Nach der Bundestagswahl wird im Berliner Regierungsviertel über ein Manöver diskutiert, das es in sich hat. Soll der alte Bundestag schnell noch ein neues Sondervermögen für die Verteidigung beschließen, weil die Parteien der Mitte im neu gewählten Bundestag keine Zweidrittelmehrheit mehr haben? Dass die Grünen sich dafür erwärmen könnten – wenn es auch für die Infrastruktur und Soziales mehr Geld gäbe –, ist bekannt. Aber dass sich auch CDU-Chef Friedrich Merz am Tag nach der Wahl offen dafür zeigte, mit SPD, Grünen und FDP noch eine Grundgesetzänderung auszuloten, hat manchen überrascht. Die Debatte nahm am Dienstag Fahrt auf.
Plötzlich scheint vieles möglich. Das Nachladen des bestehenden Sondervermögens für die Bundeswehr, eventuell begleitet von einem weiteren Sonderkredittopf für die Infrastruktur. Oder auch eine Ausnahme in der Schuldenbremse für die Verteidigungsausgaben. Hintergrund ist die Zusammensetzung des neuen Parlaments: AfD und Linkspartei werden darin so stark vertreten sein, dass die Parteien der Mitte keine Zweidrittelmehrheit mehr für eine Änderung des Grundgesetzes haben. Spätestens 30 Tage nach der Wahl muss der neue Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten. Das Zeitfenster für eine Änderung der Verfassung schließt sich am 24. März.
Es geht um hohe Summen. Das im Jahr 2022 nach dem russischen Überfall auf die Ukraine beschlossene erste Sondervermögen für die Bundeswehr hat ein Volumen von 100 Milliarden Euro und läuft 2027 aus. „Wenn ein neues Sondervermögen, dann sicherlich parallel zu dem alten, weil das viel zu klein ist“, sagt Moritz Schularick, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. „Von der Größenordnung reden wir dann über 300 bis 400 Milliarden Euro. Wir müssen in den nächsten Jahren in der Lage sein, bis zu 150 Milliarden im Jahr für die Verteidigung auszugeben“, sagt er. Zum Vergleich: Derzeit sind dafür im regulären Haushalt etwas mehr als 50 Milliarden Euro eingeplant, von 2028 an sollten es nach früheren Planungen 80 Milliarden Euro werden. Schularick hielte eine Ausnahme der Verteidigungsinvestitionen von der Schuldenbremse für besser als ein neues Sondervermögen. In jedem Fall dürfe man sich nicht von extremen Parteien abhängig machen. „Abschreckung funktioniert eben durch Handlungsfähigkeit.“ Die genannten Größenordnungen seien notwendig, damit Europa weiter in Frieden und Wohlstand leben könne.
Rein politische Frage
Ein neues Sondervermögen mit alter Bundestagsmehrheit – was für viele Beobachter fragwürdig klingt, sehen Juristen gelassen. „Der Bundestag ist bis zu seiner letzten Sitzung voll handlungsfähig, kann also auch nach der Bundestagswahl noch Gesetze beschließen. Dies umfasst Verfassungsänderungen“, sagt der Heidelberger Staatsrechtler Hanno Kube. Rein rechtlich seien die Einrichtung eines Sondervermögens und selbst eine Reform der Schuldenbremse also noch möglich. Für Kube ist das eine rein politische Frage. Zu bedenken gibt er nur, ob in so kurzer Frist sachgerechte Regelungen erlassen werden können. Dies gelte vor allem für eine Reform der Schuldenbremse, die anspruchsvoll sei. „Aber auch ein neues Sondervermögen müsste klug ausgestaltet werden, um eine effiziente Mittelverwendung zu gewährleisten.“
Der Vorstoß von Merz hat nicht nur politische Beobachter überrascht, sondern auch seine eigene Fraktion. Dort wurde zwar schon länger die Möglichkeit durchgespielt, neue Sondervermögen zu schaffen, ohne die Schuldenbremse formal infrage zu stellen. Aber man wollte diesen Weg eigentlich „ausgeruht“ gemeinsam mit einer Zweidrittelmehrheit im neuen Bundestag einschlagen. Dass diese Lösung nun verbaut ist, „hatten wir nicht auf dem Schirm“, hieß es am Dienstag selbstkritisch aus Unionskreisen. Die Äußerungen von Thorsten Frei, dem parlamentarischen Geschäftsführer, schufen nur bedingt Klarheit. Er zeigte sich skeptisch gegenüber einer Reform der Schuldenbremse, sagte aber auch, „dass angesichts der hochdynamischen außenpolitischen Veränderungen, der möglicherweise weiter steigenden Bedrohungslage unseres Landes sehr schnell Entscheidungen ganz spezifisch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik notwendig“ werden könnten.
