Die Folgen des Berliner Schuldenpakets

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Verteidigungsausgaben, die ein Prozent der Wirtschaftsleistung überschreiten, unterliegen nicht mehr der Schuldenbremse. Sie können künftig also mit zusätzlichen Krediten finanziert werden. Der Verteidigungsbegriff wird dabei weiter gefasst als bislang, auch die Ausgaben für den Zivil- und Bevölkerungsschutz, die Nachrichtendienste, die IT-Sicherheit und die Hilfe für „völkerrechtswidrig angegriffene Staaten“ zählen dazu. Daneben hat der Bundestag einen 500 Milliarden Euro großen Schuldentopf – der Fachausdruck lautet Sondervermögen – beschlossen, aus dem über einen Zeitraum von zwölf Jahren zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und in das Erreichen des Ziels Klimaneutralität 2045 finanziert werden sollen. 100 Milliarden Euro davon sollen in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) fließen, 100 Milliarden Euro an die Länder.

SPD-Chef Lars Klingbeil sprach am Dienstag im Bundestag von dem „vielleicht größten Paket in der Geschichte unseres Landes“. Die Höhe der zusätzlich möglichen Schulden könnte, je nach dem, wie sehr die Verteidigungsausgaben gesteigert werden, eine Billion Euro überschreiten. Zum Vergleich: Als die Energiepreise im Jahr 2022 wegen des Ukrainekriegs in die Höhe schossen, stellte der Bund für die Energiepreisbremsen und andere Maßnahmen 200 Milliarden Euro bereit. In der Coronapandemie wurde der Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit 600 Milliarden Euro gefüllt, von denen aber nur ein Bruchteil gebraucht wurde. Die Kehrtwende von CDU-Chef Friedrich Merz vom Verteidiger der Schuldenbremse zum Verfechter einer weitgehenden Lockerung erinnert an die Zeit nach der Wiedervereinigung. Vor der Wahl 1990 hatte Helmut Kohl (CDU) Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit ausgeschlossen, nach der Wahl kam der Solidaritätszuschlag.

Wie viel Spielraum verschafft sich Schwarz-Rot im regulären Haushalt?

Bei einer erwarteten Wirtschaftsleistung von 4400 Milliarden Euro für 2025 entspricht ein Prozent 44 Milliarden Euro. Für den klassischen Verteidigungsetat waren für 2025 im Haushaltsentwurf 53 Milliarden Euro angesetzt. Addiert man die übrigen Posten von Zivilschutz bis Ukrainehilfen dazu, dürften es 63 Milliarden Euro sein. Rund 19 Milliarden Euro lassen sich nach der neuen Regelung also mit Schulden finanzieren und können im Haushalt anderweitig verplant werden. Beim Sondervermögen Infrastruktur und Klimaschutz gelten Investitionen, die zehn Prozent des Ausgabevolumens des Haushalts überschreiten, als „zusätzlich“ und können aus dem Schuldentopf kommen. Aktuell beträgt diese Schwelle 49 Milliarden Euro. Laut FDP schafft das im Haushalt vier Milliarden Euro Spielraum.

Haben die Grünen sich durchgesetzt?

Die Grünen haben erreicht, dass 100 Milliarden Euro des Sondervermögens in den Klima- und Transformationsfonds fließen und das Ziel „Klimaneutralität 2045“ explizit als einer der Zwecke des neuen Sondervermögens genannt wird. Ihren Plan, dass erst Verteidigungsausgaben von mehr als 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung mit Schulden finanziert werden können, haben die Grünen indes nicht erreicht. Zudem haben sie durch die Ausweitung des Verteidigungsbegriffs dafür gesorgt, dass Schwarz-Rot zusätzlichen Spielraum im Kernhaushalt bekommt. Dabei wollten sie dieses „Spielgeld“ für Mütterrente, Pendlerpauschale & Co. eigentlich vermeiden.

Wie sehr wird das Paket das Wirtschaftswachstum ankurbeln?

Die zusätzlichen Milliardenausgaben werden die Konjunktur sichtbar beleben. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) erwartet 2026 ein Zusatzwachstum von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und erhöht seine Prognose für das kommende Jahr deswegen auf 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Wie stark die Schuldenpakete das Wachstumspotential Deutschlands mittelfristig stimulieren können, ist aber umstritten. Das hängt stark davon ab, wie sehr das Geld Forschung und Innovationen anstößt, von Bürokratieabbau begleitet wird und die Infrastruktur in einen Zustand versetzt, von dem die Unternehmen nachhaltig profitieren können.

