Wie Muslime in Deutschland den Ramadan feiern

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Wenn an diesem Freitagabend die Sonne untergeht, beginnt für Familie Sipahi eine besondere Zeit. Die sieben Jahre alte Tochter kann es kaum abwarten. „Wir haben zu Hause einen Ramadan-Kalender, und ich freue mich, dass ich Überraschungen kriege“, sagt Zeyneb Hafsa Sipahi.

Ihre Eltern basteln den Kalender meistens selbst, befüllen Säckchen mit Süßigkeiten und Spielzeug, manchmal gibt es auch einen Koranvers. In Supermärkten kann man seit wenigen Jahren aber auch fertige Kalender kaufen.

Der Islam ist nicht nur dort sichtbarer geworden. Der Familienvater Sami Sipahi drückt es so aus: „In Deutschland hat sich eine ganz eigene Ramadankultur entwickelt.“ Seit vier Generationen formt sie sich immer weiter aus. Den Ramadan-Kalender bezeichnet Sami Sipahi als „klassisch deutsch-muslimisches Phänomen“.

Heute gibt es in Städten wie Köln und Frankfurt zum Ramadan sogar festliche Straßenbeleuchtung, Moscheegemeinden empfangen Politiker zum Fastenbrechen, dem Iftar. Und beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, wo die Sipahis leben, ist es schon Tradition, dass auch der Ministerpräsident zum Iftar-Empfang einlädt. Ein neues deutsch-muslimisches Lebensgefühl.

Festliche Lichter zum Ramadan im Jahr 2024 an der Venloer Straße in Köln
Festliche Lichter zum Ramadan im Jahr 2024 an der Venloer Straße in Kölndpa

In Sami Sipahis Kindheit gab es noch keine Ramadan-Kalender. Aber seine Schwester erinnert sich, dass sie mal ei­nen Adventskalender hatte. Weihnachten und Ostern bekamen Sami Sipahi, seine Schwester und sein Bruder sogar Geschenke von den Nachbarn. Der 35 Jahre alte Familienvater ist mit der Gleichzeitigkeit christlicher und mus­limischer Traditionen aufgewachsen. Genauso wie seine Kinder heute.

Seine Frau hat einen Weg gefunden, den Kindern zu vermitteln, wie sie die verschiedenen Feste deuten können. „Ich erkläre das meinen Kindern immer so“, sagt Meryem Sipahi: „Wenn du Geburtstag hast, ist es wie Ramadan. Und wenn du auf eine andere Geburtstagsfeier gehst, ist es wie Weihnachten. Es ist eine Feier von jemand anderem, aber du kannst teilhaben und dich darauf freuen.“

Sami und Meryem Sipahi mit ihrer zweijährigen Tochter
Sami und Meryem Sipahi mit ihrer zweijährigen TochterJasper Hill

So ist es auch mit dem Karneval, der sich in diesem Jahr mit dem Ramadan-Beginn überschneidet. In Monheim am Rhein, wo die Sipahis leben, gehören die tollen Tage in Kita und Schule dazu. Zeyneb Hafsa und ihr fünf Jahre alter Bruder gehen als Polizisten, die zwei Jahre alte Schwester als Prinzessin.

Ab Aschermittwoch sind dann zumindest kalendarisch auch christliche Familien in einer Fastenzeit angekommen, wenngleich die Vorschriften im Islam weitaus strenger ausfallen: kein Tropfen Wasser von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Etwa zwei Drittel der Mus­lime in Deutschland fasten komplett (56 Prozent) oder teilweise (20 Prozent), wie die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ aus dem Jahr 2020 zeigt. Die Mehrheit der christlichen Personen ohne Migrationshintergrund hingegen befolgt laut der Studie keine Fastenvorschriften (82 Prozent).

Man fastet gemeinschaftlich

Zeyneb Hafsa will wieder versuchen, ein bisschen mitzufasten. Stolz erzählt sie: „Ich faste auch noch mal mit meinem Opa und meiner Oma.“ Die Eltern erlauben ihr das nur am Wochenende, wenn sie es möchte.

