Herr Teller, Sie leiten „X, the moonshot factory“, die Forschungsabteilung des Google-Konzerns Alphabet. Was genau können wir uns unter einem Moonshot vorstellen?
Für einen Moonshot benötigen wir drei Zutaten: Zunächst brauchen wir ein riesiges Problem, das wir lösen wollen. Zweitens müssen unsere Mitarbeiter ein Produkt oder eine Dienstleistung vorschlagen, die nach Science-Fiction klingt. Wir müssen uns einig sein, dass – egal wie unwahrscheinlich es klingen mag – dieses Science-Fiction-Produkt im Falle des Erfolgs dieses riesige Problem lösen würde. Und dann müssen unsere Mitarbeiter eine Durchbruchstechnologie vorstellen, die es uns erlauben könnte, das Science-Fiction-Produkt zu entwickeln. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist. Aber es muss eine überprüfbare Hypothese geben.
Wie geht es weiter, wenn diese drei Faktoren vorhanden sind?
Dann wette ich, dass meine Mitarbeiter falsch liegen. Denn meistens liegen wir falsch. Und ich frage sie: Was ist der günstigste und schnellste Weg, eure Hypothese zu verwerfen? Dann können wir uns der nächsten Idee zuwenden. Wenn die Idee nach Nachforschungen für 20.000 Dollar immer noch gut aussieht, gibt es 50.000 Dollar, dann 100.000 Dollar und so weiter. Wir versuchen konstant, unsere Ideen zu verwerfen. Was diesen Prozess übersteht, verfolgen wir ernsthaft weiter.
Wie viele Ideen überstehen diesen Prozess?
In den vergangenen Jahren haben wir uns mit 2000 Ideen immerhin so sehr beschäftigt, dass sie Codenamen erhalten haben. Daraus sind gut zwanzig wirklich aufregende Projekte entstanden. Die Erfolgsrate liegt also bei rund einem Prozent.
Welcher dieser fast 2000 verworfenen Ideen trauern Sie am meisten nach?
Vor acht oder neun Jahren haben wir ein System gebaut, das Meereswasser in Methanol verwandeln konnte. Dafür haben wir grob vereinfacht CO2 aus dem Meereswasser extrahiert und mit dem Wasserstoff zusammengefügt. Das hat auch funktioniert. Führt man diesen Prozess mit sauberer Energie durch, ist das unter dem Strich kohlenstoffnegativ – man entzieht dem Meereswasser CO2, das dann wieder mehr Kapazitäten hat, CO2 aus der Atmosphäre aufzunehmen. Wenn man das Methanol in einem Benzintank verbrennt, gelangt es natürlich wieder in die Atmosphäre. Aber der ganze Herstellungsprozess ist kohlenstoffnegativ. Wir waren so stolz, als die ersten Tropfen Methanol am anderen Ende der Maschine heraustropften.
Das klingt doch gut so weit. Wo war der Haken?
Wir waren nicht überzeugt, dass wir es billiger anbieten könnten als für etwa 15 Dollar für eine Gallone – also gut 4,5 Liter – Benzinäquivalent. Das ist schlicht nicht günstig genug, um die Welt zu verändern. Deshalb haben wir das Projekt beendet, aber es hat uns sehr wehgetan.
Das gehört dann wohl zum Job dazu.
Ja. Ein anderes Beispiel ist eine von uns erdachte Maschine, die allein mit Hilfe von Sonnenlicht Feuchtigkeit aus der Luft ziehen konnte – selbst in Gebieten mit einer niedrigen Luftfeuchtigkeit, was auf die meisten Gebiete mit einem hohen Wassermangel zutrifft. Auch das hat funktioniert – aber die Wirtschaftlichkeit war wieder nicht gegeben. Wir haben den Preis auf etwa zehn Dollarcent je Liter Wasser drücken können, aber das reicht nicht aus. Um das Leben von zwei oder drei Milliarden Menschen auf der Welt fundamental zu ändern, hätten wir einen Preis von einem Dollarcent erzielen müssen. Auch dieses Projekt haben wir beendet. Aber in beiden Fällen haben wir unsere Ergebnisse in wissenschaftlichen Journals veröffentlicht, und Menschen haben auf Basis unserer Erkenntnisse weitergeforscht. Das lindert unseren Frust in solchen Fällen ein wenig.
