Es erstaunt, auf welche Ideen manche Kritiker des CDU-Vorsitzenden in diesen Tagen kommen. Friedrich Merz habe der SPD zu sehr nachgegeben, womöglich die Traditionen der Christdemokratie verraten, werfen ihm Skeptiker aus den eigenen Reihen und manche Beobachter von außen vor. Und das bloß, weil er den Weg für Rüstungskredite in unbegrenzter Höhe frei gemacht hat und zugleich für Investitionen in die Infrastruktur eine halbe Billion Euro an neuen Schulden aufnehmen will. Zusammen dürfte das mindestens eine ganze Billion ergeben.
Es erfordert einen Mangel an Geschichtskenntnis, um ein solches Ausgabenprogramm „sozialdemokratisch“ zu nennen. Kein SPD-Kanzler der bundesdeutschen Geschichte hat sich einen solchen Kraftakt jemals zugetraut, weder Willy Brandt noch Helmut Schmidt, weder Gerhard Schröder noch Olaf Scholz. Schmidt vertrat in der Wirtschaftsflaute der späten 1970er-Jahre zwar die Ansicht, fünf Prozent Inflation seien besser als fünf Prozent Arbeitslosigkeit, und er rechtfertigte damit lange Zeit eine relativ lockere Ausgabenpolitik. Da ging es allerdings um langsam steigende Defizite, nicht um den einen großen Aufschlag. Auch rief Schmidt zwischenzeitlich dazu auf, den Gürtel doch bitte enger zu schnallen.
„Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, verlangte Schröder in seiner Agenda-Rede vom 14. März 2003: ein Satz, wie ihn ein CDU-Kanzler nie hätte sagen können, ohne in einem Sturm der Entrüstung unterzugehen. Olaf Scholz wiederum rang im Streit mit der FDP um Ausnahmen von der Schuldenbremse am Schluss um einstellige, maximal geringe zweistellige Milliardenbeträge. Von einer Billion zu sprechen, hätte ein sozialdemokratischer Regierungschef nie gewagt: Es wäre gesagt worden, er könne nicht mit Geld umgehen.
Kohls teure Entscheidungen
Was Scholz in seiner Zeit als Finanzminister einen „Wumms“ oder eine „Bazooka“ nannte, also das Lösen eines politischen Problems durch größtmöglichen Geldeinsatz: Das war in der Geschichte der Bundesrepublik die Domäne der christdemokratischen Kanzler, vor allem der drei Langzeitregenten Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel.

Am weitesten trieb es Kohl. Der Pfälzer war überzeugt, nahezu jedes politische Problem lasse sich mit „Bimbes“ lösen, also mit Geld. In dieser Ausdrucksweise schwang stets auch die Haltung mit, dass es am Ende höhere politische Ziele gebe, für die sich der Einsatz des im Wortsinn schnöden Mammons allemal lohne.
Das betraf vor allem den großen historischen Wendepunkt in der Mitte von Kohls Amtszeit, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Um ungefähr eine Billion D-Mark stiegen die Schulden des Bundes im Zuge dieses Prozesses bis Mitte der 1990er-Jahre, was ungefähr den Verbindlichkeiten entsprach, die sich die Republik in den vorausgegangenen 40 Jahren ihrer Existenz aufgebürdet hatte; weitere Kosten kamen später hinzu. Kohl war 1990 davon überzeugt, dass er angesichts der volatilen internationalen Lage der Ansicht, dass er ohne Rücksicht auf ökonomische Verluste den Mantel der Geschichte ergreifen müsse, die zunehmend chaotischen Verhältnisse in der untergehenden DDR ließen im Grunde auch keine Wahl – ähnlich wie die weltpolitische Wende auch heute.
Weil die Geburtenrate erst von 1965 an zu sinken begann
Anders als seine Nachfolger in diesen Tagen fasste Kohl dazu allerdings nicht den einen großen Beschluss, die Kosten ergaben sich aus den Folgen seiner Entscheidungen: zum einen der politisch alternativlosen schnellen Vereinigung, die ökonomisch enorme Kosten verursachte, und dem anfänglichen Versprechen, die Steuern dafür nicht zu erhöhen. Letzteres revidierte Kohl allerdings mit dem Solidaritätszuschlag, den er offiziell mit jenen 17 Milliarden D-Mark begründete, mit denen sich Deutschland von der Beteiligung am Kuwaitkrieg freikaufte.
Noch sehr viel länger dauerte es, bis der teuerste Entschluss des ersten Kanzlers Konrad Adenauer seine finanziellen Folgen entfaltete: Kurz vor der Bundestagswahl 1957 brachte er eine Rentenreform auf den Weg, die das Wachstum der Altersbezüge fortan an die Lohnentwicklung koppelte und das durchschnittliche Rentenniveau auf einen Schlag um 65 Prozent steigerte. Das brachte ihm nicht nur die einzige absolute Mehrheit ein, die eine Fraktion im Deutschen Bundestag je besaß, es fand auch den breiten Beifall späterer Historiker: Es wäre aus ihrer Sicht politisch fatal gewesen, die Älteren von den Segnungen des Wirtschaftswunders gänzlich auszuschließen.