Pistorius, Klingbeil und Merz im Deutschen Bundestag
Pistorius, Klingbeil und Merz im Deutschen Bundestagdpa

Was bedeutet das für Schuldenquote und Zinsaufwand?

Kurzfristig erwarten die Kieler Ökonomen, dass der Schuldenstand gemessen am Bruttoinlandsprodukt von 63,3 Prozent (2024) auf 65,4 Prozent (2026) steigen wird. Allerdings ist unklar, wie hoch die Mehrausgaben für Militär mittelfristig ausfallen werden. Lars Feld, der frühere Vorsitzende des Sachverständigenrates, kalkuliert für die kommenden zehn Jahre großzügig mit 1,8 Billionen Euro. Bei einem nominalen Wachstum von 2,5 Prozent würde das zu einer Schuldenquote von 90 Prozent führen. Das entspräche dem heutigen Durchschnittswert im Euroraum. Bei einem Zinssatz für Bundesanleihen von 2,5 Prozent würden die Zinszahlungen des Bundes in diesem Szenario laut Feld auf 250 Milliarden Euro im Jahr steigen, bei einem Zinssatz von vier Prozent auf 400 Milliarden Euro.

Welche Infrastrukturprojekte sind die dringendsten?

Die Zeiten knapper Kassen und knapper Planung sind für die Deutsche Bahn vorbei: Schon die Ampelregierung hat eine stärkere Zahlungsbereitschaft signalisiert, deshalb ist der Staatskonzern schon im Sommer 2023 mit einem ambitionierten Sanierungsprogramm von 40 stark belasteten Hochleistungskorridoren an die Öffentlichkeit gegangen. Dafür laufen die Planungen auf Hochtouren, im August startet eine umfangreiche Generalüberholung der Strecke zwischen Hamburg und Berlin, deren Kosten sich auf mindestens 2,2 Milliarden Euro belaufen werden. Auch der öffentliche Nahverkehr in den Kommunen muss dringend ausgebaut werden, die Busflotten von Diesel auf Elektro umgestellt werden. Im neu aufgelegten Brückenprogramm hat Bundesverkehrsminister Volker Wissing (parteilos) 4000 Brücken identifizieren lassen, die dringend saniert oder erneuert werden müssen. Ein Dauerbrenner ist der Ausbau und die Anpassung des Stromnetzes. Wie teuer dieser wird, hängt davon ab, ob Schwarz-Rot an den einst beschlossenen Erdkabeln festhält oder stärker auf Überlandleitungen setzt. Noch ganz am Anfang steht der Ausbau und die Dekarbonisierung der Wärmenetze. Bis Mitte 2026 sollen Großstädte mit ihrer Wärmeplanung fertig sein, kleinere Städte Mitte 2028.

Wie wichtig sind staatliche Investitionen überhaupt?

Staatliche Investitionen machten zuletzt zwölf Prozent der gesamtwirtschaftlichen Investitionen aus. Größer Investor sind die Kommunen. Ökonomen wie Ifo-Chef Clemens Fuest pochen wegen des vergleichsweise kleinen Anteils darauf, dass mit dem Staatsgeld private Investitionen angeregt werden, zum Beispiel durch Zuschüsse, sogenannte tax credits, wie sie die SPD fordert. Darüber hinaus können staatliche Investitionen aber auch ohne zusätzliche Geldflüsse Privatinvestitionen auslösen: Eine neue Brücke kann zum Beispiel neue Unternehmensansiedlungen und Bauvorhaben an Orten ermöglichen, die bislang nicht erschlossen waren.

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Fehlt es bei Infrastruktur und Klimaschutz wirklich an Geld?

