Wolodymyr Selenskyj redet nicht lange um den heißen Brei herum. Dem ukrainischen Präsidenten sitzt am Montagvormittag in seinem Palast der Mann gegenüber, mit dem er möglicherweise schon bald existenzielle Belange seines Landes klären muss. Friedrich Merz ist über Nacht mit dem Zug nach Kiew gereist und will nach zweieinhalb Jahren mal wieder in dem von Russland überfallenen Land selbst erfahren, wie die Lage ist.
Der persönliche Eindruck sei durch nichts zu ersetzen, ist die Devise des Kanzlerkandidaten der Union. Ausweislich der Umfragen hat er gute Aussichten, bald der nächste deutsche Regierungschef zu werden. Also sagt ihm Selenskyj nach den üblichen Dankesworten an die Adresse Berlins, was er noch will. Und schon taucht das Wort Taurus auf.
Beide Gesprächspartner sind sich über das Ziel einig, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine beendet werden müsse. Mehr als jeder andere auf der Welt wolle die Ukraine das, sagt Selenskyj. Am liebsten mit diplomatischen Mitteln. Doch der russische Präsident Wladimir Putin wolle den Krieg nicht beenden, fügt er hinzu. Deswegen wirbt er für militärische Stärke seines Landes. Dafür sei neben den britischen und französischen Waffen mit großer Reichweite der deutsche Marschflugkörper Taurus wichtig für die Ukraine.
Wo Scholz für einmal schneller war
Selenskyj dürfte nicht damit gerechnet haben, dass Merz den ersten deutschen Marschflugkörper gleich im Reisegepäck mitgebracht hat. Vielmehr muss er sich damit begnügen, dass Merz ihm sagt, er – Selenskyj – kenne seine Position dazu. Die Ukraine müsse in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen. Merz sagt schon lange, dass er bereit wäre, den deutschen Marschflugkörper für den Einsatz gegen militärische Ziele in Russland zu liefern, sollte Moskau nicht mit der Zerstörung ziviler Infrastruktur aufhören. Nur hatte seine Position dazu zuletzt nicht mehr ganz so eindeutig geklungen wie in früheren Aussagen. Das könnte auch mit dem Wahlkampf zu tun haben – und mit Angriffen des Bundeskanzlers.
Dieses Mal hat Olaf Scholz den Wettlauf nach Kiew gegen Merz gewonnen. Der Kanzler war genau eine Woche vor seinem Herausforderer in die Ukraine gereist. Kurz nach Kriegsbeginn war die Reihenfolge noch anders gewesen. Scholz hatte zwar im Frühjahr 2022 öffentlich unter Druck gestanden, endlich die Ukraine durch seinen Besuch der deutschen Solidarität zu versichern. Durch die Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier waren ihm jedoch die Hände zunächst gebunden. In diese Lücke stieß damals Merz und reiste in die ukrainische Hauptstadt.
![Friedrich Merz am Montag an der Mauer des Gedenkens für gefallene Soldaten in Kiew Friedrich Merz am Montag an der Mauer des Gedenkens für gefallene Soldaten in Kiew](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2024/12/Merz-in-der-Ukraine-Ausenpolitischer-Wettlauf-gegen-Scholz.jpg)
Dieses Mal also nach Scholz. Der Montag in Kiew ist nasskalt, der Himmel am Morgen nebelverhangen, später grau. Nach der Ankunft in Kiew geht Merz zum Michaelplatz zu einer Kranzniederlegung, um der im Kampf gegen Russland gefallenen Soldaten zu gedenken. Er macht das zusammen mit Kristen Michal, dem estnischen Ministerpräsidenten. Eine kurze Begegnung, aber vielleicht doch eine wichtige. Merz, so wird es in seiner Umgebung dargestellt, will zeigen, wie wichtig ihm der Kontakt auch zu den kleineren europäischen Staaten ist. Die beiden laufen zwischen ausgebrannten, zerstörten Fahrzeugen hindurch, die das Grauen des Krieges dokumentieren.
Dass es wieder zu einem Wettlauf nach Kiew gekommen ist, hat auch mit dem Wahlkampf in Deutschland zu tun. Zum ersten Mal seit langer Zeit zeichnet sich ab, dass die Außen- und Sicherheitspolitik eine wichtige Rolle spielen dürfte bei der Wahlentscheidung der Deutschen am 23. Februar. Also wird nicht nur der Ukraine-Kurs des Kanzlers genau geprüft, sondern auch jener des aussichtsreichsten Herausforderers.
„Mit der Sicherheit Deutschlands spielt man nicht Russisch Roulette“
Scholz hat diesen Wettbewerb mit einem Knalleffekt eröffnet, nicht nur weil er es vor Merz nach Kiew geschafft hat. Vor allem ist er ihn kurz davor bei einer Wahlkampfveranstaltung hart angegangen. „Mit der Sicherheit Deutschlands spielt man nicht Russisch Roulette“, hatte Scholz ihm entgegengehalten. Es ging um die Lieferung des Taurus.
