Ein altes Gefängnis dient ihnen als Unterschlupf

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Auf dem Stadtplan von Palma tauchen immer mehr rote Punkte auf. Fast 40 sind es schon in Mallorcas Inselhauptstadt. Sie markieren auf der Karte die Stellen, an denen sich Wohnungslose niedergelassen haben. Einige sind sogar freiwillig in ein altes Gefängnis gezogen, um wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Haftanstalt mit Wachtürmen und Stacheldraht liegt an der Landstraße nach Valldemossa und Sóller. Jeden Tag fahren Touristen, die in Palma Urlaub machen, in Bussen und Leihwagen vorbei.

Seit Jahren steht das Gefängnis aus der Franco-Zeit leer. Meterhoch sind die Mauern mit grell bunten Graffitis übermalt, der Betonboden ist von Müll übersät. In die offenen Zellen sind Menschen eingezogen, die sich draußen keine Wohnung mehr leisten können. Niemand kennt ihre genaue Zahl. Schätzungen schwanken zwischen 60 und 200. „Das ist immer noch besser hier als im Winter auf der Straße“, sagt eine wenig gesprächsbereite Frau durch ein vergittertes Fenster.

Wohnmobile sind noch luxoriös

Gleich neben dem Gefängnistor liegen eine Tierarztpraxis und eine Schule. Trotzdem ist das Wohnviertel mit seinen Neubauten für die neuen Insassen unerreichbar weit weg. Mehr als tausend Menschen leben wie sie in Palma in Barackensiedlungen, Zelten und unter Brücken: neben dem Zentralfriedhof, an der Flughafenautobahn und für einige Tage auch an der Uferpromenade. Von der „Bastion des Prinzen“ am Museum für Moderne Kunst, in Sichtweite eines Fünf-Sterne-Hotels und des Yachthafens wurden sie schnell wieder vertrieben. Die Zahl der „sin techo“, der Obdachlosen, hat sich in kurzer Zeit verdreifacht.

Im vergangenen Jahr fielen die vielen Wohnmobile an den Straßenrändern auf. Sie gehören nicht Urlaubern, sondern dienen ebenfalls als Notunterkunft – im Vergleich zu den Zellen im alten Gefängnis sind sie noch luxuriös. Während in diesen Tagen Ausländer für ihren Sommerurlaub eine Finca auf der Insel oder eine Ferienwohnung in der Altstadt von Palma suchen, kämpfen die Einheimischen mit der Wohnungsnot, die sich nicht nur auf den spanischen Mittelmeerinseln immer stärker zuspitzt.

Ein „Schock-Programm“ soll jetzt Abhilfe schaffen. Knapp 5000 neue Wohnungen will die konservative Regional­regierung bauen. Doch es fehlen 91.000 bezahlbare Wohnungen, wie der Immobilienberater Atlas Real Estate Analytics kalkuliert. Wohnungsbauminister José Luis Mateo gesteht gegenüber der F.A.Z. ein, dass der Notplan nur ein erster Schritt sei. Was jahrelang versäumt worden sei, lasse sich nicht über Nacht auf­holen. „Wir müssen dringend das Angebot noch viel mehr vergrößern“, sagt der Politiker, der der konservativen Volkspartei (PP) angehört, die seit 2023 auf den Balearen regiert.

„Es reicht, bleibt zu Hause!“

Sein Ministerium sitzt in einem histo­rischen Palais in der perfekt renovierten Altstadt, in der Nachbarschaft von zwei Luxushotels. Mit ihren Rollkoffern rattern die Touristen durch die engen Gassen, die die meisten Einwohner längst verlassen haben. Viele Mallorquiner wissen nicht mehr, wohin: In den vergangenen beiden Jahren haben die Hausbesetzungen um 40 Prozent zugenommen. Der Wohnungsminister berichtet von mindestens 400 Immobilien, in denen sich „Okupas“, die Hausbesetzer, niedergelassen haben.

In Port d‘Alcúdia im Norden der Insel rückte Ende Februar in einer Ferienan­lage ein privates Räumkommando an. In ein leer stehendes Apartmenthaus waren 150 Familien eingezogen. Unter ihnen waren alleinerziehende Mütter mit Kindern. Viele hatten Arbeit, die jedoch für die Miete nicht reicht. Im Januar war in Cala Bona eine andere Hotelbesetzung be­endet worden.

