Vor dem neoklassischen Portikus des Parlamentsgebäudes in Winnipeg prangt eine riesige kanadische Flagge. Die Idee, das rote Ahornblatt dort anzubringen, hatte Ministerpräsident Wab Kinew. Der Regierungschef der Provinz Manitoba ist Sozialdemokrat, Sohn eines Häuptlings und war früher einmal Rapper. Für öffentlichkeitswirksame Aktionen ist er bekannt.
Dieser Tage stand Kinew mit Mitgliedern seiner Fraktion vor dem Parlament in der Provinzhauptstadt und sagte: So bescheiden und freundlich die Menschen in Manitoba auch seien, wenn sie zu einem Kampf herausgefordert würden, sie seien eine Nation von Eishockeyspielern.
Bei einem Eishockeyturnier zwischen Kanada und den USA war es kürzlich zu Prügeleien gekommen. Das fasst die kanadisch-amerikanischen Beziehungen keine acht Wochen nach dem Amtsantritt Donald Trumps in den Augen Kinews offenbar ganz gut zusammen. „Wir wissen“, sagte er, „wann die Zeit für eine richtige Schlägerei gekommen ist.“
Nach der Aktion vor dem Parlament setzte der Regierungschef seine Show fort. Er imitierte die inzwischen berüchtigten Signierstunden Donald Trumps im Oval Office und unterschrieb seinerseits einen Erlass. „Dies ist ein wunderbares Dekret, ein schönes Dekret“, sagte Kinew und äffte damit Trump nach. Es verbanne amerikanischen Alkohol aus den Regalen der Spirituosengeschäfte. Während Trump beinahe täglich neue Drohungen ausspricht und sie dann wieder zurücknimmt, zeigt sich die kanadische Regierung ungerührt und hält an ihren Gegenzöllen fest.

In seinen letzten Tagen als Ministerpräsident erklärte Justin Trudeau, die angeführten Gründe für Zölle seien vollkommen fingiert. In Wirklichkeit setze Trump auf einen Zusammenbruch der kanadischen Wirtschaft, weil es dann leichter wäre, das Land zu annektieren. Die Wochen vor der Amtsübergabe an Mark Carney widmete Trudeau ganz dem Kampf mit Trump.
Es ist ein Kampf, hinter dem auch die Bevölkerung steht. Die Kanadier leben mit dem ständigen Blick auf die USA. Vor allem aber halten sie sich für die besten Nachbarn, die man sich wünschen kann. 90 Prozent der 41 Millionen Kanadier leben in einem 150 Meilen breiten Streifen entlang der amerikanischen Grenze.
2024 gingen 76 Prozent der kanadischen Exportgüter nach Amerika, und 50 Prozent der Importe kamen aus den Vereinigten Staaten. Seite an Seite hat man in zwei Weltkriegen gekämpft, später auch im Korea- und im Afghanistankrieg. Die Kanadier lieben es, ihren langen und kalten Winter durch einen Trip nach Florida zu unterbrechen. Sie besuchen amerikanische Colleges und sind im amerikanischen Sport, im Folk, im Rock und in Hollywood allgegenwärtig.
Seit Trump sie attackiert, Strafzölle verhängt, den Ministerpräsidenten als US-Gouverneur verspottet und damit droht, sich Kanada als 51. Bundesstaat einzuverleiben, verstehen sie die Welt nicht mehr. Und rücken enger zusammen.
Trudeau: „Du kannst uns nicht unser Spiel nehmen“
Das zeigte sich jüngst auch bei besagtem Eishockeyspiel. Das „4 Nations Face-Off“ ist ein Turnier für Nationalmannschaften, organisiert von der „National Hockey League“, der nordamerikanischen Eishockeyliga, in der 32 amerikanische und sieben kanadische Teams spielen. Begegnungen zwischen Amerika und Kanada auf dem Eis sind immer hitzig. Für die Kanadier ist dies eine der wenigen Möglichkeiten, es den Amerikanern zu zeigen.
Die erste Begegnung in Montreal begann damit, dass kanadische Fans beim Ertönen des „Star-Spangled Banner“, der amerikanischen Nationalhymne, laut buhten, was im Sport in Nordamerika selten vorkommt. Auf dem Eis kam es zu hässlichen Szenen. Nach mehreren Prügeleien waren die Strafbänke gefüllt. Die Amerikaner gewannen das Spiel. Man sollte sich aber im Finale in Boston wiedersehen.