Anfangs schienen die finanziellen Risiken ohnehin überschaubar zu sein, weil die Geburtenrate erst von 1965 an zu sinken begann und die durchschnittliche Lebenserwartung seinerzeit noch nahe am gesetzlichen Renteneintrittsalter lag. Inzwischen summiert sich der Steuerzuschuss zur Rentenversicherung allerdings auf 116 Milliarden Euro im Jahr, wenn man alle Einzelposten zusammenzählt. Hinzu kommen Beitragseinnahmen von gut 300 Milliarden Euro, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzubringen sind. Summiert man die Kosten der Adenauer’schen Reform über die Jahre auf, wirken die Schuldenpläne des heutigen CDU-Vorsitzenden sehr bescheiden.
Garantien in der Eurokrise
Beträchtliche Ausmaße hatten auch die „Rettungspakete“, die Angela Merkel während der großen Krisen ihrer Amtszeit „schnürte“, wie die Sprachregelung hieß. Nach dem Bankencrash von 2008 stellte sie Garantien von bis zu 480 Milliarden Euro für die notleidenden Institute in Aussicht. Und als die Finanzkrise anderthalb Jahre später auch ganze Staaten erfasste, garantierte sie gemeinsam mit den übrigen EU-Regierungschefs hohe Kredite für die notleidenden Euroländer. Am Ende umfasste der Rettungsschirm ESM stolze 700 Milliarden Euro, von denen 190 Milliarden auf Deutschland entfielen.
Im Unterschied zum Merz-Paket handelte es sich in beiden Fällen um Geld, das Merkel idealerweise gar nicht ausgeben wollte: Es ging um Garantien. Im Fall der Eurokrise wurden sie bisher überhaupt nicht in Anspruch genommen, im Fall der Banken lediglich mit 30 Milliarden Euro. Teuer wurde die Finanzkrise trotzdem, weil die Wirtschaftsleistung im Jahr 2009 um mehr als fünf Prozent zurückging, so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.
Dadurch sanken die Steuereinnahmen, und die Sozialausgaben stiegen: Um 116,5 Milliarden Euro erhöhte sich der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte allein in jenem Jahr. Im Folgejahr kamen, allerdings nach neuer Berechnungsmethode, noch einmal 317 Milliarden Euro hinzu, sodass die Gesamtverschuldung erstmals die Marke von zwei Billionen Euro überschritt.
Merkel senkte Schuldenquote wieder
Allerdings fügte die Merkel-Regierung, die über solche Zahlen selbst erschrak, im Gegenzug jene Schuldenbremse ins Grundgesetz ein, die Merz jetzt aufweichen will – unter tätiger Mithilfe zweier SPD-Politiker: ihres Finanzministers Peer Steinbrück und des Fraktionschefs Peter Struck als Ko-Vorsitzenden der Föderalismuskommission.
In den Folgejahren konnte Merkel gemeinsam mit ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble tatsächlich die Schuldenquote wieder senken, weil die Wirtschaft wuchs und der deutsche Staat für seine Anleihen kaum noch Zinsen zahlen musste. Das änderte sich wiederum mit der Ausbreitung des Coronavirus. Um den Widerstand gegen die Pandemiebeschränkungen zu dämpfen, gab der deutsche Staat so viel Geld für Hilfen an Betroffene aus wie alle anderen EU-Länder zusammen. Ihr Finanzminister Olaf Scholz schöpfte dafür kreative Worte. Den Nachtragshaushalt von 156 Milliarden Euro, den das Kabinett im Frühjahr 2020 beschloss, nannte er eine „Bazooka“, und das Konjunkturpaket von 130 Milliarden Euro, das im Sommer folgte, nannte er einen „Wumms“.
Als er dann selbst Kanzler wurde, waren seine Möglichkeiten begrenzt: nicht bloß, weil die Ausgabenpolitik eines Sozialdemokraten kritischer beäugt wird, sondern auch, weil er die FDP an seiner Seite hatte. Das auf fünf Jahre angelegte Bundeswehrsondervermögen, das er nach dem russischen Überfall auf die Ukraine anschob, hatte bloß ein Volumen von 20 Milliarden Euro im Jahr. Und die umstrittenen Energiepreisbremsen kosteten den Bund im Haushaltsjahr 2023 anders als erwartet nur 31,2 Milliarden Euro, weil die Preise rasch wieder sanken.
So stellt sich Merz anders als vielfach unterstellt mit seinen Billionenschulden durchaus in die Tradition der christdemokratischen Vorgänger, vor allem Helmut Kohls, aber auch Konrad Adenauers und Angela Merkels – im letzteren Fall mit der Einschränkung, dass Merkel den Schuldenstand anschließend auch wieder begrenzte. Gerade dieser überbordende Machtpragmatismus hat die CDU zur dominierenden Regierungspartei der bundesdeutschen Geschichte gemacht – „fähig zur Wende und zu gewagten Sprüngen“, wie die römische Zeitung „La Repubblica“ am Ende der Eurokrise anerkennend über Angela Merkel schrieb.