Müssen die Nachbarstaaten bei Zurückweisungen zustimmen?

5

Nach dem Wochenende der demonstrativen Einigkeit und der Präsentation des gemeinsamen Sondierungspapiers hat am Montag ein Ringen zwischen Union und SPD über die Deutung des genauen Wortlauts der Vereinbarung eingesetzt – bei dem für die Union so wichtigen Thema Migration. Auf Seite acht steht im Sondierungspapier unter dem Punkt „Zurückweisung an den Staatsgrenzen“ der Satz: „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.“ Aber was genau bedeutet „in Abstimmung“?

Dass das nicht zwangsläufig meint, dass die europäischen Nachbarn auch zustimmen müssen, machten Unionspolitiker deutlich. Zum Beispiel Jens Spahn: „Da steht nicht zustimmen, sondern in Abstimmung“, sagte er dem Portal „Table Media“. „Wir machen uns nicht abhängig von der Zustimmung der anderen Länder.“ Diese Einschätzung wurde in der Union weithin am Montag geteilt und darauf verwiesen, dass man bei den Sondierungen doch ganz bewusst auf das Wort „Abstimmung“ gesetzt habe.

Merz selbst hatte am Sonntag im Deutschlandfunk gesagt, sein Ziel sei es, „unnötige Konflikte“ mit Nachbarstaaten zu vermeiden. „An erster Stelle steht für mich die Sicherheit unseres eigenen Landes“, hatte er aber auch gesagt. Sofern sich dies damit gewährleisten lasse, wolle er „einen gemeinsamen europäischen Weg gehen“. Er sagte: „Wir wollen europäische Solidarität, soweit es eben möglich ist.“

Wer spricht für die SPD – Klingbeil oder Esken?

SPD-Chef Lars Klingbeil empfahl am Montag zur Klärung der Deutungsfrage einen Blick in den Text des Sondierungspapiers. Das gelte. Was man wohl so interpretieren darf: Eine Abstimmung, vielleicht auch nur einen Versuch dazu, mit den europäischen Nachbarn muss es schon geben. Nicht mehr und nicht weniger. Das verträgt sich also gut mit der Sichtweise der Union.

Aber ist das auch die einheitliche Linie der SPD? Seine Ko-Vorsitzende Saskia Esken hatte sich wenige Stunden zuvor konfrontativer gezeigt. Es sei „brandgefährlich“, wenn Deutschland ohne Einverständnis der betroffenen Nachbarländer Asylsuchende zurückweisen würde, sagte sie im Deutschlandfunk. „Wir haben etwas anderes vereinbart, und dabei bleiben wir auch.” Sie warnte die Union vor dem Versuch, „mit dem Kopf durch die Wand zu gehen“. Das Thema müsse beim nächsten Treffen mit der Union geklärt werden. Es gehe darum, „dass wir Humanität und Ordnung in der Fluchtmigration wahren“.

Wie zu hören ist, plant Merz Gespräche mit den europäischen Nachbarn in der Zeitspanne zwischen dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen und seiner Wahl zum Kanzler im Bundestag. Dazwischen dürften etwa zwei Wochen liegen, auch weil bei der Union ein kleiner Parteitag und bei der SPD die Mitglieder über die Vereinbarung abstimmen werden. Im Gespräch sind auch bilaterale Verträge mit den Nachbarländern nach dem Vorbild der Vereinbarung mit der Schweiz, um ein gemeinsames Vorgehen dies- und jenseits der Grenze zu vereinbaren. Auf ihren Abschluss müsste Merz aber nicht warten. Solche Verträge werden im Sondierungspapier nicht als Bedingung für Zurückweisungen an den Grenzen genannt.

Die CDU will Strukturreformen

In den Gremien der CDU, so heißt es aus Teilnehmerkreisen, spielte die Mi­gra­tion und das Wort „Abstimmung“ am Montag gar keine Rolle. Im Bundesvorstand stimmte die CDU einstimmig der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zu. In den Gremien habe es viele Wortmeldungen gegeben, aber keine deutliche Kritik an dem Sondierungspapier. Formuliert worden sei jedoch die Erwartung, dass in den Verhandlungen sowohl die Haushaltskonsolidierung als auch die Strukturreformen des Staates angegangen werden müssten. Vorstand und Präsidium der Christdemokraten hätten den Anspruch formuliert, dass das geplante 500 Milliarden Euro starke Infrastruktur-Sondervermögen „mit massiven Strukturreformen einhergehen muss“, sagte Generalsekretär Carsten Linnemann im Anschluss.

Deutschland brauche eine große Verwaltungsreform, eine „Staatsmodernisierung“ und einen „Bürokratierückbau“ – „das alles muss kommen“. Zudem brauche es eine Haushaltskonsolidierung. „Alle Sondierer sind sich dessen bewusst, dass das alles gegenfinanziert werden muss und entsprechend auch gespart werden muss“, sagte Linnemann.

Bis zu diesem Dienstag sollen die Verhandler für die Koalitionsgespräche bestimmt werden, 16 Arbeitsgruppen soll es geben mit je 16 Personen. Wie und wo sich die Gruppen treffen, steht ihnen frei. Am Donnerstag beginnen dann die Koalitionsverhandlungen, bis zum 23. März sollen sie abgeschlossen sein. Am 25. März kommt der Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Dann wird auch ein neuer Bundestagspräsident gewählt, mutmaßlich ein Unionspolitiker.