Nun sitzen sie alle zusammen im Wohnzimmer bei Großvater Resul Sipahi im westfälischen Herford. Er hat es mit dem Urgroßvater, der Zimmermann war, nach anatolischer Tradition als „Köy Odasi“ eingerichtet. Eine gute Stube für Gäste. Sie ist holzvertäfelt und mit kunstvollen Schnitzereien an der Decke verziert.

An der Wand hängen schon die Lichterketten für den Ramadan. Zeyneb Hafsas Tante freut sich daran. „Heute habe ich schon erste Ramadan-Vibes, weil ich die Beleuchtung aufgehängt habe“, sagt sie.

Der 60 Jahre alte Großvater erinnert sich an die vielen verschiedenen Fastenzeiten, die er erlebt hat. Als kleines Kind in einem Dorf in Anatolien, wo er mit seinem Opa den ersten Schwarztee trinken durfte. Als älteres Kind in Ankara. Und schließlich als Jugendlicher in Herford, wohin Resul Sipahi seinem Vater folgte, als er 14 Jahre alt war.

Resul Sipahi mit seiner Frau Gönül
Resul Sipahi mit seiner Frau GönülJasper Hill

An die Fastenzeiten in Ankara hat er gute Erinnerungen. Sie hatten einen Steinofen am Haus, an dem sich nachts viele versammelten. Die Frauen kamen mit ihrem Teig, um vor Sonnenaufgang Fladenbrot für das traditionelle Frühstück zu backen. Weil es kein elektrisches Licht gab, sah und hörte Großvater Resul als Kind im Dunkel der Nacht nur, wie sich der schwache Schein der Öllampen und die Stimmen näherten.

Als der jugendliche Resul Ende der Siebzigerjahre zunächst allein zu seinem Vater nach Herford zog, der dort in einer Fabrik arbeitete, war das gerade im Ramadan manchmal schwer.

In Deutschland war es anfangs einsamer

Im Dorf in Anatolien hatten sie mit 32 Personen gemeinsam das Fasten gebrochen, auch in Ankara war Zusammenhalt spürbar. In Deutschland war es einsamer. Wenn der Vater Spätschicht hatte, war der Jugendliche beim Iftar hin und wieder allein.

Mitte der Achtzigerjahre konnte dann endlich auch die Mutter nach Deutschland kommen. „In den ersten zehn, zwanzig Jahren war viel Einsamkeit, heute sitzt mein Vater mit 13 Personen am Tisch“, sagt Sami Sipahi.

Den Gemeinschaftscharakter des Fastens betont auch der Soziologe Rauf Ceylan vom Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. „Das Fasten ist nicht rein individuell, es ist vor allem ein soziales Ereignis. Man möchte mitfasten und am Abend gemeinsam das Fasten brechen“, sagt er.

Die Ditib-Moschee in Herford
Die Ditib-Moschee in HerfordJasper Hill

Eine wichtige Stütze wurde für Resul Sipahi mit der Zeit eine Gebetsgemeinschaft, die sich in Herford zu einer Moscheegemeinde entwickeln sollte. In den frühen Siebzigerjahren versammelten sich türkische Gastarbeiter dort zum Gebet in Räumlichkeiten, die mit der Zeit wechselten.

1978 wurde ein Verein gegründet, der sich nach ein paar Jahren dem türkischen Moscheeverband Ditib anschloss; Sami Sipahi arbeitet in der Kölner Zentrale für den Verband und ist Abteilungsleiter für Gemeindeentwicklung und Revision.

Seit 2002 gibt es in Herford eine neue Moschee, in der beim Freitagsgebet um die tausend Gläubige zusammenkommen. Es kam durch die Pandemie, dass inzwischen freitagmittags der Gebetsruf laut erschallen darf.

Die Linsensuppe wird serviert.
Die Linsensuppe wird serviert.Jasper Hill

Der Großvater schaut versöhnt zurück auf all die Jahre und sagt: „In einem Menschenleben geht es berghoch und bergrunter.“ Die beste Fastenzeit habe er hier in Herford mit seinen Kindern verbracht.

Damit man es schafft, das Fasten bis zum Abend durchzuhalten, ist oft auch Ablenkung gefragt. In Herford ging er mit seinen Kindern zum Beispiel gern an der Werre Enten füttern. „Damals war es noch erlaubt“, sagt er lachend. Er machte auch Einkäufe mit den Kindern für das gemeinsame Fastenbrechen am Abend.

