So funktioniert Russlands Kriegswirtschaft

3

Die Region Tula spielte für Russlands Wirtschaft bis vor Kurzem keine große Rolle. Das nahe Moskau gelegene Gebiet hat keine nennenswerten Bodenschätze, ist weder für Landwirtschaft noch für Stahlproduktion oder andere für den Export wichtige Waren bekannt. Doch seitdem Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, hat Tula an Bedeutung gewonnen: als beispielhafte Modellregion einer auf den Krieg ausgerichteten Wirtschaft, in welcher der Staat immer mehr Geld in die Rüstung pumpt und immer weniger in zivile Bereiche.

Davon profitieren Gebiete wie Tula, weil dort schon zur Zarenzeit und später in der Sowjetunion Rüstungsbetriebe angesiedelt wurden: die „Imperiale Tulaer Waffenfabrik“ etwa, die sich als ältestes Rüstungswerk Russlands bezeichnet, oder „Tul Ammo“, die Tulaer Patronenfabrik. Dass Waffen hier eine große Bedeutung haben, wird jedem Besucher der Stadt Tula, nach der das Gebiet benannt ist, sofort klar: An der Hauptstraße kurz vor dem Zentrum steht ein riesiges Gebäude, dessen Form an eine Pickelhaube erinnert. Davor sind Panzer und Raketenwerfer aufgereiht. Das staatliche Waffenmuseum, im Volksmund „Helm Tulas“ genannt, ist neben dem örtlichen Kreml, der historischen Burganlage, eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt.

120 Milliarden Euro Rüstungsausgaben

Auf internationale Exportschlager wie Kalaschnikow-Sturmgewehre, Panzer und Kampfflugzeuge war Russland auch vor 2022 schon stolz. Doch waren die Verkäufe in den Jahren vor dem Überfall deutlich zurückgegangen, weil Hauptkunden wie China und Indien sich umorientierten und ihre eigene Produktion ausbauten. Dann kam der 24. Februar 2022, und Russland begann, seine Waffenfabriken mit Staatsaufträgen zu überschütten. Von Jahr zu Jahr stiegen die Rüstungsausgaben, in diesem Jahr sollen es umgerechnet rund 120 Milliarden Euro sein. Das ist beinahe viermal so viel wie 2022, macht knapp ein Drittel des gesamten Staatshaushalts aus und entspricht etwa 7 bis 8 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Die Rüstungsbetriebe fingen 2022 damit an, in drei Schichten und rund um die Uhr zu produzieren. Da in Russland schon vor 2022 wegen der schlechten demographischen Lage Arbeitskräfte fehlten, wurden Mitarbeiter aus anderen Branchen abgeworben, vor allem mit höheren Löhnen, aber auch mit der Aussicht, vor einer Einberufung an die Front geschützt zu sein. Zusätzlich locken viele Rüstungsfirmen bis heute mit weiteren Vergünstigungen wie Wohnungen oder Urlaubsreisen ans Schwarze Meer; manche bieten Prämien an, wenn Mitarbeiter selbst neues Personal anwerben.

Neue Wohn- und Ferienhäuser

Tula sei eine der wichtigsten russischen Regionen derzeit, sagt Irina Bussygina, Politikwissenschaftlerin und Ökonomin, die bis zum Februar 2022 an der Higher School of Economics in Sankt Petersburg russische Außenpolitik unterrichtete. Nach dem Überfall habe sie das nicht mehr gekonnt, sagt sie. Mittlerweile lebt sie in Boston, wo sie an der Harvard-Universität arbeitet. Sie beschäftigt sich seit Langem mit der Beziehung zwischen dem Machtzentrum Moskau und den russischen Regionen. Nun untersucht sie, was sich daran durch den Krieg gegen die Ukraine verändert.

Tula zeige beispielhaft, wie die russische Kriegswirtschaft funktioniere, sagt Bussygina. So würden dort neue Wohn- und Ferienhäuser für die Angestellten der Waffenfabriken gebaut, nach sowjetischem Vorbild, wo die Betriebe für das Sozialleben ihrer Mitarbeiter sorgten, mit Kindergärten, Schulen und Kinos.