Trump stänkerte vorher und setzte Trudeau wieder als „Gouverneur“ herab. Die Sprecherin des Weißen Hauses ließ derweil wissen, der Präsident freue sich darauf, dass die USA den baldigen 51. Bundesstaat Kanada schlage. Dazu kam es aber nicht. Das kanadische Team gewann in der Verlängerung. Und Trudeau schrieb auf der Plattform X, ohne Trump zu erwähnen: „Du kannst unser Land nicht übernehmen. Und Du kannst uns nicht unser Spiel nehmen.“

Im historischen „Exchange District“ in Winnipeg, wo früher die Rohstoffbörse das Leben prägte, betreibt Kevin Selch in einem hundert Jahre alten Backsteingebäude eine Brauerei. Gerade prüft er die stählernen Gärtanks im Produktionsraum der „Little Brown Jug Brewing Company“. Der Alltag geht weiter.
Aber auch Selch kennt derzeit nur ein Thema. Er spricht von einem „rally around the flag“-Moment für Kanada: Wenn Gefahr droht, rückt das Land zusammen und versammelt sich unter der Flagge. Es gebe jetzt eine Kampagne, örtliche Produkte zu kaufen. Das findet Selch gut. Es gehe aber nicht nur um einen Handelskonflikt. Es gehe um mehr. Wenn Trump von Kanada als 51. Bundesstaat rede, meine er es ernst, auch wenn er keine Truppen an die Nordgrenze verlege, ist auch Selch überzeugt.
Gemischte Gefühle
Die kanadisch-amerikanischen Beziehungen sind komplex. Für die nördlichen Nachbarn ist es ein Sammelsurium an Gefühlen: Da ist viel Bewunderung für die Vereinigten Staaten, die nach ihren bescheidenen Anfängen als Siedlernation zur mächtigsten Wirtschafts- und Militärmacht aufstiegen – und die Welt auch kulturell dominieren.
Aber Snobismus ist ebenfalls im Spiel. Sosehr man auf Amerika fixiert ist – man erhebt sich gern über den Nachbarn im Süden. Anders als die USA hat Kanada eine soziale Marktwirtschaft und eine allgemeine Krankenversicherung. Hier gibt es weniger Gewalt, Armut und Obdachlosigkeit. Brauereibetreiber Selch formuliert es so: „Wir bestaunen Amerika. Aber wir sind auch glücklich, dass wir nicht Amerika sind.“
Wie die meisten Kanadier hat auch er selbst enge Beziehungen in die USA. Selch hat in Wisconsin Wirtschaft studiert. Auch seine beiden Brüder besuchten Unis in Amerika. Beide – typisch Kanada – mit Eishockey-Stipendien. Die Brüder heirateten Amerikanerinnen und blieben dort. Der eine in Montana, der andere in Minnesota.
Selch macht eine kurze Pause, verdreht die Augen: Seine Brüder seien inzwischen Amerikaner geworden, und zwar „verrückte Trumpisten“. Sich selbst bezeichnet Selch als libertär, hebt aber hervor, dass das nicht im amerikanischen Sinne zu verstehen sei. Er stehe nicht rechts außen. Als Unternehmer sei er für wirtschaftliche Freiheit. Als schwuler Mann trete er für gesellschaftspolitische Freiheit ein.
Selch ist in der Nachbarprovinz Saskatchewan geboren, aber in Winnipeg aufgewachsen. Die Stadt mit ihren 850.000 Einwohnern – zwei Drittel der Bevölkerung Manitobas – versteht sich als das Tor zum Westen. In den ländlichen Gegenden Kanadas sind die Menschen eher konservativ und grenzen sich von Progressiven in den dominierenden Provinzen Ontario und Quebec ab.
Selch kennt beide Welten. Nach dem Studium arbeitete er zehn Jahre für das Wirtschaftsministerium in der Hauptstadt Ottawa – in dem Stab, der die kanadischen Handelsabkommen verhandelte. Irgendwann beschloss er, noch einmal etwas anderes zu machen. Vor fast neun Jahren gründete er die Brauerei in seiner Heimatstadt.
