Nach nicht einmal dreieinhalb Jahren wählten die Deutschen eine heillos überforderte Regierung ab und verhalfen erstmals Parteien am rechten und linken Rand zu einer parlamentarischen Blockademacht. Viele möchten jetzt innehalten, verdauen, aber die Zeit rennt unerbittlich weiter. Washington peitscht die Weltpolitik voran und erzwingt Reaktionen von Europa, auch und gerade aus Deutschland. Am Sonntag tagt ein Krisengipfel in London, am Mittwoch ein zweiter in London, weitere dürften folgen. Viele Augen richten sich auf Berlin – aber von dort reist vermutlich kein neuer Kanzler an, sondern ein alter, der kaum noch im Namen der Nation sprechen kann. So könnte es noch Wochen weitergehen.
Obwohl der atemraubende Kurswechsel der Vereinigten Staaten und das damit drohende Sicherheitsvakuum in Europa als existenziell wahrgenommen werden, will sich die neue Bundesregierung in altgewohnter Weise formieren: mit Sondierungen, Verhandlungen in Arbeitsgruppen, einem umfangreichen Koalitionsvertrag und einem Mitgliederentscheid (bei der SPD). Viele halten das Ziel von Friedrich Merz, des voraussichtlich nächsten Bundeskanzlers, sein Kabinett bis spätestens Ostern zu präsentieren, nicht nur für realistisch, sondern für ambitioniert.
Aber Erste warnen jetzt vor zu viel eingefahrener Routine. „Ohne eine handlungsfähige deutsche Regierung kann Europa nicht auf die derzeit dringlichen Herausforderungen reagieren“, sagt der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen und fährt fort: „Jede zusätzliche Woche erhöht das Risiko, dass Trump und Putin in der Zwischenzeit auf Kosten Europas Fakten schaffen.“ Röttgens Schlussfolgerung lautet: „Wir müssen die gewöhnlichen Rituale außer Kraft setzen und unsere innenpolitische Geschwindigkeit der außenpolitischen Realität anpassen.“ Nach dem Eklat beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Washington am Freitagabend mehren sich nun Äußerungen in diese Richtung.
Bislang kein Atem der Dringlichkeit
Ein Zeitplan, der noch Anfang der Woche unter Unionspolitikern zirkulierte, atmete diese Dringlichkeit noch nicht. Erst zehn Tage nach der Wahl wollte die Union die SPD „zu Sondierungen einladen“. Die Gespräche sollten dann am 20. März in die „Phase der Arbeitsgemeinschaften“ übergehen, bevor Mitte April die „Hauptverhandlungsgruppe“ übernehmen sollte. Die Vereidigung wurde für den 2. Mai geplant.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Nun aber trafen sich die Sondierer immerhin schon am Freitag, was die Dinge beschleunigen könnte. Aber ist auch mit einem raschen Abschluss zu rechnen? Vor allem die verzopfte Konvention, einer neuen Koalition ein wochenlang verhandeltes Handbuch auf den Weg zu geben, könnte den Prozess strecken. Sie stünde im Kontrast zu dem Befund, dass Europa gerade einen „Epochenwandel“ erlebt.
Merz will sich daher einen „ehrgeizigen Zeitplan vornehmen“, sagt er im Interview mit der F.A.S., das vor dem Eklat in Washington geführt wurde, und macht darauf aufmerksam, dass „gerade das gesamte Koordinatensystem, in dem sich unsere Politik bewegt, neu geschrieben wird“. Aber er sagt auch: „Ich kann den Zeitplan nicht alleine bestimmen.“ Damit zeigt er auf die Sozialdemokraten, die weitgehend unbeeindruckt von der außenpolitischen Ausnahmelage wirken. Schon während des Wahlkampfs präsentierten sie sich vor allem als Hüter des (sozialen) Status quo.
Seit ihrer schmerzhaften Niederlage changieren sie zwischen Fehlersuche, Trotz und hinhaltender Taktik. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil, der nun auch die Fraktion führt, schürte sogar Zweifel, ob es überhaupt zu einer Regierungsbeteiligung kommen werde, und erhöhte die Hürden für Verhandlungen. Er erwarte, „dass Merz seinen Kurs und auch seinen Ton deutlich ändert“, sagte er. Seine Kollegin Saskia Esken soll versprochen haben, bei den Verhandlungen „zu nerven“.