Sie befinden sich doch ohnehin in einem Dilemma: Für den aktuellen Siegeszug der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) etwa wurde mit den sogenannten Transformern bei Google der Grundstein gelegt, das Forschungspapier dazu hat Google öffentlich gemacht. Andere haben darauf aufgebaut, und durch diesen offenen Innovationsprozess stehen wir in Sachen KI da, wo wir heute sind. Sie halten Ihre Forschung hingegen solange streng geheim, bis Sie das Projekt verwerfen. Erschwert diese Verschwiegenheit nicht Innovationen?
Es gibt natürlich einen Konflikt. Wenn wir alle unsere Erkenntnisse sofort öffentlich machen würden, wäre Alphabet womöglich weniger erpicht darauf, uns Geld zu geben, damit wir weiter an Moonshots arbeiten können. Wenn wir gar nichts mehr veröffentlichen würden, wäre sogar Alphabet davon nicht begeistert. Vor allem aber würde das die Menschen traurig machen, die für uns arbeiten. Wir brauchen also einen Mittelweg. Wir haben nicht die Kapazitäten, alle unsere 2000 verworfenen Ideen in der nötigen Qualität zu veröffentlichen. Aber in besonders wichtigen Fällen investieren wir das Geld und die Zeit, um genau das zu tun. Es wäre der Menschheit gegenüber schlicht nicht fair, derartige Dinge nicht zu teilen.
Was haben Sie aus Ihren knapp 2000 Fehlschlägen gelernt?
Es ist entscheidend, wie schnell und günstig man lernen kann. Wenn man richtig liegen muss, bevor man etwas probieren kann, etwa aus Sicherheitsgründen, dann macht es das Lernen sehr schwierig. Unsere selbstfahrenden Taxis von Waymo konnten nur so gut werden, weil die Gesetze in den Vereinigten Staaten selbstfahrende Autos erlauben, solange ein Mensch eingreifen könnte. So konnten wir die Technik testen. In anderen Fällen konnten wir nicht gleichzeitig die Sicherheit garantieren und lernen. In einigen Fällen sind auch Partnerschaften entscheidend. Wir haben einen Moonshot für das Stromnetz namens Tapestry. Wir konnten nicht einfach ein riesiges Stromnetz nachbauen, sondern mussten mit einem echten Stromnetzbetreiber arbeiten. Es braucht viel Zeit und Vertrauen, so ein Unternehmen zu überzeugen. In diesem Fall hat es geklappt, in anderen Fällen nicht.
Was für Menschen arbeiten für „X, the moonshot factory“?
Ich kann gar nicht genug betonen, wie stark sich die Teammitglieder unterscheiden. Sie haben gemein, dass sie gut damit klarkommen, unbequem zu sein. Nicht normal zu denken ist der Kern unseres Jobs. Wir versuchen stets, auf eine sichere Weise, die Regeln oder die Konventionen einer Branche zu brechen. Wer sich gerne an Regeln oder Konventionen hält, wird mit unserer Arbeitsweise Probleme haben. Wir versuchen, uns konstant gegenseitig herauszufordern. Meine Mitarbeiter sollen mir ständig mitteilen, wo sie denken, dass ich falsch liege – aber auf eine kollegiale Art. Es geht um die Ideen, nicht um Persönlichkeiten. Unsere Ideen sollen miteinander im Clinch liegen können, ohne dass wir es tun.
Ist es nicht wahnsinnig kompliziert, ein Team zu managen, das sich nicht an Regeln halten soll?
