Die Ukraine setzt auf Drohnen, die autonom navigieren und töten können

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Neue Waffen rufen in der Kriegsgeschichte immer nach neuen Abwehrmitteln. Die rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Drohnen ist ein gutes Beispiel dafür.

Eine ukrainische Drohne mit einem Sprengkörper bei einem Testflug.

Eine ukrainische Drohne mit einem Sprengkörper bei einem Testflug.

Valentyn Ogirenko / Reuters

Moderne Kriege sind immer auch ein Laboratorium zur Weiterentwicklung der Waffentechnologie. Der Krieg in der Ukraine ist dabei keine Ausnahme. Im Gegenteil, das Bild des modernen Krieges hat sich dort in nur etwas mehr als zwei Jahren massiv verändert. Auf keinem Gebiet war dabei die Entwicklung so rasant wie bei den Drohnen.

Kleindrohnen als Game-Changer

Die massenhafte Verwendung von billigen Kleindrohnen – meist in der Form von handelsüblichen Quadrokoptern – hat die Kriegführung revolutioniert. Sowohl die Ukrainer wie auch die Russen haben entlang der Front ständig Tausende von kleinen Aufklärungsdrohnen in der Luft, die in Echtzeit Aufnahmen übermitteln und zu einem Schlüsselinstrument zur Überwachung des Gefechtsfeldes geworden sind. Bewegungen des Gegners können so sehr rasch festgestellt werden. Dies macht einen Überraschungsangriff schwierig, vorrückende Truppen können sofort bekämpft werden.

Vor dem russischen Überfall gab es in der Ukraine gerade einmal sechs Hersteller, die – oft mit aus China importierten Teilen – Drohnen produzierten. Inzwischen sind es über zweihundert. Dieses Jahr sollen rund zwei Millionen Stück hergestellt werden. Zudem werden die Drohnen technisch laufend verbessert. Seit letztem Sommer werden massenhaft sogenannte FPV-Drohnen verwendet, also Drohnen, bei denen der Pilot das Geschehen mit einer Videobrille verfolgt, die in Echtzeit die Aufnahmen der Kamera der Drohne übermittelt. Der Pilot kann damit das unbemannte Fluggerät so steuern, wie wenn er selber mitfliegen würde, und so Aufklärung betreiben oder gegnerische Truppen angreifen.

Ein ukrainischer Soldat lenkt eine FPV-Drohne über seine Videobrille an der Front bei Charkiw. Aufnahme vom vergangenen Mai.

Ein ukrainischer Soldat lenkt eine FPV-Drohne über seine Videobrille an der Front bei Charkiw. Aufnahme vom vergangenen Mai.

Evgeniy Maloletka / AP

Ausserdem werden Drohnen nun auch mit Nachtsichtgeräten bestückt, so dass der Pilot auch in der Dunkelheit etwas sehen kann. Inzwischen wird an der Technologie gearbeitet, damit Drohnen auch untereinander kommunizieren können. So könnte ein Pilot nicht nur eine einzelne Drohne, sondern einen ganzen Schwarm von Drohnen führen.

Ein Ukrainer in der Region Charkiw bereitet eine Drohne mit Nachtsichtgerät für einen nächtlichen Überwachungsflug vor.

Ein Ukrainer in der Region Charkiw bereitet eine Drohne mit Nachtsichtgerät für einen nächtlichen Überwachungsflug vor.

Libkos / Getty Images Europe

Abwehrmittel gegen die Drohnen

Die ständige Verbesserung der Drohnen hat nach Gegenmitteln zu deren Bekämpfung gerufen. Die Russen haben beispielsweise Techniken entwickelt, um Drohnen mit konventionellen Gewehren abzuschiessen. Auch gibt es Versuche, Laserwaffen zur Abwehr von Drohnen zu bauen. Diese sind allerdings noch nicht über das experimentelle Stadium hinausgekommen.

Viel wichtiger sind zurzeit aber Techniken der elektronischen Kriegführung, ein Gebiet, auf dem die Russen als besonders stark gelten. Es geht dabei darum, die Kommunikation mit der Drohne zu stören und diese dadurch fehlzuleiten oder zum Absturz zu bringen. Hauptsächlich drei Methoden stehen zur Verfügung.

Ein einfaches, aber effektives Mittel ist ein Störsender (englisch «jammer»), der die Kommunikation zwischen dem Piloten und der Drohne unterbricht, indem er starke Signale auf denselben Frequenzen aussendet. Dadurch wird die Übertragung eines Signals unmöglich.

Eine andere wichtige Methode ist das Senden von Signalen, die vorgeben, von einem Sender zu stammen, von dem sie in Wirklichkeit gar nicht kommen («spoofing»), etwa von einem Satelliten. So kann eine Drohne beispielsweise durch Empfang falscher GPS-Daten meilenweit vom Kurs abkommen und letztlich irgendwo zerschellen oder gar eigene Truppen angreifen.

Eine dritte Methode ist, nach einem Ursprungsort zu suchen, von wo häufig elektronische Signale abgesetzt werden. Dies ist insbesondere von Nutzen, um den Aufenthaltsort von Drohnenpiloten zu finden und diese nachher mit Drohnen oder Artilleriebeschuss auszuschalten.

