiheitsstatue-Emojis.
Nach dem Bruch der Ampel gab man sich optimistisch
Dass der Wahlabend so zittrig würde, hatten die Liberalen im November für abwegig gehalten. Nach dem Bruch der Regierung, auf den sie sich – Stichwort D-Day-Papier – genau vorbereitet hatten, strebten sie ein zweistelliges Ergebnis an. Lindner nannte damals die Zielmarke von „mehr als“ zehn Prozent. Doch Woche um Woche blieb die FDP in den Umfragen stabil – unter fünf Prozent. Erst zuletzt, zwei Wochen vor der Wahl, stand in manchen Umfragen die Fünf vor dem Komma. Das motivierte manche Wahlkämpfer; es sah aus, als könnte die Sache knapp gutgehen.
Wenn man frühere FDP-Wähler, die bekannten, diesmal anders zu wählen, fragte, warum, kamen die verschiedensten Antworten: Enttäuschung über die Umstände des Ausscheidens aus Regierung, Missmut darüber, dass die FDP überhaupt so lange darin geblieben war. Wer zur Union neigte, argumentierte, er wolle den Kanzler stärken, wen es zur AfD zog, der wies etwa darauf hin, dass die FDP mit SPD und Grünen das Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg gebracht habe. Lindner gelang es nicht, genügend von ihnen umzustimmen.
Darüber wird die Partei in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten noch weiter diskutieren. Am Sonntagabend sind manche in der Berliner Parteizentrale schon dabei, auch um elf noch, immer noch bei Wein. Und Lindner? Kubicki hatte am Vortag berichtet, er sei mit Lindner für Mitternacht nach der Wahl in einer Bar verabredet. Andere berichten am Sonntag, der Plan laute nun anders: Lindner wolle nach Hause fahren.