Der Weg zu einer europäischen Atombombe

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Drei Tage, drei Ereignisse. Am Freitag, dem 28. Februar, setzte Donald Trump Wolodymyr Selenskyj vor die Tür. Der Präsident der USA war bis dahin der stärkste Verbündete des ukrainischen Präsidenten gewesen. Amerika hatte der Ukraine seit Russlands Überfall immer wieder Beistand versprochen, aber der Eklat im Weißen Haus machte die Versprechen zunichte.

Trump entwertete damit nicht nur Amerikas Zusagen an Kiew. Er schwächte auch das Vertrauen in die NATO, denn Amerikas Zusagen waren Teil eines Hilfsplans, für den das ganze Bündnis gestanden hatte. Schon vorher hatte er erkennen lassen, dass ihm Alliierte egal sind. Er hatte Putin ermuntert, mit unbotmäßigen Verbündeten zu machen, „was immer zur Hölle“ er wolle, und vom NATO-Partner Dänemark fordert er Grönland. Seither ist zweifelhaft, dass man sich auf den NATO-Vertrag mit seinem Beistandsversprechen noch verlassen kann. Auch der Atomschirm, mit dem Amerika Deutschland und andere Alliierte schützt, wirkt plötzlich löchrig.

Am Samstag dann erschienen zwei Interviews. Im ersten sagte der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, der F.A.S., jetzt werde man „die Verteidigung Europas selbst in die Hand nehmen müssen“. Weil Deutschland keine Kernwaffen besitze, werde man mit den Atommächten Frankreich und Britannien über „nukleare Teilhabe“ diskutieren. Im zweiten sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, nun wolle er mit denjenigen Partnern, die keine Atomwaffen hätten, einen strategischen Dialog über nukleare Verteidigung beginnen. „Wir haben einen Schutzschild, sie nicht“, stellte er fest. „Sie können nicht weiter von der nuklearen Abschreckung der USA abhängen.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Am Sonntag dann lud der Regierungschef der zweiten europäischen Atommacht, der britische Premierminister Keir Starmer, zu einem europäischen Gipfeltreffen nach London. Es ging um die Ukraine nach dem Rausschmiss von Washington. Starmer wiederholte einen schon bekannten Vorschlag: Im Falle eines Waffenstillstands müssten europä­ische Staaten Truppen zum Schutz des Friedens stellen. Macron hatte das schon vor einem Jahr ins Gespräch gebracht.

Die Briten haben 200 Atomwaffen, die Franzosen 300

Aber kann Europa ohne Amerika gegen Russland bestehen? Die USA und Russland sind Supermächte mit vielen tausend Atomwaffen. In Europa haben die Briten dagegen nur etwas mehr als 200 Stück, die Franzosen knapp 300. Zur Verteidigung von Partnern sind diese Kräfte nicht gedacht.

Der britische Premierminister Keir Starmer auf der HMS Iron Duke in Tallinn, Estland
Der britische Premierminister Keir Starmer auf der HMS Iron Duke in Tallinn, EstlandPicture Alliance

Mit dem amerikanischen Arsenal ist das anders. Brigadegeneral a.D. Heinrich Fischer, ehemals Kommandeur der deutschen Heeresschulen, hat der F.A.S. erläutert, wie die „erweiterte Abschreckung“ funktioniert, durch welche Amerika bisher nicht nur sich selbst schützte, sondern auch seine Verbündeten. Washington, erläutert der General, hat anders als Paris und London seine Atomwaffen ausdrücklich so aufgestellt, dass sie auch Angriffe auf andere NATO-Länder abschrecken können.

Damit das glaubwürdig ist, stellt es Kernwaffen mit variabler Stärke bereit. Die Bomben der Amerikaner in Deutschland zum Beispiel haben Sprengköpfe von 0,3 bis 45 Kilotonnen Stärke. Zum Vergleich: Die Bombe von Hiroshima hatte 15 Kilotonnen. Durch diese Flexibilität kann Washington auf russische Angriffe mit maßgeschneiderten Gegenschlägen reagieren – jeweils stark genug, um abzuschrecken, aber zugleich so begrenzt, dass sie nicht notwendig einen Gegenschlag auf amerikanische Städte provozieren. Amerika müsste nicht „Boston für Berlin“ opfern, wenn es Deutschland schützen wollte. So erst wird die nukleare Garantie glaubwürdig.

Für den Fall der Fälle liegen amerikanische Bomben auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel. Ihre Freigabe zum Einsatz folgt einem „Zwei-Schlüssel-Prinzip“: Im Ernstfall kommt ein Code aus Washington und schaltet die Bomben frei. Dann werden sie unter deutsche Tornado-Bomber gehängt, der Bundeskanzler gibt den Befehl zum Einsatz, und deutsche Piloten steuern sie ins Ziel. So kann keine Seite ohne die Zustimmung der anderen amerikanische Bomben von deutschem Boden aus einsetzen.

