So gelingt die Aufrüstung

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Vielleicht vollzog sich die wahre Zeitenwende erst in der vergangenen Woche, als sich der Präsident der Vereinigten Staaten an die Seite des Kriegstreibers Wladimir Putin stellte und die bislang befreundete Ukraine öffentlich beschimpfte. Vor drei Jahren, als der deutsche Bundeskanzler das Wort erstmals gebrauchte, waren die Verhältnisse noch vergleichsweise komfortabel, gegen die russische Bedrohung hatten die Europäer die westliche Supermacht an ihrer Seite. Jetzt stehen sie ganz alleine.

Alles, was sie 2022 schon auf den Weg bringen wollten, muss jetzt noch einmal schneller und auch sehr viel weiter gehen. Bisher hieß es in Militärkreisen, im Jahr 2029 könne Putins Armee so weit sein, dass sie NATO-Gebiet angreifen könne. Aber gilt das noch, wenn Trump auch nur einen Teil der 90.000 amerikanischen Soldaten zurückzieht, die derzeit in Europa stationiert sind – insbesondere jene 20.0000 Soldaten, die der ausgeschiedene Präsident Joe Biden nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in andere Länder geschickt hatte, nämlich ins Baltikum sowie nach Polen und Rumänien?

Ob auf Amerika im Bündnisfall noch Verlass ist, weiß heute niemand zu sagen. Europa muss damit rechnen, auf sich allein gestellt zu sein. Und die Zeit schwindet dahin, sich auf dieses Szenario vorzubereiten. Klar ist: Wer in einigen Jahren schlagkräftige Streitkräfte haben will, muss jetzt die Weichen dafür stellen, hätte es eigentlich schon vor Jahren tun müssen.

Es stellt sich die Frage nach Produktionskapazitäten in der Rüstungsindustrie, die nach dem Ende des Kalten Krieges überall zurückgefahren wurden, und es stellt sich die Frage nach dem Geld, mit dem all das bezahlt werden soll. Schließlich haben viele europäische Länder schon jetzt mit Haushaltslücken zu kämpfen.

Die Bestände an militärischem Gerät sind in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken (siehe Grafik). Die Zahl der Panzer in den Beständen der Bundeswehr ist von 2398 auf 339 zurückgegangen, so rechnet es das Kieler Institut für Weltwirtschaft vor. Geht es mit der Wiederbeschaffung im bisherigen Tempo voran, dauert es Jahrzehnte, um nur die Bestände von 2004 wieder zu erreichen – bei den Haubitzen sogar ein volles Jahrhundert, wie die Forscher überschlagen.

Das alles kostet Geld, viel Geld. Die 100 Milliarden Euro an Sonderkrediten, die der Bundestag vor drei Jahren für die Aufrüstung bewilligt hat, sind 2027 aufgebraucht. Von 2028 an fehlen jedes Jahr mindestens 30 Milliarden Euro im Haushalt, wenn auch nur zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Armee fließen sollen, was in der neuen Lage schon wieder als zu wenig gilt.

Und die Wahlprogramme der Parteien bringen unter dem Strich keine neuen Einnahmen, sondern neue Haushaltslücken. „Für mich war übrigens interessant, dass ein Sondervermögen für die Verteidigungsfähigkeit in der Bevölkerung hohe Akzeptanz hat“, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann jüngst im F.A.S.-Interview. Auch wenn er es auf Nachfrage verneinte: Als dezente Andeutung, dass man für die Rüstung auch künftig auf Kredite zurückgreifen könnte, durfte man das getrost verstehen.

Aber mit dem Geld allein ist es nicht getan. Das Gerät, die Munition, das alles muss irgendwo auch produziert werden.

Immerhin hat die Europäische Union jetzt erstmals einen Verteidigungskommissar benannt, Andrius Kubilius. Der frühere litauische Premier soll eine Art Masterplan erarbeiten, der Europa und seine Mitgliedstaaten „auf die extremsten militärischen Eventualitäten“ vorbereitet, wie es heißt, und den hierfür nötigen Investitionsbedarf beziffern. Im März will er seine Ergebnisse präsentieren.

