Im März 1945: Winston Churchill am Niederrhein

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Bei seinen Reisen an die Front legte Churchill jedoch stets Wert darauf, voll arbeitsfähig zu sein. Auch in Montgomerys Hauptquartier am Niederrhein warteten auf den Premierminister stapelweise Briefe und Akten, die man ihm aus London nachgeschickt hatte. Zahlreiche Fernschreiben erreichten Churchill während der drei Tage, darunter am 23. März auch ein – wie sein Privatsekretär festhielt – “bösartiges Telegramm“ des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, „der die Frechheit besaß, am Vorabend unserer möglicherweise kriegsentscheidenden Operation darauf hinzuweisen, dass die Russen die Hauptlast des Kriegs trügen“. Churchill diktierte eine Antwort, verwarf sie, diktierte eine zweite, verwarf auch diese, und entschloss sich, die Sache lieber noch einmal sorgfältig zu überdenken. Nach dem geglückten Durchbruch am Rhein kabelte Churchill am 25. März an Anthony Eden, seinen Außenminister, er verstehe die Angst der Russen, denn die Westalliierten könnten nun die Elbe oder gar Berlin vor den sowjetischen Truppen erreichen. Am Niederrhein hätten er und seine Begleiter jedenfalls einen „vergnüglichen Tag“ gehabt, hieß es in dem Telegramm weiter. „Wir haben den Rhein überquert.“ Zweifellos war es eine große Genugtuung für ihn, „das Ostufer des traditionellen deutschen Verteidigungsriegels betreten zu können“, schrieb Eisenhower in seinen Memoiren. „Vielleicht sah er darin eine für die endgültige Niederlage des Feindes symbolische Handlung – eines Feindes, der England fünf Jahre zuvor an die Wand gedrückt hatte.“

Über eine gerade fertiggestellte Behelfsbrücke fuhr Churchill am 26. März noch einmal ans andere Ufer. Zur Gruppe war nun General Neil Ritchie gestoßen, der seit 1939 im britischen Expeditionscorps unter Brooke gedient hatte. „Ein seltsames Gefühl, zusammen mit dem alten Ritchie am Ostufer des Rheins entlangzufahren und an unseren gemeinsamen Rückzug aus Dünkirchen zu denken“, notierte Brooke in sein Tagebuch. „Ich kann es fast nicht glauben, dass wir nach diesen sechs Jahren endlosen qualvollen Ringens endlich auf der Schwelle zum Ende stehen.“ In einem Buffalo-Schwimmpanzer ließ sich Churchill zurück ans Westufer bringen. Mit Montgomery und Brooke picknickte er in schönstem Frieden, wo wenige Stunden zuvor noch die Front verlaufen war. Um kurz nach 16 Uhr startete die Dakota mit Churchills Reisegesellschaft in Venlo. „Der Premierminister arbeitet in der Maschine, in der es abwechselnd zu heiß und zu kalt war“, notierte sein Privatsekretär. „Nach einem aufregenden Wochenende mit herrlichem Wetter kehrten wir in bester Gesundheit und Gemütslage nach Northolt zurück.“

Bald schon aber sollte sich Churchills Laune drastisch verschlechtern, denn die Sowjetunion hielt sich immer häufiger nicht an Absprachen. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai erfüllte ihn nur mit einem „kurzen Moment der Freude“. Nur vier Tage später schrieb er an den neuen amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman sein – wie er später befand – „bedeutendstes Telegramm“. Die Lage in Europa beunruhige ihn zutiefst. Ein „eiserner Vorhang“ sei vor der russischen Front niedergegangen. „Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht.“

Churchill hoffte, bei der Konferenz von Potsdam werde es ihm gelingen, Josef Stalin Einhalt zu gebieten. Er war überzeugt, dass die weitere Ausdehnung des sowjetischen Einflusses in Ost- und Südosteuropa verhindert werden müsse. Derweil fand in Großbritannien die überfällige Parlamentswahl statt, die sich mehr als drei Wochen hinzog. Die Dreimächtekonferenz war noch nicht zu Ende, als am 26. Juli feststand: Das britische Volk, das Winston Churchill wenige Wochen zuvor auf den Straßen des Vereinigten Königreichs als seinen Kriegshelden, als lebenden Mythos gefeiert hatte – es hatte ihn abgewählt.