Massnahmen gegen die elektronische Kriegführung

Die Störung der Kommunikation zwischen dem Piloten und der Drohne durch elektronische Kriegführung kann bis zu einem gewissen Grad durch ständigen Wechsel der Frequenzen und durch Anpassung der Antennen verhindert werden. Doch letztlich handelt es sich dabei um ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Drohnen ständig Gefahr laufen, vom Gegner unbrauchbar gemacht zu werden.

Ein ukrainischer Drohnenpilot lenkt eine FPV-Drohne in der Region von Donezk. Störsender der Russen können die Drohne unbrauchbar machen.

Ein ukrainischer Drohnenpilot lenkt eine FPV-Drohne in der Region von Donezk. Störsender der Russen können die Drohne unbrauchbar machen.

Inna Varenytsia / Reuters

Deshalb wird nun versucht, die Kommunikation unnötig und so die elektronische Störung nutzlos zu machen. Dazu müssen autonom navigierende Kamikazedrohnen entwickelt werden, die selbständig ein Ziel finden, sich daran «anheften» (falls es sich bewegt) und dieses schliesslich selbständig zerstören können.

Ernsthafte Bemühungen, autonome Drohnen zu entwickeln, begannen in der Ukraine im letzten Sommer. Inzwischen gibt es dort etwa ein Dutzend Firmen, die daran beteiligt sind, beispielsweise die beiden Drohnenhersteller Wiri und Saker. Letztes Jahr gab es grössere Verzögerungen wegen Problemen bei der Entwicklung der Flugsteuerungssoftware. Doch nach Aussagen des ukrainischen Ministers für Digitalisierung, Michailo Fedorow, hat inzwischen die Massenproduktion von autonomen Drohnen begonnen, und diese sollen bereits intensiv auf dem Schlachtfeld getestet werden.

Die ukrainischen Firmen verwenden unterschiedliche Technologien. Wiri benutzt Algorithmen der computergesteuerten Bildverarbeitung, welche die von der Kamera der Drohne gemachten Aufnahmen in Echtzeit analysieren und interpretieren und so dem auf der Drohne installierten Computer die Daten für Entscheidungen liefern.

Andere Technologien sind noch komplexer und nutzen beispielsweise Deep Learning, um Software zu entwickeln, die Angriffsziele identifizieren kann. Deep Learning ist eine Methode der künstlichen Intelligenz, welche die Verarbeitung von komplexen Informationen ermöglicht und so Vorhersagen und Entscheidungen zu treffen möglich macht. Die Software wird mit Daten von Flugsimulatoren und Drohnenflügen an der Front gefüttert, um sie laufend zu verbessern. Laut Aussagen von ukrainischen Regierungsbeamten und Videoaufnahmen, die von der «New York Times» verifiziert wurden, sind autonome Drohnen bereits vereinzelt an der Front gegen russische Ziele eingesetzt worden.

Gefahren der Entwicklung

Die Entwicklung von Drohnen, die selbständig Ziele erfassen und töten, wirft wichtige ethische Fragen auf. Seit Jahren laufen im Rahmen der Uno und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Gespräche, um solche Killer-Roboter zu verbieten oder zumindest ihre Verwendung zu regulieren. Doch in der gegenwärtigen konfrontativen geopolitischen Lage besteht wenig Aussicht auf ein internationales Abkommen.

Nicht nur die Ukraine und Russland, auch die USA, China, Israel und weitere Staaten forcieren die Entwicklung von Drohnen und anderen autonomen Kampfmaschinen, wie beispielsweise mit Maschinengewehren ausgerüsteten Bodenrobotern. Es ist dabei ein weltweiter Wettlauf zu beobachten. Das Pentagon etwa hat die Replicator-Initiative gestartet, die unter anderem auf die Massenproduktion von autonomen Drohnen abzielt.

Ein ukrainischer Drohnenpilot fliegt eine Kamikaze-Drohne. Noch wird der überwiegende Teil der Drohnen von Menschen gesteuert. Doch die Entwicklung autonom agierender Drohnen kommt rasch voran.

Ein ukrainischer Drohnenpilot fliegt eine Kamikaze-Drohne. Noch wird der überwiegende Teil der Drohnen von Menschen gesteuert. Doch die Entwicklung autonom agierender Drohnen kommt rasch voran.

Libkos / Getty Images Europe

Für die ukrainische Militärführung ist die Entwicklung autonomer Drohnen mit der Hoffnung verbunden, dass sich das Kriegsglück wenden könnte, wenn es ihr gelingt, die Russen bei der Entwicklung dieser Kampfmittel zu überflügeln. Dies angesichts der Tatsache, dass die ukrainische Offensive im letzten Jahr gescheitert ist und die Russen inzwischen wieder an mehreren Fronten Druck machen. Ethische Bedenken sind dabei für die Ukrainer sekundär angesichts der Notwendigkeit, einen existenzgefährdenden ausländischen Invasor zu vertreiben.

Ausserdem könnte der massenhafte Gebrauch autonomer Kampfmaschinen eines der grossen Probleme der ukrainischen Armee entschärfen: den Mangel an Soldaten angesichts des scheinbar grenzenlosen Nachschubs an Wehrmännern auf russischer Seite. «Wenn wir den Punkt erreichen, an dem wir nicht mehr genug Leute haben, besteht die einzige Lösung darin, sie durch Roboter zu ersetzen», meint einer der Gründer der Drohnenfirma Saker.