Die neue syrische Führung gab sich alle Mühe, das Echo auf das Morden zu dämpfen. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa sagte während eines Auftritts in einer Moschee in Damaskus, die Gewalt in der Küstenregion bewege sich „im Rahmen der erwarteten Herausforderungen“. Die Syrer seien in der Lage, friedlich zusammenzuleben.
Der Gouverneur der Provinz Latakia, die wie die Provinz Tartus von Kämpfen und willkürlichen Morden erschüttert wurde, begab sich auf eine volksnahe Inspektionstour, schüttelte Hände, versuchte, die Leute zu beruhigen. Doch die Zahlen und die Berichte über die Gräueltaten gegen unschuldige Zivilisten, die am Wochenende kursierten, ließen erkennen, dass die Gewalt gegen die alawitische Minderheit in atemberaubender Geschwindigkeit außer Kontrolle geraten ist.
Die in Großbritannien ansässige „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“, die sich auf ein Netz örtlicher Quellen stützt, meldete am Samstag mehr als 1000 Tote, unter ihnen mehr als 700 Zivilisten. Auch private Initiativen haben Listen mit Hunderten Namen getöteter Zivilisten zusammengestellt. Videos, deren Echtheit nicht unabhängig bestätigt wurde, zeugten von Erschießungen wehrloser Menschen. Eines zeigte, wie sich Dutzende männliche Leichname auf der Straße stapelten. Die Aufnahmen ähnelten Schreckensberichten aus örtlichen Quellen in der Region. Und auch am Sonntag dauerten die Angriffe auf Zivilisten an, die Gewalt breitete sich weiter ins Landesinnere aus.
Angst, Misstrauen und Hass unter den Alawiten
Im Kern des Mordens steht ein Gegensatz, den sich das gestürzte Assad-Regime über Jahrzehnte zunutze gemacht hatte, um seine Herrschaft zu sichern: Jener zwischen den Alawiten, zu denen der Assad-Clan gehörte, und auf deren Gefolgschaft er sich maßgeblich stützte, und der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, zu der die neuen Herrscher über Syrien gehören. Das Küstenland ist alawitisches Kernland. Hier hatten Anhänger des gestürzten Assad-Regimes die Gewalt mit koordinierten Angriffen auf die Sicherheitskräfte der neuen Führung entfesselt.
Eine Gruppe, die sich „Militärischer Rat zur Befreiung Syriens“ nennt, veröffentlichte am Donnerstag eine Stellungnahme, in der sie den Sturz des „dschihadistischen Regimes“ ankündigte. Die Gruppe wird von einem ehemaligen Kommandeur der 4. Division angeführt, einer für ihre Brutalität und kriminellen Machenschaften berüchtigten Armee-Einheit, die einst von Baschar al-Assads Bruder Maher geführt wurde. Dass Milizionäre unter dem Banner der neuen Regierung danach nicht nur ein Zeichen der Stärke gegenüber den Aufständischen setzten, sondern Blutbäder an der alawitischen Bevölkerung anrichteten, spielt den Assad-Getreuen in die Hände. Denn Angst, Misstrauen und Hass unter den Alawiten haben noch einmal drastisch zugenommen.
Viele Angehörige der Minderheit hatten sich über den Sturz des Assad-Regimes gefreut, zu dem die Alawiten ein gespaltenes Verhältnis hatten. Zum einen war ihnen eingebläut worden, dass nur die Assads sie vor den Sunniten beschützen können. Alawiten saßen an Schaltstellen in Militär und Geheimdienst, Folterknechte und Wärter wurden in der Regel aus den Reihen der Minderheit rekrutiert. Zugleich waren die allermeisten Alawiten verarmte Geiseln des Assad-Regimes, das junge Männer als Kanonenfutter verheizte, um seine Herrschaft zu sichern. Die Erleichterung schlug vielerorts allerdings schnell in Angst um. Immer wieder gab es gewalttätige Racheakte, die von der Regierung stillschweigend geduldet wurden. Weil viele Alawiten für die alte Regierung gearbeitet hatten, stehen sie jetzt auch wirtschaftlich unter enormem Überlebensdruck.
