„Die Vegetarierin“ von Han Kang als Protestbuch

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„In den Blicken dieser Menschen, deren Seelen sie verlassen haben, liegt die Sehnsucht, von hier wegzugehen. Hier sind sie eingesperrt.“ Han Kang, die am 10. Dezember in Stockholm den Nobelpreis für Literatur entgegennehmen wird, veröffentlichte 2007 in ihrem Heimatland Südkorea den Roman „Die Vegetarierin“. Als erster ihrer Romane erschien die in einer psychiatrischen Klinik kulminierende Geschichte einer gesellschaftlichen Totalverweigerung 2016 in deutscher Übersetzung.

Es ist gängig, das Werk ökofeministisch oder posthumanistisch zu interpretieren, als Kritik am Anthropozentrismus. Eunjung Kim, die an der Syracuse University im Staat New York unterrichtet, erörtert hingegen in ihrem augenöffnenden Aufsatz „Against Confinement: Degeneration, Mental Disability, and the Conditions of Nonviolence in The Vegetarian“ (in: „Mediating Gender in Post-Authoritarian South Korea“. Hrsg. v. Jesook Song und Michelle Cho, University of Michigan Press 2024) das Schlüsselwerk Han Kangs aus der Sicht der „Disability Studies“ und im Kontext der Minderheitenpolitik und nationalen Krisenrhetorik Südkoreas.

Die Heldin spricht nur in Traumnotaten

In drei Teilen – aus der Sicht ihres konventionellen Ehemanns, ihres Schwagers, eines Body-Art-Künstlers, und ihrer als Kosmetikerin erfolgreichen älteren Schwester In-Hye – erzählt der Roman (die abwesende Heldin selbst kommt nur in Traumnotaten zu Wort) von der pflanzenhaften, asexuellen und suizidalen Existenz der „Vegetarierin“ Yong-Hye und ihrer Metamorphose zu einem Baumwesen. Kim präpariert aus Han Kangs berühmter Rückzugsgeschichte und Genealogie der Begierdelosigkeit eine gewaltlose Form des Widerstands gegen das neoliberal-technokratische Management sexualisierter Körper im Kontext der konsumistischen Anforderungen und Verirrungen der Gesellschaft Südkoreas heraus.

Ein vegetarischer Speiseplan ohne Erklärung wie Religion oder Gesundheit (ihr Mann gibt bei einem für seine Karriere wichtigen Firmenessen, bei dem Yong-Hye als „Killjoy“ auftritt, Gastritis als Grund für ihren Fleischverzicht vor) ist in Südkorea unakzeptabel. Beim Militär gab es lange keine vegetarischen Optionen, und während die Praxis des „Mok-Bang“ – sich beim (Fleisch-)Essen zu filmen und dies live zu teilen – populär ist, finden vegane Beiträge zu dieser Übung kaum Zuschauer.

Generation der sieben Verzichte

Kim zieht als Hintergrund die offizielle Rhetorik zu Weiblichkeit, Geburtenrückgang und Suizidalität heran. Nach dem Kauf einer Eigentumswohnung möchte Yong-Hyes Ehemann Vater werden, aber ihre Verweigerung liegt im Trend der weltweit niedrigsten Geburtenrate Südkoreas. Yong-Hyes Apathie und ihr renitenter Körper, der sich gegen Essen, Sex und Schlaf sperrt, spiegeln die „Asexuality Visibility“-Bewegung. Die Millennials Südkoreas werden als Chilpo Sedae („Generation der sieben Verzichte“) bezeichnet, weil sie Dating, Heirat, Fortpflanzung, Karriere, Wohnung, Hoffnung und soziale Beziehungen aufgegeben haben. Auch liegt Korea als „Suizid-Republik“ (chasal konghwaguk) in den Freitodstatistiken weit vorn, was die Obrigkeit eher zur Sorge ums nationale Prestige bewog als zu Präventionsmaßnahmen, die an objektiven Ursachen ansetzen würden. So wurden am Geländer der als „Selbstmordbrücke“ bekannten Mapo-Brücke am Seouler Fluss „Hangang“ (Han Kangs Name ist homophon mit ihm) inspirierende Sprüche wie „Das Leben ist lebenswert“ angebracht.

Eunjung Kim liest das Leitmotiv der Degeneration als Ursache und Ergebnis von Gewalt. Sie identifiziert einen Konnex zwischen häuslicher Gewalt, Staatsmacht, Biopolitik und Geopolitik, patriarchalen und imperialistischen Strukturen. Han Kang schildert laut Eunjung Kim die Ausgrenzung der Frauen, die als Gefährderinnen nationaler Nachhaltigkeit hingestellt werden. Lesbar macht der Roman auch die impliziten Hierarchien der Arten, Ethnien und Geschlechter. Der Vater schlägt noch seine erwachsenen Kinder, hetzt einen Hund zu Tode, weil sein Fleisch dann angeblich zarter schmeckt, und trägt einen Orden für das Töten von Vietcongkämpfern im Vietnamkrieg. Der nicht einvernehmliche Sex des Ehemannes mit Yong-Hye (sie „starrte an die Decke wie eine der Trostfrauen, die man gewaltsam in die Kriegsbordelle geholt hatte“) hat seine Entsprechung in der klinischen Penetration, wenn die Essunwillige mit Schläuchen zwangsernährt wird.

„Der Mongolenfleck“, der dem zweiten Teil den Namen gibt und den Yong-Hye ungewöhnlicherweise über das Kindesalter hinaus aufweist, symbolisiert asiatische Weiblichkeit. Die Verbindung von Weiblichkeit und Wildnis („Große Schwester! . . . Ich glaube, alle Bäume der Welt sind Geschwister“), die einen Ausweg bietet aus dem domestizierten und institutionalisierten Leben, ist ein typischer Zug der koreanischen literarischen Vorstellungskraft.

„Die Vegetarierin“ ist eine gewaltlose belletristische Anklageschrift gegen Pathologisierung, ableistische Ausgrenzung und als Güte und Pflege getarnte Gewalt – und eine zärtliche Ode an degenerierende und verwelkende Körper.