Am Ende war es ein Erdrutschsieg. Die Umfragen hatten Mark Carney zwar als Favoriten gesehen, Justin Trudeau im Vorsitz der Liberalen Partei und als kanadischer Ministerpräsident zu folgen. Dass er aber 86 Prozent der Stimmen in der Mitgliederbefragung erhalten würde, überraschte den bald 60 Jahre alten Mann, der noch nie ein Wahlamt innehatte, selbst. Als er am Sonntagabend auf der Bühne einer Parteiversammlung in der Hauptstadt Ottawa stand, wo das Ergebnis der Befragung, die Ende Februar begonnen hatte, verkündet wurde, wirkte er überwältigt. Chrystia Freeland, die ehemalige stellvertretende Ministerpräsidentin, die im Dezember mit ihrem Rückzug aus dem Kabinett Trudeaus politisches Ende eingeleitet hatte, landete mit acht Prozent des Votums abgeschlagen nur wenige Punkte vor zwei Außenseiter-Kandidaten.
Der neue Anführer der Liberalen Partei soll noch im Laufe dieser Woche Trudeau als Ministerpräsident ablösen. Bis spätestens Oktober muss es neue Parlamentswahlen geben. Es wird damit gerechnet, dass dies kurzfristig erfolgt, auch weil Carney bisher keinen Sitz im Unterhaus hat. Mit der Klärung der Führungsfrage in der Regierungspartei, die nach der fast zehnjährigen Ära Trudeaus lange Zeit in den Umfragen hinter den oppositionellen Konservativen lag und erst durch den von Donald Trump losgetretenen Zollkonflikt wieder an Zustimmung gewann, hat der Hauptwahlkampf in Kanada begonnen.
Carney dankte den Parteimitgliedern für das Vertrauensvotum. Und er kündigte an, dass er sich – wie bislang Trudeau – gegen den amerikanischen Präsidenten stellen werde. „Wir haben das großartigste Land der Welt geschaffen und nun wollen unsere Nachbarn uns übernehmen“, sagte er mit Blick auf Trump, der Kanada wiederholt als 51. Bundesstaat bezeichnet hatte. Er fügte hinzu: „Auf keinen Fall.“
Trump will laut Carney den kanadischen „way of life“ zerstören
Carney versprach seiner Partei, finanzpolitisch verantwortlich und sozialgerecht zu regieren – und internationale Führung zu übernehmen. Er bedankte sich bei seinem Vorgänger Trudeau, der 2013 Vorsitzender der Partei und zwei Jahre später Ministerpräsident geworden war. Seit 2019 führte er eine von der sozialdemokratischen NDP tolerierte Minderheitsregierung an. Carney sagte, Trudeau habe das Land mit Stärke und Mitgefühl geführt und Kanada umgestaltet. Der designierte Ministerpräsident kündigte aber auch einen politischen Wechsel an. Er sei ein Pragmatiker, sagte Carney. Wenn etwas nicht funktioniere, müsse es geändert werden. So werde er die umstrittene Kohlendioxidsteuer durch eine neue Regelung ersetzen.
Weiter sagte er, es gebe jemanden, der die kanadische Wirtschaft schwächen wolle. Trump habe unbegründete Zölle gegen Kanada verhängt. Seine Regierung könne und werde Washington nicht gewähren lassen. Die Gegenzölle, die Trudeau erhoben hatte, würden in Kraft bleiben, bis die Amerikaner Kanada wieder mit Respekt begegneten. Trump wolle den kanadischen „way of life“ zerstören. Kanada sei aber nicht Amerika und werde es auch niemals sein – in keiner Form. In Amerika sei die Krankenversicherung ein „großes Geschäft“. In Kanada sei sie ein Grundrecht. Amerika sei ein Schmelztiegel. Kanada sei aber ein Mosaik, sagte Carney mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft. Kanada haben diesen Streit nicht gewollt. Amerika dürfe sich aber nicht täuschen: Man sei bereit, „die Handschuhe ausziehen“. Beim Handel und im Eishockey – Kanada werde gewinnen, rief Carney seiner Partei zu. Dem Land stünden schwere Zeiten bevor. Es seien düstere Tage, geschaffen durch ein Land, dem Kanada nicht mehr trauen könne. Man werde aber den Schock überwinden und neue Handelspartner suchen. Er wolle Kanada zur stärksten Wirtschaft in der G-7-Gruppe machen.
Carney griff nicht nur Trump an, sondern auch Pierre Poilievre, den Führer der Konservativen und seinen Gegenkandidaten in den anstehenden Wahlen. Unter diesem würde die kanadische Wirtschaft geschwächt. Er sei der Typ Berufspolitiker, der den freien Markt anbete, aber selbst nie im Privatsektor gearbeitet habe. Anders als er.
Carney hat sich im parteiinternen Wahlkampf als Krisenmanager präsentiert. Genau das war er in den vergangenen zwanzig Jahren. Für die Mitglieder der Liberalen war Wirtschaftskompetenz offenbar das ausschlaggebende Kriterium in der Abstimmung. Freeland, die in den vergangenen Jahren auch schon Finanz- und Außenministerin gewesen war, gelang es trotz ihres Bruchs mit Trudeau nicht, sich von ihrem einstigen Förderer zu distanzieren. Dass Carney bislang kein Politiker war und der Wirtschaftselite entstammt, konnte ihm nicht schaden.
Brexiteers sahen ihn kritisch
Geboren wurde er in Fort Smith, einem Dorf im Nordwest-Territorium Kanadas unweit der Provinz Alberta. Seine Eltern, die beide Lehrer waren, zogen bald darauf nach Edmonton, in die Provinzhauptstadt Albertas. Er studierte Wirtschaftswissenschaft in Harvard und Oxford, machte eine Karriere bei Goldman Sachs und wurde dann Gouverneur der „Bank of Canada“, der Notenbank des Landes. Dort soll er wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass Kanada glimpflich aus der Finanzkrise 2008 herauskam. Das sprach sich auch in London herum. 2013 wurde er Gouverneur der „Bank of England“. Dort musste er sich bald der nächsten Herausforderung stellen. Großbritannien, das nach dem Brexit-Votum 2016 in wirtschaftlich schwieriges Fahrwasser geriet, steuerte er aus der Krise.
Die Brexiteers sahen ihn freilich kritisch. Sie warfen ihm vor, sich in politische Belange eingemischt zu haben, als er vor den Folgen des Austritts aus der Europäischen Union warnte. Die Amtszeit des mit einer britischen Ökonomin verheirateten Katholiken, der Vater von vier Töchtern ist, endete 2020. Danach arbeitete Carney für die Investmentfirma Brookfield Corporation. Nach der Rückzugsankündigung Trudeaus Anfang Januar dieses Jahres stieg er ins Rennen um dessen Nachfolge ein. Poilievre, sein Gegenkandidat von den Konservativen, warf ihm undurchsichtige Geschäftsinteressen und potentielle Interessenkonflikte vor. Carney wies das zurück – und machte Wahlkampf damit, kein Politiker zu sein.
Vor der Verkündung des Ergebnisses des Mitgliedervotums hatte sich Trudeau von seiner Partei mit durchaus dramatischen Worten verabschiedet. Mit Blick auf Trumps Angriffe sagte er: Man möge sich nicht täuschen. Dies sei ein Moment, der die Nation bestimme. Sodann: Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit. Freiheit sei keine Selbstverständlichkeit. „Selbst Kanada ist keine Selbstverständlichkeit.“