An der Grenze zwischen Hoffnung und Angst
Wie stark sich die Stimmung in der Bevölkerungsgruppe verändert hat, zeigt sich an den Worten eines Vertreters einer der prominenten alawitischen Familien. Er hatte den Sturz Assads gefeiert, hatte unter seinen Leuten für Vertrauen in die neuen Machthaber geworben. Während eines Treffens im vergangenen Dezember sagte er: „Wir leben an der Grenze zwischen Hoffnung und Angst.“ Am Sonntag spricht er von „Kriegsverbrechen“ und „ethnischen Säuberungen“. Die Alawiten hätten mit dem neuen Staat kooperiert, und trotzdem sei ein „Diskurs des Hasses und der Gewalt inzwischen Brot und Butter der sunnitischen Straße“.

Wenn Funktionäre der neuen Regierung von den „Überresten des alten Regimes“ sprechen, die es zu bekämpfen gelte, dann ist das in den Ohren vieler Syrer bloß eine Chiffre für die Alawiten als solche. Erfahrene Beobachter wie Malik al-Abdeh, Herausgeber der Fachpublikation „Syria in Transition“, sehen das ähnlich. „Heute haben sich die Verhältnisse gewisserweise umgekehrt. Heute stellt sich eine sunnitische Regierung als alleinige Alternative zu alawitischer Schreckensherrschaft über Syrien hin“, kritisiert al-Abdeh. Scharaa inszeniere sich zunehmend als starker sunnitischer Herrscher. „Die Erzählung der ersten Tage von der Einheit aller Bevölkerungsgruppen ist in den vergangenen Monaten immer stärker in den Hintergrund getreten. An ihre Stelle ist ein aggressiver sunnitischer Triumphalismus getreten.“
Die Gewaltexzesse der vergangenen Tage in der Küstenregion haben aber nicht nur den fortdauernden konfessionalistischen Hass in Syrien offengelegt, sondern auch die Grenzen der Macht des Übergangspräsidenten. Scharaa mag pragmatisch regieren wollen, aber er stützt sich noch immer maßgeblich auf die Feuerkraft einer radikalen islamistischen Bewegung, und er hat nicht die Kontrolle über alle Gruppen und Kommandeure. Einige hatten vor ihrem Einsatz gegen die Assad-Anhänger öffentlich Rache geschworen. Laut übereinstimmenden Berichten waren turkmenische und auch usbekische Dschihadisten an den Massakern beteiligt. Es wurden Sprachnachrichten verschickt, in denen die sunnitische Bevölkerung davor gewarnt wurde, ihre Häuser zu verlassen, weil Ausländer nicht zwischen Alawiten und Sunniten unterscheiden könnten.
„Individuelle Verstöße“
Die alten Sicherheitskräfte hatte Scharaa aus Angst vor einer möglichen Konterrevolution auflösen lassen. Jetzt sollen Rebellengruppen für Ruhe und Ordnung sorgen, die 14 Jahre lang gegen Assad gekämpft hatten. Aus dem Regierungsapparat selbst heißt es, es werde eine langwierige Aufgabe sein, professionelle Polizeikräfte aufzustellen. Berichte über brutale Übergriffe hat es auch in den Monaten zuvor immer wieder gegeben. Gerade unter den Alawiten hat die Bereitschaft drastisch abgenommen, den Beteuerungen aus Damaskus zu glauben, es handle sich um Einzelfälle.
Auch jetzt zitierte die amtliche Nachrichtenagentur Sana einen Regierungsfunktionär mit den Worten, es habe individuelle Verstöße gegeben, man arbeite daran, sie zu stoppen. „Für Scharaa ist diese Krise ein existenzieller Test“, sagt Malik al-Abdeh. Der Machthaber müsse jetzt auch gegen die Täter aus den eigenen Reihen hart durchgreifen, um seine Legitimität wiederherzustellen. „Scharaa verkauft sich als derjenige an der Spitze, der die verschiedenen Rebellengruppen in Syrien im Zaum halten kann. Wenn ihm das nicht gelingt, hat er als Präsident im Grunde keine Existenzberechtigung mehr.“