Erstaunt sind auch führende Grüne – über die Union. „Die CDU wirkt aktuell enorm unsortiert“, sagt die Ko-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge. „Die Union hätte in den letzten Jahren die Chance gehabt, die Schuldenbremse mit Grünen und SPD zu reformieren. Friedrich Merz hat das aus taktischen Gründen immer wieder abgelehnt – trotz aller Warnungen.“ Die Grünen fordern schon seit Langem eine Reform der Schuldenbremse, aber nicht nur für höhere Verteidigungsausgaben. „Wir brauchen eine Reform der Schuldenbremse, die mehr ist als die Investitionen für Friedenssicherung“, sagt Felix Banaszak, Ko-Vorsitzender der Partei. „Es geht auch um Investitionen in die marode Infrastruktur und in den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.“ Konkret nennt er „gute Kitas und Schulen“ sowie einen „vernünftigen und gerechten Klimaschutz“. Das erinnert an den „Deutschlandsfonds“ für verschiedenste staatliche Investitionen, der im Wahlprogramm der Grünen stand.
Weiteres Sondervermögen für Infrastruktur?
Für die Haushaltspolitiker der Union ist klar, dass die Unterstützung der Ukraine und die wachsenden Verteidigungsausgaben in der aktuellen Wirtschaftsschwäche nicht aus dem regulären Haushalt bestritten werden können, erst recht nicht, wenn die USA ihre schützende Hand aus Europa zurückziehen. Die Lage sei „echt dramatisch“, war am Dienstag zu hören. Zu vermeiden sei aber, dem Ansinnen von SPD und Grünen nachzugeben, die Schuldenbremse an sich aufzuweichen, denn dann würden „willkürlichen Ausgaben“ Tür und Tor geöffnet.
Um SPD und Grüne dennoch zu gewinnen, gilt es als denkbar, dass die Union ihnen ein weiteres Sondervermögen für die Infrastruktur anbietet. Jeder der beiden Töpfe könnte dann mit 100 Milliarden Euro ausgestattet sein, heißt es. In der Union hält man es für verfassungsrechtlich zulässig, von der politischen Kultur her allerdings für unglücklich, den abgewählten Bundestag für derlei weitreichende Entscheidungen zu nutzen. Ähnliche Vorbehalte gibt es in der FDP-Fraktion.
„Viel zu eng gedacht“
Der Grünenpolitiker Danyal Bayaz, Finanzminister in Baden-Württemberg, hob hervor, dass spätestens nach der Rede des amerikanischen Vizepräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar klar gewesen sei, besser heute als morgen fiskalische Spielräume zu schaffen. „Dass einem diese Idee keine 24 Stunden nach der Wahl kommt, zeugt nicht gerade von strategischer Weitsicht“, sagt Bayaz mit Blick auf die CDU. Europa müsse seine Verteidigung selbst in die Hand nehmen, eine neue Bundesregierung diesen Prozess führen. „Das geht aber nur, wenn wir dauerhaft um die drei Prozent unserer Wirtschaftsleistung in unsere Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur investieren. 100 Milliarden werden dabei nicht reichen, wir sprechen da eher von dem Zwei- oder Dreifachen, abhängig davon, über welchen Zeitraum wir reden und wie sich unsere europäischen Partner aufstellen.“ Angesichts der Lage müsse man jetzt auch „unkonventionelle Wege“ gehen.
Sein Parteifreund Sebastian Schäfer spricht ebenfalls von „Hunderten von Milliarden Euro“, die nötig seien. „Wieder nur ein Sondervermögen für die Bundeswehr aufzulegen, ist viel zu eng gedacht. Sicherheit bedeutet mehr als Panzer, wir werden schon jetzt hybrid angegriffen und müssen uns auch dagegen verteidigen.“ Schäfers Vorschlag lautet, „Verteidigungsausgaben generell bei der Berechnung der Schuldenbremse nicht zu berücksichtigen“.
Auch Haushaltsnotlage denkbar
Von einem solchen Weg dürfte die Union jedoch schwerlich zu überzeugen sein. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Henrik Wüst (CDU) bekräftigte gegenüber der „Rheinischen Post“ die Position, die auch Parteichef Merz vor der Wahl vertreten hatte: „Die neue Bundesregierung muss erst mal Prioritäten setzen und den Haushalt auf Einsparpotentiale durchforsten.“ Dann könne man schauen, was im Rahmen der geltenden Schuldenbremse möglich sei, und über ihre Reform nachdenken.
Falls die Debatten über ein neues Sondervermögen oder eine Reform der Schuldenbremse bis zum 24. März ohne Ergebnis bleiben sollten, gäbe es noch eine weitere Option: das Aufrufen einer Haushaltsnotlage. Dafür reicht die Regierungsmehrheit im Bundestag aus. „Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, die Politik des neuen US-Präsidenten in Bezug auf Europa und Russland als exogenen Schock einzuordnen, der erhebliche Haushaltsauswirkungen hat“, sagt Verfassungsrechtler Kube. Doch im Wesentlichen müsse die Verteidigung als zentrale Staatsaufgabe aus dem regulären Haushalt finanziert werden. Hinzu kommt: Kreditermächtigungen aus einer Notlage müssen innerhalb des jeweiligen Jahres genutzt werden. Höhere Verteidigungsausgaben wird Deutschland aber sehr lange benötigen.