Aus dem Klima- und Transformationsfonds wurden 2023 nur rund 56 Prozent der bereitgestellten Mittel tatsächlich abgerufen. Mitunter schreckt das Kleingedruckte der Förderprogramme Bürger und Unternehmen ab, auch monatelange Wartezeiten auf Handwerker verzögern den Mittelabfluss. Der Bau klimafreundlicher Stahlwerke oder von Chipfabriken verzögert sich vielerorts. Die Bahn hätte dagegen schon früher gerne mehr Geld ausgegeben, hatte aber nicht die nötige Planungssicherheit der Politik. Neben Geldsorgen gibt es aber auch andere Hürden für Infrastrukturprojekte – etwa dass Großprojekte regelmäßig den Kosten- und Zeitrahmen sprengen. Das liegt an langen Genehmigungsverfahren und neuen gesetzlichen Vorgaben, die eine Umplanung nötig machen. Auch Klagen von Umweltschutzvereinen und Anwohnern bremsen Projekte aus. Die lange Reihe von enormen Kostensteigerungen bei Projekten der öffentlichen Hand weckt Zweifel, ob die Politik überhaupt an einer realistischen Planung Interesse hat. Nach Jahren der Bauverzögerung lässt sich oft nicht mehr genau sagen: Ist ein Bauprojekt teurer geworden, weil es so lange gedauert hat – oder hat es so lange gedauert, weil alles immer teurer geworden ist?

Hat die Rüstungsindustrie genügend Kapazitäten?

Die börsennotierten deutschen Rüstungskonzerne gehörten zu den ersten Profiteuren, hat doch schon die Ankündigung der milliardenschweren zusätzlichen Verteidigungsausgaben die Aktienkurse nach oben springen lassen. Unternehmen wie Hensoldt, Renk, KNDS, Diehl oder Rheinmetall sind aber schon seit Kriegsausbruch in der Ukraine im Ausnahmezustand. Sie alle bauen Kapazitäten auf, suchen neue Mitarbeiter und schauen sich selbst in anderen Branchen nach Wachstumsmöglichkeiten um. Etwa mit der Automobilindustrie und ihren Zulieferern gibt es Gespräche über mögliche Übernahmen, entweder von Personal oder sogar von ganzen Werken. Die Kapazitätssteigerung steht und fällt mit den tatsächlichen Aufträgen. Der Dax-Konzern Rheinmetall etwa hat sein mögliches Wachstum je nach Anteil der Verteidigungsausgaben vom Bruttoinlandsprodukt modelliert. Sollten sie auf 3,5 Prozent vom BIP steigen, rechnet der Vorstandsvorsitzende Armin Papperger mit einer abermaligen Verdoppelung der Kapazitäten. Das Selbstvertrauen in der Rüstungsindustrie ist groß, auch eine Masse an zusätzlichen Aufträgen abfertigen zu können. Am Ende wird auch das eine Frage des Preises.

Welche Folgen gibt es für die Klimaschutzpolitik?

Sie wird gestärkt, finanziell und verfassungsrechtlich. Klimaneutralität bis 2045 steht als Zieldatum erstmals im Grundgesetz, nicht als Staatsziel, aber mit großem symbolischen Gewicht. Der Klima- und Transformationsfonds stand zuletzt finanziell unter Druck, die Rücklage ist auf sechs Milliarden Euro gesunken. Der KTF fördert die energetische Gebäudesanierung, Wärmenetze, Ladeinfrastruktur oder Anstrengungen zur industriellen Dekarbonisierung. Aus ihm stammen auch die Stromkostenzuschüsse für die Industrie und bislang noch die Förderung gemäß dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Die Ampelkoalition wollte letzteren Posten wieder aus dem Haushalt bestreiten. Wie Schwarz-rot damit verfährt, ist offen. Die beiden Parteien wollen den Strompreis um fünf Cent je Kilowattstunde drücken, die Netzentgelte halbieren. Allein das kostet geschätzt zehn Milliarden Euro, über die Laufzeit von zwölf Jahren 120 Milliarden, mehr als insgesamt vorgesehen.

Welche Möglichkeiten haben die Bundesländer?

Neben ihrem Anteil von 100 Milliarden Euro bekommen die Länder auch noch die Möglichkeit, selbst Schulden aufzunehmen und damit Infrastrukturprojekte zu stemmen. Der Bedarf ist vor allem in den Kommunen groß: Dort sind Schulgebäude, Brücken und Straßen in teils sehr schlechtem Zustand. Aber auch schon vorher hingen Länder und Kommunen in einigen Bereichen am Tropf des Bundes, zum Beispiel bei der Finanzierung des Öffentlichen Nahverkehrs. Dafür zahlt der Bund jedes Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag. Nach Wunsch der Länder soll dieses Geld auch weiterhin aus dem regulären Haushalt fließen. Schließlich ist die Unterstützung von Bussen und Bahn eine Daueraufgabe.