Nicht nur angesichts der AfD-Erfolge will die politische Mitte den Bürgern beweisen, dass sie auf der Höhe der Zeit regieren kann – von der „letzten Patrone der Demokratie“ sprach CSU-Chef Markus Söder –, und doch zögert sie einmal mehr, von Gewohnheiten abzurücken und sich Neues zu trauen. „Mir fehlt der Sinn für Dringlichkeit“, sagt der Historiker Andreas Rödder. „In nur vier Wochen hat Trump die Weltpolitik umgedreht – und da wollen wir noch sieben Wochen warten, bis wir einen handlungsfähigen Kanzler haben?“ Rödder, der einen Ruf als unbequemer CDU-Berater hat, erinnert daran, dass Deutschland schon seit dem Bruch der Koalition im frühen November keinen ausreichend mandatierten Regierungschef mehr habe. „Darin zeigt sich, wie blockiert das politische System geworden ist.“
Statt die üblichen Rituale außer Kraft zu setzen und sich früh zusammenzuraufen, erwecken die Koalitionspartner den Eindruck, als ließe sich das Land auch in einem weltpolitisch aufgeheizten Interregnum verantwortungsvoll regieren. „Es muss ja in Europa weiter gehandelt werden, und dafür werde ich auch Sorge tragen“, beruhigte der Nochkanzler. Sein designierter Nachfolger zeigte sich nach dem Wahlabend zuversichtlich, „dass wir ab jetzt Hand in Hand arbeiten und einen guten Übergang vorbereiten“. Eine Zeitung mit Freude an Sprachspielen sprach prompt vom „doppelten Kanzler: Olaf Merz“.
Aber haben wir wirklich einen doppelten Kanzler? Oder sind es nicht vielmehr zwei halbe? Scholz wird allein nach London und Brüssel reisen, ohne Merz. „Es gibt kein Regierungspraktikum, und es gibt auch kein An-die-Hand-Nehmen“, sagte der Regierungssprecher. Merz nutzt die Zeit, um bei informellen Abendessen wie mit Emmanuel Macron die Lage zu erkunden. Aber wo es um Entscheidungen geht, ist er, notgedrungen, absent. Scholz mag sich vor den Gipfelberatungen mit seinem Nachfolger abstimmen, aber wie wird er auf unvorhersehbare Dynamiken im Verhandlungssaal reagieren? Immerhin wird dort über einen neuen Verteidigungsfonds und Milliardenbeträge verhandelt; jederzeit können neue Vorschläge auftauchen. Europa, hebt Merz oft hervor, warte händeringend auf Führung aus Berlin, aber das offizielle Europa soll noch zwei Monate lang in das Gesicht eines abgewählten Regierungschefs blicken.
Andere Länder sind schneller
Neidisch wandert der Blick nach Großbritannien. Dort wurde Keir Starmer gleich am Morgen nach der Parlamentswahl vom Staatsoberhaupt mit der Regierungsbildung beauftragt. Noch am selben Abend stand das Kabinett, zwölf Stunden später trat es schon in der Downing Street zusammen. So ist es immer auf der Insel. Der enge Zeitplan wurde sogar 2010 eingehalten, als David Cameron eine der seltenen britischen Koalitionen bilden musste, eine Regierung, die dann ohne nennenswerte schriftliche Grundlage die ganze Legislaturperiode hielt.
Jedes Regierungssystem hat seine Eigenheiten, und das britische ist dem deutschen fern, aber Italien zeigt, dass auch in schwerfälligen Koalitionsdemokratien Regierungen schnell zusammenfinden können. Der letzten Wahlsiegerin Giorgia Meloni gelang es im Herbst 2022, in weniger als einem Monat mit einer Regierung vereidigt zu werden, die heterogener ist als das erwartete Zweierbündnis in Deutschland. Die Koalition in Rom regiert, relativ geräuschlos, seit zweieinhalb Jahren, womit sie schon heute zu den stabilsten Regierungen seit dem Zweiten Weltkrieg zählt.