Jetzt aber ist Amerikas Schutzversprechen wackelig geworden. Was also geschieht, wenn Moskau sich entschließt, es auf die Probe zu stellen? General Fischer entwirft dafür folgendes Szenario: „Putin könnte im Baltikum mit ,grünen Männchen‘ einmarschieren wie schon 2014 auf der Krim. Wenn dann die NATO mit konventionellen Kräften zu Hilfe kommen wollte, könnte er sagen: Ich habe Iskander-Atomraketen im Gebiet Kaliningrad. Damit kann ich in wenigen Minuten Berlin zerstören. Die NATO könnte dem ohne die Möglichkeit nuklearer Abschreckung nur wenig entgegensetzen.“ Sie müsste klein beigeben. Auch im Falle eines Friedenseinsatzes in der Ukraine könnte jeder teilnehmende Staat solcher Erpressung ausgesetzt sein.

„Das Gleichgewicht des Schreckens ins Ungleichgewicht gerutscht“

Auch Deutschland. Roderich Kiesewetter, Außenpolitiker der CDU, stellt fest, durch „Trumps Aushöhlung der NATO“ sei „das Gleichgewicht des Schreckens ins Ungleichgewicht gerutscht“. Deshalb brauche Europa jetzt einen „gemeinsamen Schirm“. Wenn der nicht komme, könnten europäische Länder, die sich von Russland bedroht fühlten, versuchen, „selbst Nuklearmächte zu werden“. Nur gemeinsam könne man verhindern, dass „weitere Atommächte in Europa“ entstehen.

Emmanuel Macron vor dem französischen U-Boot „Suffren“
Emmanuel Macron vor dem französischen U-Boot „Suffren“ddp

Auch bei SPD und Grünen wird über eine europäische Abschreckung diskutiert. Einige der Führungsfiguren im Bundestag lehnen die Idee ab. Nils Schmid, Obmann der Sozialdemokraten im Auswärtigen Ausschuss, sagt, es gebe „keinen Anlass zu bezweifeln“, dass Amerika seine Partner weiterhin schützt. Abschreckung beruhe darauf, dass man sie nicht infrage stelle, und deshalb seien Debatten „über andere Varianten untunlich“. Auch die Obfrau der Grünen im Verteidigungsausschuss, Sara Nanni, ist skeptisch. Für sie sind die „Grundsätze der Anti-Atom-Bewegung“ nach wie vor „valide“, Europa dürfe keine Waffen haben, „die massiv die Bevölkerung treffen und unsere Umwelt zerstören“. Gegen Moskau schütze man sich viel wirksamer mit konventionellen Waffen und durch „internationale Ächtung“. Kein Staat würde mit Russland noch normale Beziehungen pflegen, wenn es Atomwaffen einsetzen würde. Das reiche zur Abschreckung.

Es gibt auch andere Stimmen. Bei der SPD sagt der scheidende Abgeordnete Wolfgang Hellmich, ein Veteran der Verteidigungspolitik, man müsse jetzt über „europäische atomare Abschreckung“ reden, und auch bei den Grünen hört man solche Töne. Abgeordnete, die so denken, wollen ihre gebeutelte Partei zwar nicht durch offenes Infragestellen alter Gewissheiten zusätzlich belasten, aber intern wird um eine Neupositionierung gerungen. Ein Fraktionsmitglied stellt fest, diese Debatte müsse „jetzt auch in unserer Partei geführt werden“, ein anderes verlangt „kooperative europäische Ansätze eigener nuklearer Kapazitäten“. Noch ein paar weitere denken so, wollen sich aber nicht zitieren lassen.

Wann immer deutsche Politiker mit den Franzosen über Abschreckung sprechen, stoßen sie auf ein Problem: Die französische Nukleardoktrin ist wie die britische strikt national, und anders als bei den Amerikanern gibt es keine Waffen, die geeignet wären, auch Verbündete zu schützen. Es gibt drei Schwierigkeiten: Erstens haben Franzosen und Briten gerade nur so viele Bomben, dass es für eine „minimale“ Abschreckung reicht. Beide haben vier Atom-U-Boote, von denen aber immer nur eines im Einsatz ist. Die anderen werden gewartet oder dienen dem Training. Frankreich hat außerdem noch 50 nuklearfähige Rafale-Bomber.

