Wenn die Beiträge und die Steuerzuschüsse an die Sozialkassen stark steigen, ist das ökonomisch nicht gut, denn es bremst die Wirtschaft. Damit aber nicht genug: Es stößt irgendwann sogar an verfassungsrechtliche Grenzen – und die sind womöglich nicht mehr fern, wie nun ein Gutachten des Staats- und Finanzrechtlers Gregor Kirchhof zeigt.
Steuere die Sozialversicherung durch den demographischen Wandels absehbar auf eine Krise zu, sei der Gesetzgeber zu vorausschauenden Kursänderungen verpflichtet, legt Kirchhof in der Analyse für den Verband „Die Familienunternehmer“ dar.
Grundgesetz zwingt zu Reform der Sozialversicherung
Kranken-, Pflege und Rentenversicherung seien heute als Fundament des Sozialstaats anzusehen, das nicht erodieren dürfe, betont der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanzrecht und Steuerrecht der Universität Augsburg. „Das Grundgesetz fordert, die umlagefinanzierten Sozialsysteme zu erhalten.“
Näherten sie sich einem „demographischen Kipppunkt“, an dem ihre Leistungsfähigkeit infrage stehe, sei daher festzustellen: „Das Grundgesetz verbietet dem Staat, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen. Es verpflichtet den Gesetzgeber, die Versicherungen zeitnah grundlegend zu reformieren und eigenständig zu finanzieren.“
Baby-Boomer gehen in Rente: Sozialabgaben von mehr als 50 Prozent möglich
Hintergrund sind Berechnungen, denen zufolge die Sozialbeiträge schon in zehn Jahren die Schwelle von 50 Prozent des Bruttolohns überschreiten, weil mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge die Gruppe der Leistungsbezieher stark wächst und die der Beitragszahler schrumpft.
In einem früheren Gutachten für die Familienunternehmer hatten die Ökonomen Stefan Fetzer und Christian Hagist daraus die Warnung vor einem „Kipppunkt“ abgeleitet: Eine zu hohe Abgabenlast treibe Menschen in Schwarzarbeit oder zum Auswandern und setze einen Teufelskreis in Gang – je weniger Zahler es dadurch gebe, desto höhere Beitragssätze seien nötig.
Angemessenes Verhältnis von Beiträgen und Leistungen
Kirchhof, liefert eine grundrechtliche und eine finanzverfassungsrechtliche Analyse. Im Mittelpunkt der ersten steht das Sozialstaatsgebot, das zu jeder Zeit einzuhalten sei. Die Höhe von Beiträgen und Leistungen für Pflichtversicherten müssten auch in Zukunft in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. „Die Menschenwürde, der soziale Staat, die Gleichheit und die Freiheit in den Systemen sind daher bereits jetzt intertemporal zu schützen“, betont er. Das viel beachtete Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 habe diese Anforderung noch verstärkt.
Zugleich sei zu beachten, dass man Beitragserhöhungen nicht beliebig mittels höherer Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt dämpfen könne. Denn das führe zu einer Kollision mit der Schuldenbremse im Grundgesetz. Zwar klammert diese die Sozialkassen eigentlich aus. Das erlaube aber keine Politik, die mit absehbarer Zwangsläufigkeit riesige zusätzliche Zuschüsse an die Sozialkassen erfordere, betont Kirchhof.
Hier drohe eine „rechtsmissbräuchliche“ Einengung des Budgetrechts des Bundestags. Zur Reform der Sozialkassen kämen etwa mehr Kapitaldeckung und Leistungsbegrenzungen in Betracht, dazu mache das Grundgesetz aber keine näheren Vorgaben.