Ja, es ist ziemlich erschöpfend. Aber zur Wahrheit in Sachen Innovationen gehört nun mal: Du kannst kein Team von Rebellen haben, die sich super benehmen. Wenn man Leute haben möchte, in deren Natur es liegt, Grenzen zu verschieben, muss man damit leben, dass sie konstant Dinge hinterfragen. Das gehört zur Reise dazu.
Sie müssen einerseits mit den Freigeistern in Ihrem Team umgehen, andererseits aber auch mit Ihren Chefs bei Alphabet, die mit X natürlich Geld verdienen wollen. Von welchem Punkt an integrieren Sie die Frage nach einem möglicherweise profitablen Geschäftsmodell in das Denken bei X?
Das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Ich will, dass mein Team radikal kreativ über alles nachdenkt – nicht nur über die Technologie. Letzten Endes zählen für uns keine Patente oder Forschungspapiere, sondern ob wir nachhaltige Geschäftsmodelle aufbauen können, die gut für die Welt sind. Bevor wir ein Unternehmen ausgründen, braucht es einen detaillierten Plan: Was genau stellen wir her? Können wir das herstellen? Warum wäre das sehr gut für die Welt? Wer braucht das? Und wie viel würden Menschen dafür zahlen? Können wir das so günstig produzieren? Wir müssen nicht nur Dinge erfinden, sondern ein ganzes System drumherum, das aus der Idee ein Unternehmen werden lässt. Das ist unser Job, nicht nur die Technik. Alphabet bewertet uns langfristig. Wir bekommen viel Zeit, wir liegen bei vielen Dingen falsch. Aber wenn sie im Laufe der Zeit ein Google Brain, ein Waymo, ein Verily, ein Wing oder ein Intrinsic bekommen, dann übersteigt der Wert, den wir schaffen, die Investitionen in uns.
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Sie haben gerade einige der X-Ausgründungen genannt. Welches Projekt fasziniert Sie gerade am meisten?
Ich habe Tapestry ja schon erwähnt, unseren Moonshot für das Stromnetz. Darauf bin ich sehr stolz. Stromnetzbetreiber haben bislang keine exakte Karte für ihr Verteilnetz. In den vergangenen fünf oder sechs Jahren haben wir mit den vorhandenen Daten – Daten von Google Street View, von Drohnen, Satelliten und vielem mehr – durch KI-Prozesse automatisiert ein tatsächliches Abbild des Netzes erstellt. Darauf aufbauend können wir jetzt das Netz optimieren und viel schneller Entscheidungen treffen. Wenn heute jemand einen Wind- oder Solarpark ans Netz anschließen will, muss er in den meisten Ländern sieben oder acht Jahre warten. Das liegt daran, dass die Netzbetreiber sicherstellen müssen, dass der Anschluss ans Netz sicher ist und nicht die Versorgungssicherheit gefährdet. Wir konnten mit einigen Netzbetreibern die Geschwindigkeit der Genehmigungen mit Tapestry um das 30-fache beschleunigen, sodass die Warteschlange kürzer wird und nicht immer länger. Ein anderes Beispiel: Erinnern Sie sich an unsere Loon Balloons?
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Ja, Ballons in der Stratosphäre, die Internet in unterversorgte Gebiete bringen sollten. Das Projekt wurde doch 2021 eingestellt?
Genau. Technisch hat das funktioniert, aber wir haben es nicht geschafft, ein erfolgreiches Geschäft daraus zu machen. Aber aus der Asche der Ballons kam ein sprichwörtlicher Phönix. Die Ballons haben über Laser untereinander kommuniziert. Eigentlich lassen sich Laser am Boden nicht zur Kommunikation nutzen, weil die Atmosphäre das Licht zu sehr verzerrt, als dass man es einfach durch die Luft schicken könnte. Deshalb nutzen wir üblicherweise Glasfaserkabel. Ein Team hat bei uns die letzten sieben Jahre aber daran gearbeitet, dass wir jetzt Daten via Laser bis zu 20 Kilometer verschicken können. Dafür braucht es zwei Boxen, die in direkter Sichtlinie zueinanderstehen müssen. Der Laser ist sicher für die Augen, wir erreichen Glasfasergeschwindigkeiten, der Aufbau dauert eine Stunde – und kostet nur ein Tausendstel dessen, was das Verlegen von Glasfaserkabeln kosten würde. Das Team heißt Taara. Taara bewegt in 15 Ländern jetzt schon fünfzigmal mehr Daten zu Kunden als Loon in seiner gesamten neunjährigen Geschichte.