Dem ging eine lange Debatte um die Taurus-Lieferungen voraus. Es ist eine rote Linie, die Scholz gezogen hat – und sie hat sich keinen Zentimeter verschoben. Zum Leidwesen nicht nur der Ukraine, sondern auch der Union, die schon drei Anträge in den Bundestag eingebracht hat, um eine Lieferung zu fordern. Scholz hält dem eine seiner Standardformeln in diesem Krieg entgegen: Er wolle eine Eskalation vermeiden.
Damit sagt der Kanzler im Umkehrschluss, dass alle anderen eine Eskalation riskieren. Oder eben, „Russisch Roulette“ spielen. Scholz bezog sich mit dem Vorwurf offensichtlich auf eine Rede von Merz im Bundestag am 16. Oktober: Da war die Ampelkoalition noch zusammen und Wahlen weit weg. Merz hatte dem Kanzler vorgeworfen, mit seiner Haltung dafür verantwortlich zu sein, dass die Ukraine „gegen Putin mit einer Hand auf dem Rücken kämpfen muss“.
Ein Ultimatum an Putin?
Er schlug Scholz vor, dieser möge Putin sagen, dass man die Zerstörung ziviler Infrastruktur der Ukraine nicht weiter hinnehme. Sollte Putin damit fortfahren, werde in großer Übereinstimmung in Europa entschieden werden, dass man Reichweitenbegrenzungen für gelieferte Waffen aufhebe. Sollte Putin weitermachen, so sagte Merz, müsse ihm im nächsten Schritt gesagt werden: „Wenn er nicht innerhalb von 24 Stunden aufhört, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland Taurus-Marschflugkörper geliefert werden, um die Nachschubwege zu zerstören, die dieses Regime nutzt, um die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu schädigen und zu bombardieren.“
Als Scholz daraus bei seinem Wahlkampfauftritt schloss, Merz wolle, dass man der Nuklearmacht Russland ein Ultimatum stelle, fühlte der CDU-Vorsitzende sich missverstanden. Zu keinem Zeitpunkt habe er Putin ein Ultimatum gestellt, sagte er am vorigen Dienstag. Er habe den Vorschlag gemacht, der Ukraine Handlungsoptionen in die Hand zu geben, um Einfluss zu nehmen auf das Kriegsgeschehen. „Im Sinne eines Waffenstillstandes und eines Schweigens der Waffen.“ Ein Ultimatum kann Merz in seiner Position auch gar nicht stellen. Nur klangen seine Aussagen mindestens mal nach dem Plan dafür.
Friedrich Merz hatte 2002 den Vorsitz der Unionsfraktion im Bundestag an Angela Merkel abgeben müssen, weil diese sich vor ihm die erforderliche Mehrheit organisiert hatte. Seit seinem dadurch erzwungenen Rückzug in die zweite Reihe der Bundespolitik, spätestens aber mit dem Ausscheiden aus dem Bundestag 2009 war er vielen seiner Anhänger schon deswegen als Sehnsuchtsfigur erhalten geblieben. Sie verbanden Merz mit Entscheidungen nach dem Motto „klare Kante“, während Kanzlerin Merkel ständig gezwungen war, mit ihren Koalitionspartnern Kompromisse zu finden oder nicht zuletzt auf Druck aus der Union ihre Haltung zu ändern.
Seit Adenauer sieht sich die CDU auf der richtigen Seite der Geschichte
Doch wie schwierig die „klare Kante“ ist, wenn man in der Gesamtverantwortung für die Partei ist oder diese als Kanzlerkandidat sogar für das Land anstrebt, wurde schnell klar. Je weiter er aufsteigt, desto mehr muss auch Merz balancieren. Er verwendet dann bisweilen die Formulierung von der „zweitbesten Lösung“.
Auch außenpolitisch bemühte Merz den Begriff schon. Im Frühjahr dieses Jahres schlug London vor, die Bedenken Berlins gegen eine Taurus-Lieferung mit einem Ringtausch zu umgehen. Großbritannien solle die deutschen Marschflugkörper bekommen und dafür der Ukraine die eigenen Marschflugkörper Storm Shadow geben. Merz sagte: „Das mag die zweitbeste Lösung sein, um das Ziel zu erreichen – besonders ehrenhaft ist das nicht.“ Als er sich wenige Wochen nach Putins Angriff auf die Ukraine dafür aussprach, nicht länger russisches Gas durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 zu beziehen, relativierte er diesen harten Kurs mit dem Vorschlag, russisches Gas über andere Leitungen zu beziehen.
Als Kanzlerkandidat ist Merz außenpolitisch schon kurz vor seiner Kiew-Reise grundsätzlich geworden. Vergangenen Mittwoch sprach er in Berlin in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er würde für seine Partei beanspruchen, sagte er, dass man seit 1949 „an den entscheidenden Wegmarken unserer Sicherheitspolitik immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden“ habe. Man wisse, dass wieder Richtungsentscheidungen anstünden. Für Deutschland und Europa wolle er starke Streitkräfte, eine starke Zivilverteidigung und eine krisenfeste Infrastruktur.
