Noch stehen die Koalitionsverhandlungen am Anfang, noch ist unklar, ob Union und SPD ihren Schuldenplan durch Bundestag und Bundesrat bekommen und sich auch in den anderen Punkten einigen können. Doch in Berlin wird schon an die Zeit danach gedacht, an den 23. April, an dem Friedrich Merz (CDU) zum Kanzler gewählt werden will. Falls der Zeitplan aufgehen sollte, dürften an jenem Mittwoch nach Ostern auch die Minister des neuen Kabinetts vereidigt werden. Und auch wenn es offiziell derzeit ausschließlich um Inhalte geht – die Spekulationen, wer in einer schwarz-roten-Koalition was werden könnte, laufen längst.
In der Wirtschaft richten sich die Blicke vor allem darauf, wer im Finanz-, im Wirtschafts- und im Arbeits- und Sozialministerium künftig das Sagen hat. Aufmerksam werden die Listen der Arbeitsgruppen für die Koalitionsverhandlungen studiert – insbesondere, wer diese leitet. Zwar ist nicht gesagt, dass die Vorsitzenden auch Ministerkandidaten sind. Aber die Besetzung sagt etwas darüber aus, was für die Parteien inhaltlich Priorität hat.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Carsten Linnemann. Er gilt als einer der profiliertesten Wirtschaftspolitiker der CDU. Im Wahlkampf sparte der studierte Betriebswirt nicht mit Kritik an Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), forderte eine „Wirtschaftswende“ zurück zu mehr Freiheit für die Unternehmen. Linnemann galt daher als Anwärter für das Amt des Wirtschaftsministers. Für die Koalitionsverhandlungen aber hat er sich jetzt den Vorsitz der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales gesichert. Die Wirtschaft verhandelt dagegen Jens Spahn. Der war zwar in den vergangenen Jahren in der Fraktionsspitze für die Wirtschaftsthemen zuständig, wurde aber zuletzt für alles Mögliche gehandelt: vielleicht Fraktionschef, vielleicht Finanzminister, vielleicht Außenminister.
Geht das Finanzministerium an die SPD?
Dass Linnemann Arbeit und Soziales verhandelt, dürfte vor allem einen Grund haben: Wenn es etwas werden soll mit der „Abschaffung“ des Bürgergelds, mit dessen Umbau zu einer „Neuen Grundsicherung“, wie sie die Union vor der Wahl profiliert vertreten hat, wäre es riskant, dieses Projekt allein Sozialpolitikern zu überlassen.
Der CDU-Generalsekretär und Merz-Vertraute bringt dafür indes eine besondere Eigenschaft mit. Er zählt zu den wenigen Spitzenpolitikern, die in Wirtschafts- und Sozialthemen gleichermaßen versiert sind. Von 2009 bis 2017 gehörte er dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales an. Er war schon 2013 einer der Koalitionsverhandler für dieses Sachgebiet, schlug kurz darauf aber mit dem Aufstieg an die Spitze der CDU/CSU-Mittelstandsunion einen anderen Karriereweg ein.

Ausgerechnet der bisherige Sozialminister Hubertus Heil (SPD) kann freilich auch so eine Doppelkompetenz für sich ins Feld führen. Er war einst SPD-Fraktionsvize für Wirtschaft und wäre 2013 fast Wirtschaftsminister geworden, hätte damals nicht Parteichef Sigmar Gabriel nach diesem Posten gegriffen. Jetzt aber, nach sieben Jahren als Arbeits- und Sozialminister, hat Heil ein ernstes Problem mit dem Proporz: Zwar erscheint es einerseits schwer vorstellbar, dass die SPD das Sozialressort der CDU überlässt. Andererseits aber wird Amtsinhaber Heil kaum bleiben können, wenn man davon ausgeht, dass SPD-Chef Lars Klingbeil und Beinahe-Kanzlerkandidat Boris Pistorius als Minister gesetzt sind. Heil wäre dann der dritte niedersächsische Mann auf der Kabinettsliste seiner Partei. Manche Beobachter erinnern nun daran, dass Heil schon häufiger für den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion gehandelt worden sei.
Zweites wichtiges Vorhaben der Union neben der Bürgergeldreform ist die steuerliche Entlastung von Unternehmen und Arbeitnehmern, über die im Finanzministerium entschieden wird. Mit Mathias Middelberg (CDU) und Dennis Rhode (SPD) leiten zwei Politiker vom Fach die Arbeitsgruppe Haushalt, Finanzen und Steuern. Und es gibt weitere Gemeinsamkeiten: Beide sind Juristen und kommen aus Niedersachsen. Rhode war zuletzt haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion, aber im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Kahrs blieb er blass, wirkte eher im Verborgenen.
Dass er die SPD-Fachgruppe leitet, dürfte seiner Nähe zu Klingbeil, ebenfalls Niedersachse und derzeit mit Abstand mächtigster Mann der SPD, zu verdanken sein. Sollte die SPD sich das Finanzministerium sichern, hätte Klingbeil sicherlich das erste Zugriffsrecht. Die Besetzung dieses Ressorts gilt als strategisch bedeutsam. Olaf Scholz machte es in der jüngsten schwarz-roten Koalition vor. Der SPD-Politiker aus Hamburg hatte es 2018 zu einem veritablen Vizekanzleramt ausgebaut, von dem er erfolgreich darauf hinarbeitete, der Nachfolger von Angela Merkel (CDU) zu werden.
Und was wird aus Dobrindt?