Wo gibt es denn Kundschaft für die Technik?
Manche Kunden wollen in einem entlegenen Gebiet nur für einen gewissen Zeitraum Internet anbieten, etwa für ein Festival. Taara ist perfekt dafür. Oder Inseln, deren Unterwasserseekabel gekappt wurden. Mit Taara sind sie schnell wieder am Netz. Manche Rechenzentren-Betreiber nutzen die Technik als Back-up, falls ihre normalen Glasfaserverbindungen ausfallen. Manchmal wollen Leute die Technik auch nur als Übergang nutzen, solange die Glasfaserleitungen noch verlegt werden – was Jahre dauern kann. Wir arbeiten zum Beispiel mit einem Internetanbieter in Ghana, der über Glasfaserleitungen in einer Großstadt verfügt. 15 Kilometer entfernt gibt es eine weitere Stadt, aber das Verlegen weiterer Glasfaserkabel kann der Anbieter sich nicht leisten. Da kommt Taara ins Spiel.
Künstliche Intelligenz hat in der Geschichte von X eine große Rolle gespielt, unter anderem durch Google Brain. Wie blicken Sie auf die aktuellen Entwicklungen rund um KI?
Künstliche Intelligenz wird die Welt stark verändern. Letzten Endes wird es sich anfühlen wie die Erfindung der Elektrizität, des Buchdrucks, des Feuers oder des Computers. Es ist eine der wichtigsten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. KI wird definitiv verändern, wie wir arbeiten. Ich denke, wir werden als Gesellschaft davon abrücken, Dinge mechanisch oder sogar digital herzustellen, und in der Wertschöpfungskette nach oben rutschen: Die Menschen werden sehr gut darin werden, danach zu fragen, was sie wollen. Generative KI kann ein Drehbuch für einen Film schreiben – aber es wird nicht besonders gut sein. Man muss in einen Dialog mit dem System treten. Das benötigt genauso gewisse Fertigkeiten wie das Schreiben eines Drehbuchs, nur eben andere.
Sie haben eingangs des Gesprächs gesagt, Ideen müssten nach Science-Fiction klingen, um bei Ihnen als Moonshot zu gelten. Wie stark beeinflusst Science-Fiction Ihre Arbeit?
Die Leute bei X haben ein viel breiteres Interesse an Science-Fiction, als man vielleicht vermuten würde. Science-Fiction existiert seit Hunderten von Jahren, zum Beispiel im alten Ägypten oder Griechenland. Der Pygmalion-Mythos unterscheidet sich nicht wirklich von dem Wunsch, einen Roboter zu erschaffen. Jules Verne war schon vor mehr als hundert Jahren exzellent darin, sich die Zukunft vorzustellen. Es gab eine Zeit, vor allem rund um die Sechziger und Star Trek, in der Science-Fiction sehr optimistisch geprägt war. In den letzten Jahrzehnten war Science-Fiction sehr dystopisch geprägt. Ich halte das für eine verpasste Chance.
Es ist sicherlich nicht die alleinige Aufgabe von Science-Fiction-Autoren, uns zu sagen, was wir erfinden sollen. Aber Technologen sind inspiriert durch Science-Fiction. Wenn wir eine bessere Welt wollen, sollten wir unsere Vorstellung auch dafür nutzen, positive Geschichten zu erzählen.