Vance ist für die Kirchen eine Warnung

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Für diesen kühnen Brückenschlag musste wohl erst ein J.D. Vance ins Weiße Haus einziehen: Der amerikanische Vizepräsident, der 2019 zum Katholizismus konvertierte, erklärt die America-first-Strategie kurzerhand zu einem Stufenplan der Nächstenliebe. Und den aus dem vierten Jahrhundert stammenden Kirchenvater Augustinus bemüht er, um die brachiale Mi­grationspolitik Donald Trumps zu rechtfertigen. So weit war selbst Trump noch nicht gegangen. Der behauptet zwar, Gott, Liebe und Religion stünden ganz oben auf seiner Liste der Lieblingswörter, noch vor dem Begriff Zölle. Aber auch in transzendentalen Belangen redet der amerikanische Präsident meist wirres Zeug.

Trumps Vizepräsident versucht nun offenbar, auch ein nicht evangelikales Publikum davon zu überzeugen, dass sein Präsident nichts anderes mache, als die christliche Soziallehre anzuwenden. Und im Gegensatz zu Trump kann man Vance eine religiöse Grundbildung nicht absprechen.

Aus dem Recht des Stärkeren wird die „Ordnung der Liebe“

„America first“ ist in seiner Lesart nur ein anderes Wort für „ordo amoris“. Englisch wird zu Latein, aus dem Recht des Stärkeren wird eine „Ordnung der Liebe“, aus einer politischen Agenda spätantike Theologie. In beiden Fällen soll es laut Vance um das Gleiche gehen: „Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft, und dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land.“ Und erst dann könne man sich um den Rest der Welt kümmern. Der Linken wirft Vance vor, diese Reihenfolge auf den Kopf gestellt zu haben.

Der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance spricht Ende Februar während des National Catholic Prayer Breakfast in Washington.
Der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance spricht Ende Februar während des National Catholic Prayer Breakfast in Washington.Imago

Man muss kein Spezialist sein, um zu durchschauen, dass Augustinus kaum den Titel Kirchenvater verdient hätte, wenn seine Lehre so simpel wäre, wie Vance suggeriert. Aber die Anwendung dieses theologischen Konzeptes auf die Migrationspolitik in anderen Kontexten ist durchaus nicht völlig abwegig. So berief sich der katholische Philosoph Robert Spaemann 2016 auf den „ordo amoris“, um eine bevorzugte Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus Syrien gegenüber muslimischen zu begründen, sofern die Aufnahmekapazitäten nicht mehr für alle Migranten ausreichen sollten. Vereinzelt stellten auch andere deutschsprachige Theologen ähnliche Überlegungen an.

Der Papst ist ausgewichen

In Vances Fall hatte Papst Franziskus allen Grund, zu widersprechen und auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu verweisen. Dessen Pointe besteht ja gerade darin, dass der „Nächste“ eben kein statischer Begriff ist, der sich allein durch familiäre, freundschaftliche oder landsmannschaftliche Bande definiert. Der Nächste kann potentiell jeder sein. Aber mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter lässt sich ebenso wenig Politik machen wie mit der Bergpredigt.

Vance hat durchaus einen wunden Punkt getroffen: Kann man als Christ für eine deutliche Begrenzung der Migration sein, weil das Gemeinwesen an die Grenzen seiner Belastbarkeit gekommen ist und der Zusammenhalt in Gefahr sein könnte? Kann die Nächstenliebe zu den Familienmitgliedern, Nachbarn und Landsleuten in ein Konkurrenzverhältnis treten zur Nächstenliebe für Migranten? Oder ist eine solche Abwägung schon per se unchristlich? Mit dem früheren Bundespräsidenten und evangelischen Pastor Joachim Gauck gesprochen: Was folgt für Gläubige aus der Einsicht, dass ihr Herz weit ist, doch ihre Möglichkeiten endlich?

Der Papst ist dieser Frage in seiner Antwort auf Vance ausgewichen. Das kann man ihm nicht verdenken. Es ist nicht Aufgabe des Nachfolgers des Apostels Petrus, in vorderster Reihe auf die Grenzen der Aufnahmefähigkeit für Migranten aufmerksam zu machen. Die beiden großen Kirchen in Deutschland aber müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie den Eindruck erwecken, als sei es schon unchristlich, überhaupt nur über eine Begrenzung der Migration nachzudenken. Sie erklären jede Abwägung in einem Ton moralischer Überlegenheit für verwerflich.

Dabei legen ihre Repräsentanten in anderen Zusammenhängen, etwa Ehe und Familie, Wert darauf, keine Moralagentur zu sein. Und man kann durchaus skeptisch sein gegenüber theologischen Konzepten in der Politik. Aber nur auf parteipolitischer Ebene zu argumentieren, wie es die Repräsentanten der beiden großen Kirchen im Streit mit der Union über die Migrationspolitik tun, hilft keinem Christen weiter, der sich in einem Gewissenskonflikt sieht. Dabei sollte es den Kirchen zu denken geben, dass unter Gottesdienstbesuchern kaum weniger AfD-Wähler sind als im Durchschnitt.

Vances Versuch, die Deutungshoheit über die christliche Nächstenliebe zu erlangen, sollte ein Warnsignal für die Kirchen hierzulande sein. Wenn sie weiter alle in den Beichtstuhl schicken, die eine Begrenzung der Migration fordern, dann könnte es sein, dass das Evangelium nach Donald Trump auch in Deutschland zum Bestseller wird, in der AfD-Einheitsübersetzung.