Das Dasein als Finanzminister ist ein Knochenjob. Theo Waigel (CSU) sprach in den 1990er Jahren einmal von Hundejahren, die siebenfach zählten. Man muss das Geld zusammenhalten, Begehrlichkeiten von Kabinettskollegen abwehren und sich mit steuerpolitischen Details beschäftigen. Ob die Reisen zu den Amtskollegen in Brüssel, Washington und anderswo auf der Welt als willkommene Abwechslung oder als stressige Entfernung vom Berliner Geschehen empfunden werden, hängt vom Charakter und den Ambitionen des Amtsinhabers ab.
Neben Klingbeil fällt der Name von Carsten Schneider, wenn es um SPD-Anwärter für den Posten geht, auch wenn ihn außerhalb des Parlaments nicht allzu viele kennen. Schneider, der auch einmal haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion war, ist erfahren, kommt aus Erfurt, war Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, saß als Staatsminister im Bundeskanzleramt und war Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. So ist sein Netzwerk über die Jahre gewachsen. Dass er in der SPD eine ernstzunehmende Größe ist, zeigt sein Einzug in die mächtige Steuergruppe, die den Arbeitsgruppen sagen darf, wo es lang geht.
Darüber hinaus mischt hinter den Kulissen Jörg Kukies in den Koalitionsverhandlungen mit. Als Finanzminister ist er der Herr der Zahlen. Auch wenn die Schuldenbremse aufgebohrt werden soll, wird sich nicht alles finanzieren lassen, was gewünscht wird. Der frühere Investmentbanker ist ein politischer Zögling von Scholz. Seine finanzpolitische Expertise ist allgemein anerkannt, aber im Gegensatz zu Klingbeil und Schneider verfügt Kukies über keine Hausmacht in der Partei, auch wenn er SPD-Mitglied ist.

CDU-Mann Middelberg hat zielstrebig seinen Einfluss in der Partei ausgebaut. Er ist Vorsitzender der Landesgruppe Niedersachsen und war Fraktionsvize für Steuern, Haushalt, Kommunen – eigentlich eine gute Ausgangsposition im Rennen um Ministerposten. Und doch fällt sein Name allenfalls am Rand, wenn spekuliert wird, wer von der Union in das Finanzministerium einziehen könnte, sollte die SPD nicht zugreifen. Als Namen werden dann zumeist Alexander Dobrindt (CSU) und eben Spahn genannt. Der Bayer hat sich bisher nicht als Finanzpolitiker hervorgetan, aber sein Parteivorsitzender, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, hat für ihn ein wichtiges Ministerium reklamiert.
Spahn wiederum war schon Staatssekretär im Finanzministerium. Sein Nachteil: Mit Merz und Linnemann wäre Nordrhein-Westfalen schon stark im Kabinett vertreten, ein dritter – und dann noch ein Mann – wäre schwer zu erklären. Dobrindt und Spahn sitzen nicht in der Arbeitsgruppe Finanzen, dafür aber fünf Landesfinanzminister, darunter auch Jakob von Weizsäcker (SPD) aus dem Saarland. Von ihm stammt die Vorlage für die Lockerung der Schuldenbremse und das Infrastruktursondervermögen, über die der Bundestag am Donnerstag in erster Lesung diskutierte.
Finanzen und Arbeit? Oder doch das Wirtschaftsministerium mit verändertem Zuschnitt? Noch ist nicht ganz klar, was die Strategie der Union ist. Im vergangenen Jahr hatte CDU-Chef Merz gefordert, die Bereiche Wirtschaft und Arbeit in einem Ministerium zu bündeln, Klimaschutz und Energie dafür in andere Ministerien zu verschieben. Zuletzt war davon nicht mehr viel zu hören. Mancher erinnert sich noch daran, wie aufwendig es im Jahr 2002 war, für Wolfgang Clement (SPD) ein kombiniertes Wirtschafts- und Arbeitsministerium zu schaffen. Zudem ist das Wirtschaftsministerium derzeit Herr über den Klima- und Transformationsfonds, der jährlich einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag ausgibt. Würde der Klimaschutz in ein anderes Ressort wechseln, könnte das Wirtschaftsministerium die Hoheit über diesen attraktiven Nebenhaushalt verlieren, der – so das Angebot von Merz an die Grünen – noch mit 50 Milliarden Euro Sonderschulden gestärkt werden soll.
Der SPD könnte ein nachlassendes Interesse der Union am Wirtschaftsministerium in die Karten spielen. Die Sozialdemokraten gaben sich im Wahlkampf als Retter der Industriearbeitsplätze und hätten vermutlich nichts dagegen, das Haus als zentrale Verteilstelle von Subventionen – etwa ihres „Made-in-Germany-Bonus“ – umzubauen. Der federführende SPD-Verhandler für Wirtschaft, der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer, dürfte kaum nach Berlin wechseln wollen. Umso mehr richten sich die Blicke auf seine Stellvertreterin Verena Hubertz. Der Betriebswirtin und Gründerin des Start-ups „Kitchen Stories“ wird in der Partei noch einiges zugetraut. Zuletzt war sie schon als stellvertretende Fraktionsvorsitzende für Wirtschaft zuständig.
Dass die Besetzung der Arbeitsgruppen nicht überbewertet werden sollte, zeigt der Blick zurück ins Jahr 2009. Damals leitete Thomas de Maizière für die Union mit Hermann Otto Solms auf FDP-Seite die Arbeitsgruppe Steuern, Finanzen, Haushalt. Beide waren im Gespräch für den Posten des Finanzministers – aber den bekam Wolfgang Schäuble (CDU), der die Verhandlungen in der Arbeitsgruppe Inneres geleitet hatte. Schäubles Nachfolger im Innenministerium wurde dann de Maizière. Später soll sich Schäuble in kleinem Kreis mehrfach darüber ausgelassen haben, was für ein Mist in seinem Bereich ausgehandelt worden sei.