Merz trug ein paar Punkte vor, die er umsetzen wolle: eine allgemeine Dienstpflicht soll eingeführt, ein im Kanzleramt angesiedelter Sicherheitsrat geschaffen werden. Und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO sei nur als Untergrenze zu verstehen. Das Telefonat von Scholz mit Putin kritisierte er. Und ebenso wichtig zur Unterscheidung vom Kanzler: „Wir wollen keinen Frieden in Unterwerfung vor einer imperialistischen Macht.“ Das bedeute für die Ukraine: „Sie muss den Krieg gewinnen, und Russland muss den Krieg verlieren.“ Der Kanzler sagt konsequent seit Kriegsbeginn, die Ukraine dürfe nicht verlieren, Russland nicht gewinnen.
Wie nah sind sich Merz und die Grünen in der Außenpolitik tatsächlich?
Da ist Merz im Ton nah bei den Grünen. In der Außen- und Sicherheitspolitik gebe es „mit den Grünen mehr Gemeinsamkeiten als mit der SPD“, hatte er schon geäußert. Allerdings ist fraglich, ob das auch für die Details gilt. Das fängt schon bei dem Weg an, wie die Grünen all das finanzieren wollen: die Reform der Schuldenbremse. Wenn es um Israel geht und den Versuch der Bundesregierung, die Balance zwischen Staatsräson und Völkerrecht zu halten, wird es auch komplizierter.
Während bei den Grünen das Pendel auch mit Blick auf die humanitäre Not im Gazastreifen etwas mehr Richtung Völkerrecht auszuschlagen scheint, haben die empörten Reaktionen aus der Union auf den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gezeigt, dass für sie die Staatsräson Vorrang hat.
Für die Ukraine entscheidend wird noch eine andere Frage – und bei der bewegen sich die CDU und ihr Vorsitzender im Ungefähren: Wie hält man es mit der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine? Bislang bremsen Berlin und Washington. Zugleich verlangt die Ukraine nach belastbaren Sicherheitsgarantien, einer NATO-Einladung für das ganze Land und mindestens dem Schutz für die Gebiete, die man kontrolliert.
Bei seiner Rede in der Bundesakademie sagte Merz, gewinnen heiße für ihn die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und die vollständige „Freiheit der Wahl ihrer politischen und gegebenenfalls auch militärischen Bündnisse“. Alternativ wird diskutiert, wie eine Friedenstruppe die Ukraine sichern könnte. Als Merz danach gefragt wurde, wie er es bewerte, dass Außenministerin Annalena Baerbock eine deutsche Beteiligung daran nicht ausschließen wollte, sagte er, solche Spekulationen halte er zum jetzigen Zeitpunkt für unverantwortlich. Ganz ähnlich hatte der Kanzler darauf reagiert.
Programm steht dem des Kanzlers in nichts
Im Kiew bekräftigt Selenskyj den Wunsch einer NATO-Mitgliedschaft seines Landes. Offenbar macht er sich Hoffnungen, im Gespräch mit dem scheidenden US-Präsidenten Joe Biden noch einen Schritt weiterzukommen. Mit dessen Nachfolger Donald Trump habe das derzeit nicht so viel Sinn, sagt er. Allerdings brauche man für die Zeit zwischen einer Einladung, Mitglied der Allianz zu werden, und der Mitgliedschaft Sicherheitsgarantien. Bei diesem Thema ist Merz allerdings weit weniger konkret als bei seinen Forderungen zum Taurus.
Einig sind sich Selenskyj und Merz dabei, dass es eine Kontaktgruppe europäischer Staaten zur Ukraine geben solle. Das ist vor allem für den Fall gedacht, dass Amerika unter Trump die Ukrainehilfe kürzen oder beenden sollte. Merz hat diesen Vorschlag schon mehrfach gemacht und dabei neben Deutschland die Länder Frankreich, Polen und Großbritannien erwähnt. Selenskyj sagt, er plane ein erstes Treffen noch in diesem Jahr. Auch Dänemark soll seinem Wunsch zufolge mitmachen. Merz hätte wohl nichts dagegen.
Das Programm des Kanzlerkandidaten ist so dicht, dass es dem eines Kanzlers in nichts nachsteht. Die Kolonne mit den gepanzerten Fahrzeugen rast durch die Stadt und auch einmal hinaus zu einem im Krieg zerstörten Kraftwerk. Das Interesse am Gespräch mit Merz ist groß. Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk trifft ihn, ebenso Ministerpräsident Denys Schmyhal. Am Abend geht es wieder zurück mit dem Zug. Allerdings fliegt Merz danach nicht wie Scholz gleich wieder nach Berlin. Er hat noch einen Halt in Warschau eingeplant. Dort trifft er Ministerpräsident Donald Tusk.