Ist Deutschland auf einen Krieg vorbereitet?

4

Frau Lackner, Herr Tiesler, in Schweden wurde schon 2014, nach der russischen Besetzung der Krim, damit begonnen, den Zivilschutz zu stärken. In Deutschland sprechen wir erst seit 2022 darüber. Sind wir viel zu spät dran?

Tiesler: Die Friedensdividende hat sicherlich dazu beigetragen, dass wir uns in Deutschland lange nicht intensiv mit einer Kriegsgefahr beschäftigt haben. Zivilschutz war kein prominentes Thema. Bund und Länder, auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), haben aber bereits 2014 gehandelt. In diesem Jahr wurde die Konzeption zur zivilen Verteidigung überarbeitet. Sie ist die Vorbereitung auf schwerste Krisen und soll sicherstellen, dass Staat und Verwaltung handlungsfähig bleiben. Das Umschalten begann also spätestens 2014. Allerdings dauert es, bis das in der Gesellschaft ankommt. Das braucht Zeit. Erst der Angriffskrieg Russlands auf die Ukra­ine hat zu einem grundlegenden Umdenken geführt. Aber wir fangen auch nicht bei null an. Wir haben ein sehr leistungsfähiges integriertes Hilfeleistungssystem im Bevölkerungsschutz. Darauf bauen wir auf.

Ist das Thema auch in der Gesellschaft angekommen?

Tiesler: Flächendeckend fehlt sicherlich noch ein Bewusstsein in der breiten Bevölkerung. Als BBK und mit unseren Partnern im Zivilschutz arbeiten wir daran, die Menschen für Selbstschutz und Selbsthilfe zu gewinnen. Widerstandsfähigkeit und Krisenfestigkeit sind auch Teil der Abschreckung. Und Abschreckung hat im Kalten Krieg hervorragend funktioniert.
„Unser System wird nicht innerhalb weniger Wochen kollabieren“: Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)
„Unser System wird nicht innerhalb weniger Wochen kollabieren“: Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)Frank Röth
Angenommen, es käme zum Krieg im Jahr 2029 und russische Raketen aus Kaliningrad könnten Deutschland innerhalb von Minuten erreichen. Dann gäbe es derzeit Schutzräume für rund 450.000 Menschen. Das ist weniger als ein Prozent der Bevölkerung.

Tiesler: Das ist ein komplexes Thema. Auch mitten im Kalten Krieg hatten wir nie genug Schutzräume für alle Menschen im Land. 2007 wurde beschlossen, alle Schutzräume aus der sogenannten Zivilschutzbindung zu entlassen. Das war damals gesellschaftlicher Konsens. Als der russische Angriffskrieg begann, haben wir sofort reagiert: Die verbliebenen 579 Schutzräume wurden wieder in die Zivilschutzbindung aufgenommen und geprüft. Sie müssen saniert werden.

Wie viele Schutzräume werden wir bis 2029 haben?

Tiesler: Bund und Länder arbeiten gemeinsam ein neues Schutzraumkonzept für Deutschland aus. Wir müssen uns auf heutige Bedrohungen einstellen, nicht auf Szenarien aus dem Kalten Krieg. Das bedeutet dezentrale Lösungen, schnell erreichbare Orte. Die Anzahl können wir noch nicht beziffern. Aber klar ist: So wie wir unsere militärische Verteidigung in den nächsten fünf Jahren erheblich stärken müssen, müssen wir auch den Zivilschutz erheblich stärken.

Wir werden in fünf Jahren also nicht genügend Schutzplätze haben.

Tiesler: Unser Fokus liegt darauf, Schutzräume in urbanen Räumen einzurichten, die schnell zugänglich sein müssen. Wir verfolgen deshalb zwei Ansätze. Wir identifizieren derzeit Tiefgaragen, Tunnel und andere öffentlich zugängliche Räume, die Schutz bieten können. Diese wollen wir nutzbar machen. Gleichzeitig appellieren wir an Bürgerinnen und Bürger, sich selbst zu schützen. Sie können mit einfachen Mitteln Kellerräume herrichten, die dann Schutz bieten. Wir haben in Deutschland zum Glück eine gute Bausubstanz. Das kann Menschen vor Trümmern und Druckwellen schützen.

Bauen ist in Deutschland teuer geworden. Ohne finanzielle Anreize oder gesetzliche Verpflichtungen werden doch die wenigsten Immobilienbesitzer ihre Keller zu Schutzräumen umbauen.

Tiesler: Uns geht es nicht darum, dass Keller für viel Geld umgebaut werden müssen. Es geht darum, in vorhandenen Kellern Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen Schutz finden. Die kann man recht leicht schaffen.

