Es ist häufiger als es der Begriff vermuten lässt: Vier Millionen Menschen in Deutschland haben eine seltene Erkrankung. Oft fallen sie im Gesundheitssystem durchs Raster. Das soll ein Modellprojekt nun ändern.
Rebekka und Thorben Dijkstra erleben es immer wieder, dass Fachpersonal die Erkrankung ihres Kindes nicht kennt. Bereits als der heute Vierjährige noch ein Baby war, bemerken seine Eltern, dass er sich anders entwickelt als andere Kinder. Nach der Vorsorgeuntersuchung mit einem Jahr schickte sie auch ihr Kinderarzt zu Spezialisten. Bis sie eine Diagnose erhielten, war Timmon zweieinhalb. “Diese eineinhalb Jahre haben sich sehr, sehr lang angefühlt”, sagt seine Mutter. “Auch wenn ich sagen muss: Im Nachhinein betrachtet und mit dem Wissen, wie es vielen anderen Familien geht, war es relativ kurz.”
Familie Dijkstra ist damit nicht allein: Viele warten Jahre auf eine Diagnose. “Seltene Erkrankungen und die betroffenen Personen haben in der Vergangenheit häufig nicht die Versorgung bekommen, die sie eigentlich brauchen”, sagt Christian Schaaf, Direktor des Instituts für Humangenetik an der Uniklinik Heidelberg.
Tausende Erkrankungen – Millionen Betroffene
Das heißt per Definition: Insgesamt sind nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von der jeweiligen Erkrankung betroffen. “Aber es gibt auch Erkrankungen, die noch viel seltener sind”, so Schaaf. “Ich bin seit 20 Jahren in der Humangenetik und mir begegnen in der Klinik immer noch Erkrankungen, die ich noch nie zuvor gesehen habe.”
Aber: Insgesamt sind relativ viele Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit leben in Deutschland rund vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung, in der EU sind es circa 30 Millionen Betroffene. Denn es gibt sehr viele unterschiedliche Krankheitsbilder, die unter diese Definition fallen: Mehr als 6.000 unterschiedliche Erkrankungen und jedes Jahr werden circa 250 neue entdeckt.
Oft keine Therapie verfügbar
Bei Timmon Dijkstra brachte eine genetische Analyse Klarheit: Er hat das Dup15q-Syndrom. Eine seltene Erkrankung – auch wenn Fachleute schätzen, dass mehrere Tausend Menschen in Deutschland davon betroffen sein könnten. “Kinder mit Dup15q haben eine Entwicklungsverzögerung”, sagt Maja Hempel. Sie leitet an der Uniklinik Heidelberg die einzige Spezialsprechstunde für diese Erkrankung in Deutschland.
“Das heißt, ihre motorische Entwicklung setzt verspätet ein. Auch die Sprachentwicklung ist verzögert.” Fast alle Betroffenen zeigen Verhaltensauffälligkeiten aus dem Bereich der Autismus-Spektrum-Störung, viele von ihnen entwickeln außerdem eine Epilepsie. “In unserer Sprechstunde lernen wir viel über diese Erkrankung”, so Hempel. “Der Traum wäre irgendwann eine ganz spezifische Therapie zu entwickeln. Aber dafür liegt noch viel Arbeit vor uns.”
Fachleute und Betroffene sind sich einig: Die medizinische Versorgung von Menschen mit einer seltenen Erkrankung ist oft nicht gut. Circa die Hälfte der Betroffenen haben keine gesicherte Diagnose – wissen also nicht genau, welche Erkrankung sie haben. Für 95 Prozent von ihnen gibt es, auch wenn sie eine Diagnose haben, keine spezifische Therapieoptionen.
Hürden auf dem Weg zur Diagnose
Im Fall von Kindern mit einer seltenen Erkrankung wie Timmon liege das zum einen daran, dass einige Kinderärzte und -ärztinnen zurückhaltend seien, wenn es um genetische Untersuchungen geht, sagt Maja Hempel, Leiterin der Genetischen Poliklinik an der Uniklinik Heidelberg. “Mein Appell wäre es, dass jedes Kind, das sich nicht im Rahmen des Normalen entwickelt, frühzeitig eine genetische Untersuchung erhält.”
Heute sei es oft so, dass es am Engagement der Eltern liege, wie schnell ein Kind eine Diagnose bekommt. “Wenn Eltern auf eine Diagnostik dringen, dann bekommen sie diese letztendlich auch.” Aber Eltern, die das Vertrauen und den Wunsch haben, dass schon alles in Ordnung sei, bekämen erst viel später eine Diagnose. “Die ist aber sehr wichtig, um den Betroffenen individuell helfen zu können.”
“Etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetisch verursacht”, sagt der Humangenetiker Schaaf. Möglich seien zum Beispiel kleine Fehler in der genetischen Sequenz – wie Tippfehler in einem Text, die den Sinn verändern. In einigen Fällen fehlen auch ganze Stücke von Chromosomen, manche Menschen haben auch “zu viel” von bestimmen Regionen des Erbmaterials oder sie liegen an der falschen Stelle. Im Fall von dub15q liegt zum Beispiel zu viel Material vom Chromosomen Nr. 15 vor.
Analysen des Erbguts konnten nicht abgerechnet werden
Technisch ist es möglich, das komplette Genom eines Menschen in einem einzigen Verfahren auszuwerten – also die komplette Erbinformation auf einmal. Doch bisher wurde so eine sogenannte Genomsequenzierung nur selten gemacht – auch wenn der Verdacht auf eine seltene Erkrankung im Raum stand.
“Es war fast nicht möglich, Genomsequenzierungen abzurechnen”, sagt Christian Schaaf von der Uniklinik Heidelberg. Die Bezahlung musste einzeln mit den Krankenkassen verhandelt werden. Häufig wurden stattdessen nur bestimmte Teile des Erbguts untersucht oder bezahlt. Nicht immer mit einem zufriedenstellenden Ergebnis. “Die Konsequenz war, dass zahlreiche Betroffene und Familien einfach durchs Raster gefallen sind. Und manche Patientinnen und Patienten sind wahrscheinlich auch verstorben, bevor sie die entsprechende Diagnostik bekommen konnten.”
Modellvorhaben: Krankenkassen übernehmen Kosten
Diese Situation soll sich verbessern: Der Spitzenverband der Krankenkassen und der Verband der Universitätsklinika-haben sich 2024 auf ein Modellvorhaben geeinigt, das jetzt anläuft. Die Krankenkassen übernehmen in dessen Rahmen die Kosten für eine Genomsequenzierung bei Patienten mit seltenen Erkrankungen und bestimmten Tumorerkrankungen, die an 23 universitären Zentren durchgeführt werden.
Das Modellprojekt ist bis 2029 ausgelegt, die daraus gewonnen Daten werden zur Versorgung der Betroffenen, aber auch zur Auswertung der Qualität der medizinischen Behandlung verwendet. “Das ist ein innovativer und zukunftsweisender Impuls für eine gezielte und besserer Versorgung”, erklärt Jens Bussmann, Generalsekretär des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands. “Die Bündelung der gewonnenen klinischen und genomischen Daten hilft bei der Behandlung, aber auch dabei, gezielte Therapiemöglichkeiten durch Forschung entwickeln zu können.”
Auch Schaaf vom Uniklinikum Heidelberg ist überzeugt: Das Modellvorhaben ist ein wichtiger Schritt für eine bessere Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. “Sie haben dadurch die Möglichkeit, den besten zurzeit verfügbaren Test zu erhalten und die beste Chance, die Ursache der Erkrankung tatsächlich zu erkennen.” Hinzu kämen eine interdisziplinäre Versorgung und Beratung vor und nach der Diagnose. “Wir schließen damit eine Versorgungslücke.”
Diagnose ermöglicht gezielte Förderung
Wie wichtig eine konkrete und korrekte Diagnose für Betroffene sein kann, erlebt die Humangenetikerin Hempel immer wieder – auch wenn für viele erstmal eine Welt zusammenbricht. “Nach dem ersten Schock erleben wir es regelmäßig, dass die Eltern die Fragen nach dem ‘Warum ist mein Kind so anders?’ beantwortet haben.”
Der Fokus der Eltern und Betreuer könne sich dann darauf richten, wie man dem Kind helfen kann. “Es werden Ressourcen frei bei den Familien – weil man beispielsweise nicht mehr so viele Arzttermine wahrnehmen muss, weil man nicht mehr auf der Suche ist.” Diese Kraft und Zeit könne stattdessen in die gezielte Förderung des Kindes investiert werden. “Abgesehen davon haben die Eltern dann die Möglichkeit sich zu vernetzen”, so Hempel.
Für Familie Dijkstra hatte die Diagnose auch ganz konkrete Auswirkungen: “Timmon hatte noch keinen epileptischen Anfall”, erklärt seine Mutter. “Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er eine Epilepsie entwickeln wird, ist relativ hoch durch seine Diagnose.” Ein entsprechendes Notfallmedikament haben sie jetzt immer zu Hause.