Die weltweit längste Grenze zwischen zwei Staaten
Die Start-up-Jahre seien gut verlaufen, erzählt Selch. Er fing mit einem belgischen Pale Ale an. Inzwischen produziert er ein breites Sortiment. Von den Folgen der Corona-Pandemie hat er sich gut erholt; inzwischen ist er der größte Bierproduzent in der Provinz Manitoba. Selch zieht die Augenbrauen hoch: „Und nun haben wir den Zollkrieg.“ Er selbst beliefert den amerikanischen Markt noch nicht. Aber er hatte gerade erst angefangen, eine Exportoption zu erkunden. Was daraus wird, ist nun offen. Selch schüttelt den Kopf. Wie seine Landsleute weiß er nicht, wie ihm geschieht. „Die Kanadier sind vollkommen verdattert.“
Die beiden nordamerikanischen Staaten trennt eine gemeinsame Geschichte. Trumps Gerede über Kanada als 51. Bundesstaat hat tatsächlich einen historischen Vorläufer. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg lud der Kontinentalkongress, der nicht zufällig so hieß, die kanadischen Provinzen ein, die 13 Gründerstaaten zu unterstützen und den Vereinigten Staaten beizutreten.
Man glaubte, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen: die Befreiung von der britischen Kolonialmacht. Doch das katholische Quebec, das die Briten den Franzosen im Siebenjährigen Krieg endgültig abgetrotzt hatten, und die anderen britischen Provinzen des heutigen Kanadas lehnten ab. Später versuchte George Washingtons Armee sich die Gebiete militärisch zu holen. Die Invasion scheiterte aber.

Am Ende, als die 13 Bundesstaaten sich erfolgreich von der Krone losgesagt hatten, verließen viele Loyalisten die neue Republik und zogen in den Norden, der unter britischer Kontrolle blieb. Der Konflikt loderte weiter und führte später zum Krieg von 1812. Die Briten rückten in Washington ein und brannten das Weiße Haus nieder. Die Grenzfrage blieb noch einige Zeit strittig, schließlich strebten sowohl die Vereinigten Staaten als auch das britische Kanada die Erweiterung ihres Territoriums bis zur Westküste an. Letztlich verständigte man sich auf eine Grenzziehung westlich der Provinz Ontarios entlang des 49. Breitengrads.
Mit 8891 Kilometern und 120 Übergängen handelt es sich um die weltweit längste Grenze zwischen zwei Staaten. Sie umfasst nicht nur die konsekutiven Staaten der USA, sondern auch Alaska und wird die „längste nichtverteidigte Grenze“ genannt. Denn sie ist zwar polizeilich gesichert, aber – anders als die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko – nicht militärisch.
Das alles ist Geschichte – zumal eine, die im Wesentlichen von London und Washington geschrieben wurde. Kanada ist erst seit 1867 das „Dominion of Canada“, ein Herrschaftsgebiet, das sich selbst verwaltete, aber noch Bestandteil des British Empire war, dessen Außenpolitik von London bestimmt wurde.
Schrittweise erlangte Kanada danach seine Unabhängigkeit. Erst 1926 wurde das Land auch außenpolitisch souverän. Seither waren die kanadisch-amerikanischen Beziehungen so friedlich, wie man es sich nur vorstellen kann – von einem Zollkonflikt während der Großen Depression und gelegentlichen Gewässerstreitigkeiten der Fischer abgesehen.

Trump ist bekanntermaßen kein Historiker. Jemand muss ihm aber einen Crashkurs erteilt haben. Jedenfalls erwähnte der Präsident in einem Telefonat mit Trudeau zu Jahresbeginn, dass er die Landesgrenze ausradieren könnte, wenn er ein 1908 zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich beschlossenes Abkommen, das den 49. Breitengrad als Grenze bestätigte, für nichtig erkläre. Das ist der Grund, warum Trudeau den Zollkrieg als Teil einer größeren Strategie bezeichnet hat.
Als Ronald Reagan 1987 zum Parlament in Ottawa sprach, sagte er: Amerikaner und Kanadier seien zwei stolze und unabhängige Völker, die sich durch vieles unterschieden, aber auch vieles teilten. Zwei Nationen, beide aufgebaut von Einwanderern, die der Tyrannei entflohen seien.
Ein Jahr später unterzeichnete Reagan mit dem kanadischen Ministerpräsidenten Brian Mulroney das kanadisch-amerikanische Freihandelsabkommen, Keimzelle des späteren NAFTA-Vertrages, der Mexiko einschloss, in Trumps erster Amtszeit geändert wurde und nun als USMCA firmiert. Heute will Trump davon nichts mehr wissen: Als er seine Zölle verteidigte, fragte er kürzlich ernsthaft, wer diese Handelsvereinbarungen überhaupt ausgehandelt habe.