Für eine glaubwürdige europäische Abschreckung, beispielsweise um einen schnellen russischen Durchbruch im Baltikum zu verhindern, braucht Europa 300.000 Soldaten zusätzlich zur bestehenden Nato-Planung, mit Schwerpunkt auf mechanisierten und gepanzerten Einheiten, heißt es in einer Analyse des renommierten Brüssler Thinktanks Bruegel. Das heißt konkret, was das Material betrifft: mindestens 1400 zusätzliche Panzer, 2000 Schützenpanzern und 700 Artilleriesystemen, so die Autoren.

Deutschland ist in Westeuropa eines der wichtigsten Länder für Munitionsproduktion, hat außerdem wichtige Kompetenzen im Schiffbau, Panzerbau oder Radarsystemen. Insofern dürfte die Bundesrepublik in den Plänen des neuen Verteidigungskommissars eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend wird sein, die Produktion in diesen Schlüsselbereichen weit schneller als bislang hochzufahren.

Lange Wartezeiten bei Bestellungen

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft rechnet vor, dass die geschätzten Lieferzeiten zwischen zwei und fünf Jahren liegen. Für die andere Hälfte der Bestellungen ist allerdings gar kein Lieferdatum angegeben. Offenbar tun sich die Unternehmen schwer, den Armeen feste Lieferzusagen zu machen. „Dieser Trend deutet darauf hin, dass Produktionsengpässe zu einem größeren Problem geworden sein könnten“, heißt es in der Studie.

In der Tat sind die Kapazitäten der Industrie seit Ende des Kalten Krieges immer weiter zurückgefahren worden. Das liegt auch daran, dass Deutschland immer noch strenge Exportbestimmungen für Rüstungsgüter hat. In manchem europäischen Nachbarland ist man großzügiger, den dortigen Herstellern fallen dann Kooperationen mit deutschen Herstellern schwer. Weitere Reformen könnten mehr Exporte und damit einen zügigeren Aufbau der Kapazitäten fördern – die man dann auf mittlere Sicht für die eigene Beschaffung nutzen könnte.

„Verglichen mit unseren Möglichkeiten sind wir oftmals noch immer in Kleinserien unterwegs, quasi im Manufaktur-Modus“, sagt Hans-Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Sobald langfristige Perspektiven mit hohen Bestellaussichten vorhanden seien, würden die Unternehmen ihre Produktionskapazitäten schnell ausweiten. „Der Fortschritt hängt davon ab, dass die ins Amt kommende Regierung endlich die Weichen für den weiteren Aufwuchs des Verteidigungsetats richtig stellt.“

Kapazitäten der Autoindustrie nutzen

Auch viele Ökonomen meinen: Die Nachfrage wird das Angebot schaffen. Dem Aufbau einer europäischen Rüstungswirtschaft steht der Abbau in verwandten Branchen gegenüber, allen voran in der Stahl- und Automobilbranche. Anders als noch vor zehn Jahren sind industrielle und personelle Ressourcen deshalb vorhanden.

„Für die Rüstungsindustrie ist die wirtschaftliche Flaute Gold wert“, sagt Carlo Masala, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. „Da werden viele Fachkräfte freigesetzt.“ Viele Autokonzerne und ihre Zulieferer sind schon jetzt mit der Rüstungsindustrie verbandelt: Daimler Truck produziert Militärfahrzeuge, der Zulieferer ZF in Friedrichshafen liefert Getriebe für diese Trucks, andere Autozulieferer stellen auch Bauteile für Panzer her. Berufe wie Industriemechaniker, Metallbauer, Mechatroniker oder Schweißer sind in beiden Industriebranchen wichtig.

Das erinnert an die Konversion der 1990er Jahre, als Ressourcen der Rüstungsindustrie für zivile Zwecke umgewidmet wurden. Nur dass es diesmal umgekehrt läuft. Heute könnten Betriebe und Fachkräfte, die dem Strukturwandel der Industrie zum Opfer fallen, bei der Produktion von Panzern, Artilleriemunition oder Haubitzen helfen. So sollen bald ehemalige Mitarbeiter von Continental, deren Jobs am niedersächsischen Standort in Gifhorn wegfallen, bei Rheinmetall im nahegelegenen Unterlüß anheuern.