Die hohen Ausgaben für die Rüstung führten dazu, dass die russische Indus­trieproduktion deutlich angezogen hat. Der Kreml konnte BIP-Zuwächse von 3,6 Prozent für 2023 und von 4,1 Prozent für 2024 vorweisen. Regionen wie Tula, die sonst im Vergleich zu den ölreichen Gebieten dem Staatshaushalt nicht viele Steuern eingebracht hatten, lieferten auf einmal deutlich höhere Summen: 2023 kamen von dort 103 Prozent mehr Abgaben als noch 2021.

Löhne stark angestiegen

Auch die Löhne stiegen stark an: Nach offiziellen Angaben wuchsen sie 2023 inflationsbereinigt um 8,2 Prozent, im vergangenen Jahr um 9,1 Prozent. Das lässt sich leicht erklären. Die Flucht Hunderttausender Russen vor dem Krieg und die Tatsache, dass weitere Hunderttausende an die Front geschickt wurden, verschärften den Arbeitskräftemangel. So kämpft nun nicht nur der Rüstungssektor, sondern die gesamte russische Wirtschaft mit immer höheren Löhnen um zu wenige Arbeitskräfte.

Viele Wirtschaftsdaten wirken zugleich so, als wäre Präsident Wladimir Putin ein echter Coup gelungen. Den vielen Sanktionen, dem Rückzug westlicher Unternehmen und der Abkehr Europas von russischen Rohstoffen zum Trotz brach Russlands Wirtschaft nicht zusammen, sondern passte sich im Laufe des Jahres 2022 überraschend schnell an die Beschränkungen an. Importe werden nun über Umwege ins Land geholt. Einiges, was früher eingeführt wurde, produziert Russland inzwischen selbst. Der Ölpreisdeckel funktioniert nicht, weil Russlands wichtigste Abnehmer Indien und China ihn nicht akzeptieren. Seit 2023 wächst die russische Wirtschaft wieder, und zwar deutlich schneller als die der meisten westlichen Industrieländer.

Das betont auch Putin immer wieder gerne. Doch zeigen die vermeintlich guten Zahlen nicht, dass es ein Wachstum auf Pump ist. Ökonomen weisen darauf hin, dass das viele Geld, das für die Waffen ausgegeben werde, der Gesellschaft nicht zugutekomme, da die damit geschaffenen Güter im Krieg ja schnell wieder zerstört würden. Zudem werde das Geld nicht in Humankapital und die Steigerung der Produktivität investiert. Um den Krieg zu finanzieren, spart Russland schon am Sozialen, an der Bildung und an der Infrastruktur. Die Folgen davon werden erst in Zukunft sichtbar werden. Doch schon jetzt leiden die meisten Russen unter den Begleiterscheinungen des aufgeblasenen Rüstungsetats, vor allem unter der Inflation, die bei gut 10 Prozent liegt.

Chance, mehr Geld zu verdienen

Während der militarisierte Teil der Wirtschaft auf Hochtouren arbeitet, gibt es andere Branchen, die wegen der Sanktionen und anderer Kriegsfolgen kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Allen voran Russlands Kohleförderung, die in der südsibirischen Region Kemerowo konzentriert ist. Gefallene Weltmarktpreise, die Sanktionen und die durch den Krieg explodierten Logistikpreise bringen manche Betriebe an den Rand des Bankrotts. Auch Regionen, die von der Stahl- oder Holzproduktion leben, leiden unter den Sanktionen.

Wenn ihre Waren nicht kriegswichtig sind, sondern Teil der zivilen Wirtschaft, bekommen solche Betriebe keine staatlich geförderten Kredite, sondern müssen sich zu Marktkonditionen verschulden. Das ist für viele kaum noch zu finanzieren, da die Zentralbank den Leitzins auf 21 Prozent angehoben hat, um die Inflation zu bremsen. Ob diese straffe Geldpolitik überhaupt wirkt, ist keineswegs klar. Zwar scheint sich die Teuerung gerade zu verlangsamen, aber nicht alle Ökonomen sehen ihren Höhepunkt überschritten. Zumindest nicht, solange die Staatsausgaben für die Rüstung so hoch bleiben.