Das Grundgesetz steht einer raschen Regierungsbildung nicht im Weg. Nach Lesart des Bonner Verfassungsrechtlers Klaus Gärditz könnte Parlamentspräsidentin Bärbel Bas den neuen Bundestag schon wenige Tage nach der Feststellung des amtlichen Endergebnisses einberufen, was der Bundeswahlausschuss für den 14. März angekündigt hat. Damit könnte der Kanzler in der vorletzten Märzwoche gewählt werden. Gärditz bezweifelt zwar gegenüber der F.A.S., dass der Bundespräsident eine Person vorschlagen würde, „solange mangels Koalitionsvertrags keine Aussicht auf eine Wahl besteht“, aber dass nur ein Koalitionsvertrag Garantie bietet, ist eine politische Annahme, die auf der Erfahrung vergangener Jahrzehnte beruht. Der Berliner Verfassungsrechtler Florian Meinel macht darauf aufmerksam, dass in der frühen Bundesrepublik durchaus Regierungen ohne Koalitionsvertrag gebildet wurden. Würden sich Union und SPD bis zu diesem Montag einigen, dass sie gemeinsam regieren wollen, könnte Merz theoretisch schon am 7. März zum Kanzler gewählt werden. Die Feststellung des amtlichen Wahlergebnisses hält Meinel für „keinen zwingenden Grund“, um den Prozess aufzuschieben.
Die Hürden sind politischer Art. Es fehlt der Drang zur schnellen Einigung, und es wird außerdem überlegt, ob der alte Bundestag noch einmal gebraucht werden könnte. Um die notwendig gewordenen Milliarden-Investitionen in die Verteidigung aufbringen zu können, wird erwogen, noch rasch mithilfe der Ampelparteien ein sogenanntes Sondervermögen aufzunehmen, bevor AfD und Linke dies im nächsten Bundestag verhindern könnten – ohne Zustimmung einer der beiden Parteien gibt es dann keine Zweidrittelmehrheit mehr. Für eine solche Verfassungsänderung noch in dieser Legislaturperiode müssten wegen rechtlicher Vorgaben noch einmal zwei Plenarwochen eingeplant werden, sagt Meinel.
Frage nach dem Sinn aufgeschriebener Projekte
Doch selbst mit einer solchen Verzögerung könnte ein neuer Kanzler bis Ende März im Amt sein – würden die Parteien von einem Koalitionsvertrag in traditioneller Form absehen. Wäre das ein Schaden? Nicht nach der Erfahrung mit dem akribisch ausgehandelten Koalitionsvertrag von 2021. Wenige Wochen nach der Vereidigung der neuen Regierung überfiel Russland die Ukraine und stellte einen Großteil der aufgeschriebenen Ideen auf den Kopf. Das Regierungsprogramm veränderte sich abermals, als das Bundesverfassungsgericht im Oktober 2023 die Haushaltstricks der Ampelkoalition für rechtswidrig erklärt hatte und die Regierung wieder umschichten musste. Der damalige Finanzminister Christian Lindner sagte später, man hätte nach dem Urteil im Grunde alles neu verhandeln müssen.
Selbst ohne externe Erschütterungen stellt sich die Frage nach dem Sinn vermeintlich klar definierter Koalitionsprojekte. Fast alle wandeln sich im Zuge des legislativen Prozesses. Schon die Kabinettsentwürfe sind Interpretationen des Ursprungstexts. Weitere Veränderungen ergeben sich in den parlamentarischen Beratungen; so manches verabredete Vorzeigevorhaben, darunter das sogenannte Demokratiefördergesetz oder die Kindergrundsicherung, wurde in den Ausschüssen endgültig versenkt. Dafür brachten die Koalitionäre Initiativen auf den Weg, die nicht vertraglich vereinbart, sondern von politischen Entwicklungen diktiert waren: vom Sondervermögen für die Bundeswehr bis zu den Grenzkontrollen. Die bleibenden Hinterlassenschaften der Ampelkoalition waren ad hoc verabredet und nicht Teil der 177 Vertragsseiten.
Deutschland brauche jetzt „eine Regierung, die nicht verwaltet, sondern regiert“, sagt Rödder und sieht „die Antwort auf 177 Seiten Koalitionsvertrag nicht in 20 Seiten, sondern eher in drei“. Das klingt radikal – dabei könnten auch drei Sätze genügen: Die Bundesregierung wird das Land in den Zustand der Wehrfähigkeit zurückversetzen. Sie wird die unkontrollierte Migration stoppen und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Details werden in der ersten Regierungserklärung bekannt gegeben.