Tiesler: Eine Sache, die man direkt umsetzen kann, ist, den Kellerraum möglichst freizuräumen. Es ist wichtig, dass er schnell zugänglich ist und nicht vollgestellt ist. Am besten eignen sich fensterlose Kellerräume. Man kann die Fenster auch abdichten. Das hält schon viel ab.

Lackner: Wenn wir uns gut vorbereiten wollen, betrifft das nicht nur Schutzräume. Es geht auch um Digitalisierung. Hybride Angriffe laufen bereits. Es werden beispielsweise Desinformationen und Fake News verbreitet und wichtige Leitungen in der Ostsee gekappt.

„Es ist eine Geisteshaltung“: Sabine Lackner, Präsidentin des Technischen Hilfswerks (THW)
„Es ist eine Geisteshaltung“: Sabine Lackner, Präsidentin des Technischen Hilfswerks (THW)Frank Röth

In Fragen der Digitalisierung hinkt Deutschland hinterher. Ist das im Bereich des Zivilschutzes auch so?

Lackner: Da können wir von der Ukraine lernen. Um ein Beispiel zu nennen: Dort zeigt eine App nicht nur die Bedrohung durch einen Angriff an, sondern auch, wie gefährlich dieser voraussichtlich ist. Der Mut der Ukrainer ist bewundernswert. Nach drei Jahren Krieg und unendlichem Leid sind viele ausgelaugt. Trotzdem halten sie alles am Laufen. Diese Resilienz zeigt, dass eine gute Vorbereitung weit über Schutzräume hinausgeht – es ist eine Geisteshaltung.

Müssen die Deutschen achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erst wieder lernen, resilient zu sein?

Lackner: Ich habe ein paar Jahre in Japan gelebt. Dort lernen Kinder vom Kindergarten an, wie sie sich bei einem Erdbeben verhalten sollen. Am 1. September, dem nationalen Erdbebenübungstag, verlassen alle diszipliniert ihre Gebäude, gehen zu Sammelplätzen und kehren danach an ihre Arbeitsplätze zurück. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz. Die Japaner haben aus der Vergangenheit gelernt. Wir müssen uns beim Thema Resilienz viel breiter aufstellen. Es geht nicht nur um das BBK, das Technische Hilfswerk (THW) und die Innenministerien. Es betrifft auch die Kultusministerien, denn das ist auch eine große Bildungsaufgabe.

Brauchen wir Zivilschutzübungen von der Grundschule bis ins Altersheim?

Lackner: Selbstverständlich braucht es das. Bildung liegt in der Hand der jeweiligen Länder. Ich weiß, dass es solche Übungen in Baden-Württemberg gibt. Aus anderen Bundesländern ist mir das nicht bekannt. Aber das BBK hat bereits kindgerechte Materialien dazu veröffentlicht.

Tiesler: Das BBK war bereits in Gesprächen mit den Kultusministern, und wir sind es weiterhin mit vielen Partnern. Wir wollen möglichst viele Menschen erreichen. Dazu gehören auch und gerade Kinder. Wir schaffen es auch, mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Unsere Ratgeber werden gut angenommen. Das war vor zehn Jahren noch anders. Dass es im Juli den dritten Bevölkerungsschutztag von Bund und Ländern gibt, zeigt auch, wie wichtig das Thema geworden ist.

Sie haben ein sehr ausführliches und vielfältiges Angebot an Broschüren. Aber die Mehrheit der Bevölkerung bekommt davon wenig mit, wenn die Hefte bei Behörden neben zig anderen ausliegen. Auch die Internetseite des BBK dürfte aufgrund der Downloadzahlen nicht kurz vor dem Zusammenbruch stehen. In Schweden hat man eine sehr eindrückliche, knallgelbe Hand­reichung für den Zivilschutz in jeden Briefkasten geworfen. Warum macht man das in Deutschland nicht?

Tiesler: In digitalen Zeiten müssen wir anders kommunizieren als früher. Die Nutzerzahlen im Netz übersteigen unsere Bestellungen der Printexemplare. Wir arbeiten permanent daran, unsere Informationen so aufzubereiten, dass sie viele Menschen erreichen und praktische, handhabbare Informationen bieten, wie man sich und andere am besten schützen kann.

Per Postwurfsendung in jedem Briefkasten: Hand­reichung für den Zivilschutz aus Schweden
Per Postwurfsendung in jedem Briefkasten: Hand­reichung für den Zivilschutz aus SchwedenEPA

Ein knallgelbes Heft mit dem Bild einer Soldatin auf der Frontseite in meinem Briefkasten erreicht mich doch eher als eine Broschüre, die ich mir auf Ihrer Seite runterladen muss.

Lackner: Dann beschweren sich die Menschen, die auf ihren Briefkästen stehen haben: „Bitte keine Reklame“. Sie wollen das gar nicht. Es muss einen passenden Mix aus klassischem Papier und Digitalem geben.