Denn das setzt eine Spirale in Gang: Mit den Löhnen steigt der Konsum. Aber die Produktion kann damit nicht mithalten. Einerseits weil Arbeitskräfte fehlen, andererseits weil Investitionen in neue Werkskapazitäten durch den hohen Leitzins ausgebremst werden und Sanktionen die Anschaffung von Technik und Ausrüstung behindern.

An Inflation sind viele Russen gewöhnt

Ökonomen erkennen in diesen strukturellen Beschränkungen der russischen Wirtschaft Risiken für die kommenden Jahre. Für den Kreml sind sie bisher jedoch kein ernstes Problem. An Inflation sind viele Russen aus den Neunzigerjahren gewöhnt, auch an lange Zeitspannen, in denen die Einkommen eher schrumpften als wuchsen. Und für wirtschaftliche Missstände wird im Land ohnehin nicht Putin verantwortlich gemacht, der gerade versucht, dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump eine Aufhebung oder zumindest Lockerung der Sanktionen abzuhandeln.

Zugleich bietet der Krieg insbesondere armen Menschen die Chance, mehr Geld zu verdienen, als sie sich jemals erhofft haben. Der Kreml, der im Herbst 2022 noch eine unpopuläre Teilmobilmachung verfügte, setzt inzwischen auf die Anwerbung von Freiwilligen. Ihnen werden für den Einsatz an der Front enorme Summen geboten.

Schon das Monatsgehalt von etwa 2000 Euro übersteigt den Durchschnittslohn deutlich. Hinzu kommen Einmalzahlungen sowie Entschädigungen im Fall von Verwundungen und Tod. Besonders aus armen Regionen wie Burjatien und Baschkortostan lassen sich deshalb viele Russen verpflichten. Ökonomisch mache sich das aber in diesen Gegenden kaum bemerkbar, sagt die nach Boston ausgewanderte Wirtschaftsforscherin Bussygina. Die Menschen dort seien an so viel Geld nicht gewöhnt, wüssten nicht, wie sie es anlegen sollten, fielen häufig auf Betrüger herein. So schnell, wie sie das Geld bekämen, würden viele es auch wieder verlieren.

Egal, ob es zu einer Waffenruhe kommt

Bussygina zufolge vollzieht sich die Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft auf den Krieg in Russland derzeit so umfassend, dass sie nur schwer umzukehren wäre. Nicht nur wegen Putins Ideologie eines „Kriegspatriotismus“, sondern auch weil ganze Wirtschaftszweige und ihre Beschäftigten sich an die besonderen Umstände und nicht zuletzt die höheren Löhne gewöhnt hätten.

Dass sich an der Priorisierung des Krieges in Russlands Wirtschaft auf absehbare Zeit etwas ändert, gilt daher als sehr unwahrscheinlich – selbst im Fall einer Waffenruhe, die Putin diese Woche an weitreichende Bedingungen geknüpft hat, oder falls es zu einer längerfristigen Einigung mit Trump über die Ukraine kommen sollte.

Es spiele keine Rolle, ob die Kämpfe eingestellt würden oder nicht, sagt etwa Alexandra Prokopenko, die bis zum Fe­bruar 2022 die russische Zentralbank beriet und nun für die Denkfabrik Carnegie in Berlin arbeitet. Die russische Wirtschaft wird nach ihrer Überzeugung so oder so auf militärische Aufgaben ausgerichtet bleiben. Erstens müssten die durch den Krieg gegen die Ukraine geleerten Waffenarsenale aufgefüllt werden. Zweitens erhöhe die Inflation die Kosten für die Produktion militärischer Güter, weshalb mehr Geld dafür nötig werde. Drittens rüsteten die europäischen Länder auf. Unter diesen Umständen sei es kaum vorstellbar, dass der Kreml den Rüstungsetat kürzen werde.

Irina Bussygina sieht ein weiteres Indiz dafür, dass der Umbau der russischen Wirtschaft und Gesellschaft langfristig angelegt ist – nämlich die Tatsache, dass er auch die Bildung erfasst. Die Botschaft laute: „Seht her, wie wir uns entwickeln können, wenn der Krieg Teil unserer Wirtschaft ist.“ In Tula, der Stadt mit dem Waffenmuseum und der Patronenfabrik, werden inzwischen Umschulungen für die Rüstungsproduktion angeboten und neue Schulen für die Kadettenausbildung eröffnet.