Es gibt Traditionen, die die Zeiten überdauern. So wie damals im Dorf in Anatolien und in den Jahren in Ankara wird auch im Jahr 2025 hierzulande in den Küchen fastender muslimischer Familien in der Stille der Nacht ein Frühstück zubereitet, um sich vor Sonnenaufgang noch einmal zu stärken. In Herford bei den Großeltern ebenso wie in Monheim am Rhein bei Sami und Meryem Sipahi. Etwa um 3.30 Uhr ist es in der Nacht auf Samstag Zeit aufzustehen. Um 5.19 Uhr beginnt die Morgendämmerung, dann muss das Frühstück vorbei sein.

Erst um 18.11 Uhr, wenn der Gebetsruf aus einer App auf Sami Sipahis Mobiltelefon erschallt, darf er wieder essen und trinken. Er wird sich dann, wie jedes Jahr, mit seiner Familie zum ersten Iftar versammeln und ein kurzes Bittgebet sprechen. Dann wird gegessen. Datteln dürfen dabei nicht fehlen. Linsensuppe, Fleischgerichte zum Hauptgang, ein großer Salatteller, den sich alle teilen, Fladenbrot. All das gehört dazu.

Danach sprechen sie ein Gebet, bevor er und seine Frau sich jeweils für wenige Minuten zum täglichen Abendgebet zurückziehen. Dann gibt es Tee und süße Speisen.

Tarawih-Gebet in der Moschee

In der Moschee folgen das Nachtgebet und das für den Ramadan vorgesehene Tarawih-Gebet, in dem durch den Monat Ramadan hindurch möglichst der ganze Koran rezitiert wird. Weil das gern mal 50 Minuten dauern kann, beeilen sich manche Imame. „Es gibt im Ramadan vor allem in der Türkei oft Imame, die in den Medien bekannt werden, weil sie das Tarawih-Gebet so schnell runterrattern, dass man sie „Jet-Imame“ nennt“, sagt der Soziologe Ceylan.

Als Sami Sipahi erzählt, dass die Kinder nach dem Tarawih-Gebet zu Hause noch etwas spielen können und dann „ab ins Bett“ gehen, will seine Tochter noch etwas Wichtiges ergänzen: „Papa, nicht ab ins Bett – erst noch Bücher lesen im Ramadan-Zelt.“

Im Fastenmonat stellt Familie Sipahi für die Kinder nämlich ein Tipi auf, in dem symbolisch kleine Gebetsteppiche liegen, auf denen ihre Namen gestickt sind und in denen sie sich meistens mit ihrer Mutter vor dem Schlafengehen noch eine Geschichte anhören. Auch das gab es früher so nicht.

Raum für Innerlichkeit

Mit dem Zelt verbindet Sami Sipahi, der islamischer Theologe ist, eine spi­rituelle Idee: Es soll einen Rückzugsort bieten. Denn auch das gehört zum Ramadan. „Die ersten zwanzig Tage verbringt man viel Zeit mit anderen Menschen: Man fastet zusammen, man isst zusammen“, sagt er.

In den letzten zehn Tagen ziehe man sich etwas zurück – das nenne man Itkaf –, weil in einer der letzten zehn Nächte des Ramadans die Offen­barung, also der Koran, herabgesandt worden sei. „Diese Nacht ist heiliger als tausend Monate – so heißt es im Koran –, und man möchte diese Nacht, die wertvoller ist als tausend Monate, begehen.“

Allein das Beispiel der Familiengeschichte der Sipahis zeigt, wie viel sich mit den Jahren verändert hat. Aber dass auch manches gleich geblieben ist. Der Soziologe Rauf Ceylan sagt: „Das große Metathema ist, dass Religion sich wandelt.“ Alle Weltreligionen seien nicht in ihrer Ursprungsregion hängen geblieben, sondern hätten sich gewandelt und angepasst. „Religionen sind dynamisch und nicht statisch.“

Am Ende des Ramadans, also am 30. März, gibt es ein großes Fest. Sami Sipahi wird zum Ramadanfest mit Frau und Kindern zu den Großeltern nach Herford fahren, wo auch seine Schwester und sein Bruder mit Familie sein werden. Auf das Festgebet am Morgen in der Moschee und das Familienfrühstück freuen sich schon alle.