Das ist doch keine Reklame.

Lackner: Das liegt im Auge des Betrachters. Ich kenne das Problem auch aus anderen Ehrenämtern. Das ist nicht so leicht. Menschen sind sehr unterschiedlich zugänglich und affin für das Thema. Wir müssen in allen Lebensbereichen informieren. Mein Vorvorgänger Albrecht Broemme hat den Begriff der Katastrophendemenz geprägt. Also dass wir in Deutschland die Lehren aus einer Krise schnell wieder vergessen und zum Alltag übergehen, bis wieder etwas passiert. Deswegen dürfen wir jetzt nicht nachlassen. Ich erinnere mich daran, als 2015 ein Fußballspiel abgesagt wurde. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte auf eine Nachfrage zu den Gründen: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Mich persönlich beunruhigt es mehr, wenn ich auf eine Gefahr nicht vorbereitet bin. Also müssen wir den Menschen auch mehr zutrauen. Spätestens seit Corona sind viele sensibler für Katastrophenvorsorge.

Die Kinderschutzorganisation „Save the Children“ veröffentlichte 2014 einen Clip, der bis heute mehr als siebzig Millionen Aufrufe auf Youtube hat. Das Video zeigt, wie sich das Leben eines kleinen Mädchens aus Großbritannien ändert, als in ihrem Land ein Krieg ausbricht. Braucht es nicht eine offensivere Informationskampagne, um die Bevölkerung zu sensibilisieren?

Tiesler: Offensiv ja, aber so, dass es stärkt, statt Angst zu machen. Wir werden unsere Kampagnenfähigkeit in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Lackner: Das THW feiert dieses Jahr den 75. Geburtstag. Das ist ein Anlass, den wir nutzen werden, um auf den Zivilschutz aufmerksam zu machen. Mit unseren 668 Ortsverbänden gestalten wir ein Jahr ganz im Zeichen des THW.

DSGVO Platzhalter

Die Bundeswehr hat mit dem „Operationsplan Deutschland“ ein strategisches Konzept entwickelt. Welche Rolle spielt der Zivilschutz darin?

Tiesler: Der Zivilschutz ist Teil der Gesamtverteidigung. Wir unterstützen die Streitkräfte mit zivilen Mitteln. Wenn zum Beispiel Soldaten unserer Alliierten durch Deutschland transportiert werden, müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass sie sicher untergebracht werden, Treibstoff bekommen und sanitätsdienstlich versorgt werden. Bereits heute verteilen wir zusammen mit anderen Stellen ukrainische Soldaten auf deutsche Krankenhäuser, die in ihrer Heimat nicht behandelt werden können. Das würden wir auch in einem solchen Szenario übernehmen. Aber natürlich beschäftigen wir uns auch mit Fragen der zivilen Verteidigung abseits der Unterstützung des Militärs.

Es gibt Szenarien, in denen mit bis zu 1000 Verletzten pro Tag gerechnet wird, die von der Front nach Deutschland verlegt werden. Kann unser Gesundheitssystem das überhaupt verkraften?

Tiesler: Wir haben mit anderen Akteuren Alarmpläne für die Krankenhäuser erstellt. Deutschland hat die größte Krankenhausdichte Europas. Unser System wird nicht innerhalb weniger Wochen kollabieren. Aber wir müssen mit einem längeren Zeitraum rechnen, in dem das dann unter Druck funktionieren muss. Das große Problem ist das fehlende Personal. Es gehört auch zur Sensibilisierung, sich mögliche Defizite klarzumachen und zu dokumentieren, was wir für den Verteidigungsfall brauchen. Das passiert gerade.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Ihre beiden Vorgänger kritisieren, das Bundesinnenministerium habe zu wenig Geld in den Zivilschutz investiert.

Lackner: Das Budget des THW ist heute doppelt so hoch wie vor zehn Jahren. Ich finde diese Kritik daher zu eindimensional. Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Bekenntnis zum Zivilschutz. Und das kann ja nicht nur in einem Ressort liegen. Genauso wie Verteidigungsminister Boris Pistorius mehr Geld für die Bundeswehr verlangt, fordert auch Innenministerin Nancy Faeser mehr Mittel für den Zivilschutz. Und da müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, wie wir Investitionen verteilen.

Tiesler: Der Bund hat in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, um den Schutz der Bevölkerung zu verbessern. Neben neuen Warnsystemen hat auch das BBK einen fast doppelt so hohen Haushalt wie Anfang der 2010er-Jahre. Und wir haben deutlich mehr Personal. Richtig ist aber auch, dass wir mehr Mittel brauchen, um den Zivilschutz weiter zu stärken.