Versorgung mit Rohstoffen sichern

Gerade diese Beispiele zeigen, dass selbst in Deutschland die Dinge auch schnell gehen können, wenn der politische Wille vorhanden ist. Die neue Munitionsfabrik in Unterlüß soll demnächst ihre Produktion aufnehmen, nach einer Bauzeit von nur einem Jahr. Und im sächsischen Görlitz wurde vor wenigen Wochen im Beisein des Bundeskanzlers ein Vertrag unterzeichnet, der den Umbau der bisherigen Waggonfabrik in ein Werk für Panzerteile vorsieht.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Zum Nadelöhr könnte allerdings die Versorgung mit Rohstoffen werden. Deutschland ist nicht das einzige Land, das kriegstüchtig werden will, Europa nicht der einzige Kontinent, der aufrüsten will. Auf Panzerstahl, der vielfach aus Südkorea importiert wird, warteten Hersteller bis zu 18 Monate, sagt Experte Masala. In Europa gibt es bislang nur einen größeren Hersteller, den schwedischen Konzern SSAB.

Auch andere Komponenten sind auf den Weltmärkten rar: Treibladungen, Nitrocellulose, Salpetersäure. Die Vereinigten Staaten wollen von 2027 an wieder selbst den Sprengstoff TNT herstellen, nachdem sie die Produktion 1986 aufgegeben hatten. Zur Begründung heißt es, man wolle die Kontrolle über die Lieferkette behalten. Auch Europa muss sich die Frage stellen, welche kritischen Rohstoffe es selbst herstellen sollte. Immerhin: Die Dillinger Hütte im Saarland hat 2021 eine Zertifizierung zur Herstellung von Panzerstahl erhalten, wenngleich das Hochfahren der Produktion noch dauert.

Nukleare Abschreckung

„Europa besitzt die industrielle und technologische Basis für die eigene Verteidigung“, konstatiert Christian Mölling, der das Programm „Europas Zukunft“ bei der Bertelsmann-Stiftung leitet. Entscheidend sei, bestimmte Fähigkeitslücken zu schließen, etwa bei der Flugabwehr und oder bei Marschflugkörpern, die Ziele in großer Entfernung treffen können.

Komplizierter wird es allerdings beim Thema nukleare Abschreckung. Hier ist die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten unbestritten. Zwar verfügen auch Frankreich und England über atomare Sprengköpfe. Sie haben allerdings strategischen Charakter, können Ziele in weiter Entfernung mit großer Zerstörungskraft treffen. Taktische Nuklearwaffen hingegen gebe es im Arsenal kaum, betont Masala. „Sie braucht man jedoch, um den Feind tatsächlich an der Frontlinie zurückzudrängen.“ Eine eigene europäische Nuklearmacht aufzubauen, werde viele Jahre dauern: „Das ist kein quick fix.“ Von allen großen Verteidigungsaufgaben dürfte die nukleare Abschreckung auch in politischer Hinsicht die komplexeste Herausforderung sein.

Nicht nur bei den Nuklearwaffen stellt sich allerdings die Frage, wer im vielstimmigen Chor der Europäer die Beschaffung und den Einsatz koordiniert. „Bevor Europa Waffen kauft, muss es etwas ersetzen, das schwieriger zu kompensieren ist: die politische und militärische Führung der USA“, sagt Experte Mölling. „Ohne die Fähigkeit und Autorität zur Führung sind selbst mehr Waffen nutzlos: Wer entscheidet, welche gekauft werden? Auf Grundlage welcher Verteidigungspläne? Und wer autorisiert ihren Einsatz?“

All das könnte funktionieren, solange ein akutes Krisengefühl vorhanden ist, der Schock über Trumps Russland-Wende noch frisch erscheint. Aber was passiert, wenn das Thema mit einem Waffenstillstand in der Ukraine fürs Erste auf der Prioritätenliste nach unten rutscht?

Das mag dieser Tage schwer vorstellbar erscheinen, doch jede Krise kennt ihre Konjunktur. Das gibt es auch bei anderen Themen: Vor knapp fünf Jahren, mitten im Corona-Lockdown, wollte sich die Politik für die nächste Pandemie besser wappnen. Auch dieses Thema geriet wieder in Vergessenheit.