Eine französische oder britische Vergeltungsdrohung wäre nicht glaubwürdig

Die zweite Schwierigkeit wirkt erst mal paradox: Die Bomben der Franzosen und Briten sind zu groß. General Fischer erklärt das so: Jeder französische oder britische Sprengkopf ist siebenmal so stark wie die Bombe von Hiroshima. Diese höllischen Waffen sind dazu gedacht, „existenziell gefährliche Angriffe auf das eigene Land in extremen Notfällen durch die Drohung eines vernichtenden Gegenschlages abzuschrecken“. Wer so starke Waffen zum Schutz von Verbündeten einsetze, müsse mit einem Gegenschlag auf die eigene Hauptstadt rechnen. „Das ist nicht glaubwürdig“, sagt Fischer. Folgerung: Die Abschreckung, die Frankreich und Großbritannien für ihre Partner leisten könnten, ist „nicht hinreichend“.

Wladimir Putin im Cockpit eines Hubschraubers beim Besuch einer Flugakademie in Torschok, Region Twer
Wladimir Putin im Cockpit eines Hubschraubers beim Besuch einer Flugakademie in Torschok, Region Twerdpa

Kiesewetter sagt deshalb, Europa brauche „taktische“, also kleinere Atomwaffen, wenn es gemeinsame Abschreckung wolle. Und es müsse mit Frankreich oder Britannien, die ihre Atomstreitkräfte heute strikt national führen, Methoden für gemeinsame Einsatzentscheidungen schaffen. Das dürfte schwer werden, vor allem in Frankreich gilt, dass Abschreckung nur glaubwürdig sei, wenn der Präsident im nationalen Interesse entscheide. Kiesewetter hofft, am Ende werde man sich am „Zwei-Schlüssel-System“ orientieren, das sich mit Amerika bewährt habe. Auch der Sozialdemokrat Hellmich denkt so.

Die zweite Kniffeligkeit: Im Fall einer Zwei-Schlüssel-Lösung könnten zwar deutsche Flugzeuge eines Tages französische Atombomben tragen, aber die deutschen Tornados sind dafür nicht ausgelegt, und die gerade für viele Milliarden Euro neu bestellten amerikanischen Tarnkappenbomber des Typs F-35 auch nicht. Für französische Fliegerbomben müssten sie durch französische Rafale ersetzt werden.

Es gäbe noch eine andere Lösung: Französische oder britische Atomsprengköpfe könnten nach dem Zwei-Schlüssel-Prinzip von deutschen U-Booten starten. Kiesewetter weist darauf hin, dass die passenden Schiffe schon existieren: U-Boote der „Dolphin“-Klasse von Thyssenkrupp Marine Systems und den Nordseewerken in Emden. Die werden seit Jahren nach Israel exportiert, und es gilt als offenes Geheimnis, dass sie dort nukleare Marschflugkörper tragen.

Europa bräuchte fünf bis zehn Jahre Zeit

Das dritte Problem ist die Zeit. Macron hat geschätzt, für eine europäische Verteidigung seien fünf bis zehn Jahre nötig. Russland aber könnte jetzt schon seinen nuklearen Druck weiter steigern, und Amerika wackelt. Europa muss einen Gefahrenkorridor durchlaufen, in dem seine Abschreckung noch nicht steht.

Macron auf dem Atom-U-Boot „Suffren“
Macron auf dem Atom-U-Boot „Suffren“AFP

Und manche glauben: Das ist möglich. Karl-Heinz Kamp von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zum Beispiel. „Ohne Amerika ist Europa nicht gleich verloren“, sagt er. Mit Paris und London habe man jetzt schon eine „Restabschreckung“. Frankreichs Atomwaffen seien zwar nur zum eigenen Schutz gedacht, aber Paris habe schon oft signalisiert: „Wenn Europas vitale Interessen betroffen sind, sind auch unsere vitalen Interessen betroffen.“ Weil aber Abschreckung „im Kopf des Gegners“ passiere, müsse man Putin zeigen, dass man es ernst meine. „Nuclear Signalling“ sei ein Kernelement von Abschreckung, und hier könne jetzt schon viel geschehen.

Jedes Wort ist wichtig. Dass Macrons Vorschlag eines strategischen Nuklear-Dialogs beim EU-Gipfel am Donnerstag begrüßt wurde, wird Moskau notiert haben. Als Nächstes, meint Kamp, müsse über nukleare Planung gesprochen werden. Die NATO tut das längst, Europa nicht. Dabei sei das „heute schon“ mit Paris und London möglich.

Ein weiterer Schritt kann schnell vorbereitet werden: Kamp weist darauf hin, dass es zwei Länder gibt, die über Jahre auf Amerikas Schutz vertraut haben, obwohl sie keine nukleare Teilhabe und keine amerikanischen Waffen im Land gehabt hätten: Japan und Südkorea. Diese Länder hätten ein anderes Pfand der Treue besessen: US-Truppen auf ihrem Gebiet. Deshalb, sagt Kamp, hatten sie nie ein Problem mit der „Glaubwürdigkeit“ des amerikanischen Schutzes. Folgerung: Europas Abschreckung wird umso stärker, „je mehr Truppen Frankreich und Großbritannien an der Ostflanke der NATO aufstellen“.