Seit Jahrzehnten nicht gesehener Patriotismus
Das Rathaus in Winnipeg ist ein wuchtiger Gebäudekomplex aus den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Das Büro des Bürgermeisters ist mit dunklem Holz vertäfelt und hat große Fenster. Scott Gillingham regiert die Stadt seit 2022. Vorher saß er für die „Progressive Conservative Party“ im Stadtrat. Der 57 Jahre alte Mann, aufgewachsen auf einer Farm außerhalb von Brandon, der zweitgrößten Stadt Manitobas, erinnert sich an den Tag, an dem Trump Kanada zum ersten Mal als 51. Bundesstaat bezeichnete. Er habe es anfangs für einen Scherz gehalten, aber der Präsident habe es ständig wiederholt.
„Da schüttelt es mich“, sagt Gillingham. „Es ist verletzend und verwerflich. Wir sind eine stolze, unabhängige und souveräne Nation.“ Die Rhetorik Trumps habe die Kanadier wachgerüttelt. Das Ausmaß an Patriotismus, das gegenwärtig herrsche, habe er seit Jahrzehnten nicht gesehen.
Gillingham zeigt sich genauso kämpferisch wie der Regierungschef von Manitoba und die Regierung in Ottawa. Die Stadt sei auf einen Zollkrieg vorbereitet, sagt er. Er ist der stellvertretende Vorsitzende der Vereinigung der Bürgermeister kanadischer Großstädte. „Wir versuchen uns gemeinsam mit den Premiers der Provinzen zu unterstützen. Premier Kinew habe einen Runden Tisch für Handelsfragen gebildet. Dort habe man etwa die Beschaffungsrichtlinien der öffentlichen Hand angepasst: Dienstleister aus Amerika bekämen keine Aufträge mehr.

Seine Stadt, sagt Gillingham, verfüge über eine diversifizierte Wirtschaft – anders als etwa Windsor in Ontario, die kanadische Schwesterstadt von Detroit, die stark an der Automobilindustrie hängt, oder Calgary und Edmonton in Alberta, die hauptsächlich vom Öl und Gas lebten. Dadurch ließen sich die Folgen der Zölle besser abfedern. Trotzdem sagten auch die Arbeitgeber von Winnipeg: Es werde negative Folgen geben. Die Arbeitslosigkeit werde steigen und Investitionen würden zurückgehen.
Und auch für Kanadas Innenpolitik bleibt Trumps Zollkrieg nicht folgenlos. Als die Liberale Partei Trudeau nach fast einem Jahrzehnt zum Rückzug drängte, sah es so aus, als würden die Konservativen in den kommenden Wahlen durchmarschieren. Doch deren Frontmann Pierre Poilievre hatte einige Zeit auf der Klaviatur Trumps gespielt und sich als Kulturkämpfer gegen die „radikale Wokeness“ gewandt.
Nun geht er öffentlich auf Distanz zum Präsidenten: „Trump sagt, ich sei nicht MAGA“, bemerkte Poilievre dieser Tage. „Das ist wahr. Ich bin Canada first.“ Und: Kanada werde niemals der 51. Bundesstaat Amerikas sein. An Trump gewandt, fügte er hinzu: „Halte dich zurück.“ In den Umfragen holen die Liberalen auf. Bürgermeister Gillingham spricht von einem „neuen Spiel“.
Wie auch Brauereibetreiber Selch ist er überzeugt, dass Kanada als Konsequenz aus dem Zollkrieg Abhängigkeiten von Amerika abbauen müsse. Militärisch, wirtschaftlich und auch mit Blick auf die kritische Infrastruktur. Abhängigkeiten reduzieren – davon war im Westen zuletzt gegenüber China die Rede. „De-risking“ hieß das Schlagwort in Nordamerika und Europa im Umgang mit Xi Jinping. Nun soll es eine Antwort auf Trumps Amerika sein.
Selch skizziert, was sonst passieren könnte. Der Präsident könnte den Zollkrieg nutzen, um Kanadas und Mexikos Handelspolitik Dritten gegenüber zu bestimmen. Dann gäbe es einen gemeinsamen Wirtschaftsraum auf dem Kontinent, dessen externe Zölle Washington festlegen würde. Kanada, sagt Selch, würde zwar nicht der 51. Bundesstaat werden. Aber es würde seine Stimme verlieren.