Auf den Balearen wächst die Frustration. Zwei Großdemonstrationen hatten im vergangenen Jahr Aufsehen erregt. So gingen im Juli 50.000 Menschen mit Plakaten mit Aufschriften wie „Wohnen ist ein Recht, kein Luxus“, „Jedes Airbnb bedeutet eine Familie ohne Wohnung“ auf die Straße. Die Demonstranten riefen dazu auf, dem Tourismus Grenzen zu setzen – vergeblich: Mehr als 18 Millionen Ur­lauber kamen im vergangenen Jahr. Bald könnten es auf der Inselgruppe mit knapp 1,2 Millionen Einwohnern 20 Millionen sein. An diesem Wochenende wandten sich sechs Gruppen in einem Brandbrief direkt an ihre Gäste: „Wir brauchen keine weiteren Touristen. Die Wahrheit ist, ihr seid der Ursprung unseres Problems: Es reicht, bleibt zu Hause!“

Interessengruppen kritisieren die Politik

Unter den Aktivisten der Protestplattform „Menys turisme, més vida“ (Weniger Tourismus, mehr Leben), die zu den Unterzeichnern gehört, ist Ernüchterung eingekehrt. Erst sah es so aus, als habe die konservative Regionalregierung ihre Botschaft verstanden. Denn bis vor Kurzem war die Kritik am Tourismus ein Tabu. Die Inseln leben von den Urlaubern, die jedoch den Einwohnern das Leben immer schwerer machen. Nach dem Regierungswechsel 2023 setzte sich selbst in der wirtschaftsfreundlichen konservat­iven PP die Einsicht durch, dass es so nicht weitergehen kann. Das gibt auch Tourismusminister Jaume Bauzà zu. „Wir haben ein Limit erreicht und müssen unser Modell ändern. Wir müssen bei der Qualität wachsen, und nicht bei der Quantität“, sagt der Minister der F.A.Z.

Die Regierung bat deshalb vor knapp einem Jahr die Vertreter von rund 140 Interessengruppen in Palma an ei­nen „Runden Tisch der Nachhaltigkeit“. Sie diskutieren unter anderem darüber, wie der Tourismus ökologisch und sozial verträglicher werden kann. Aber die ersten haben den Tisch schon wieder verlassen, bevor er Ende Februar einen ersten unverbindlichen Zwischenbericht vorgelegt hatte.

Unter ihnen ist die traditionsreiche balearische Naturschutzorganisation GOB. „Das war nicht glaubwürdig. Wir geben uns nicht dafür her, eine rückschrittliche Politik reinzuwaschen, die vor allem den Unternehmern nutzt“, sagt Margalida Ramis. Die frühere GOB-Vorsitzende ist Koordinatorin der Protestplattform. Aus­löser war ein neues Gesetz, das illegal errichtete Bauten auf dem Land legali­sieren soll. Auch der Dachverband der Nach­barschaftsvereine und das Forum der Zivil­gesellschaft wollen kein politisches Feigenblatt für die konservative Re­gierung sein. Sie wollen einen Systemwechsel.

Maßnahmen nur in homöopathischen Dosen

Das Büro von GOB befindet sich nicht weit entfernt vom Bahnhof der historischen Touristenbahn nach Sóller. Dort planen Ramis und ihre Plattform die Aktionen für dieses Jahr. „Ein Sommer reicht nicht, aber wie haben einiges in Gang gesetzt“, sagt die Aktivistin: „Die Pandemie hat uns gezeigt, dass es verrückt ist, sich vom Tourismus abhängig zu machen. Er ist kein Wachstumsmotor. Das ist auch für unsere Ressourcen selbstmörderisch. Wir müssen in den Markt eingreifen“, sagt Margalida Ramis über die Wohnungsnot, die auch bei den meisten Mitgliedern ihrer Protestplattform das große Thema ist.

Die Regierung hat ihre offizielle Kampagne schnell angepasst. „Als Pioniere der Nachhaltigkeit“, werben die Balearen inzwischen für sich. Doch die Anfang März verkündeten Maßnahmen – auf einmal ist nur von „Eindämmung“, nicht der Reduzierung des Tourismus die Rede – kommen eher in homöopathischen Dosen. Die balearische Steuer für den nachhaltigen Tourismus etwa soll nur in der Hochsaison von vier auf sechs Euro steigen, in der niedrigsten Kategorie auf 2,50 Euro, im Winter fällt sie weg. Das ebenfalls von Besuchern überlaufene Barcelona verdoppelte dagegen gerade seine Touristensteuer: In Luxushotels sind künftig bis zu 15 Euro pro Nacht fällig.

Aus bisherigen Einnahmen aus der Touristensteuer wurden zehn zusätzliche Inspektoren eingestellt. Jetzt machen 30 Kontrolleure des Inselrats, unterstützt vom Finanzamt, Jagd auf illegale Ferienwohnungen, die die Politik ins Visier genommen hat. Allein auf Mallorca soll es nach Schätzungen bis zu 7000 Apartments geben, die nicht über die vorgeschriebene Lizenz verfügen – und ihre Zahl wuchs, obwohl seit 2022 ein Mora­torium für neue Betten in Hotels wie Ferienwohnungen in Kraft ist. Die PP-Regierung droht illegalen Vermietern jetzt mit Geldstrafen bis zu einer halben Million, inselweit will sie die Vergabe neuer Lizenzen in Mehrfamilienhäusern ver­bieten. Doch für all das fehlt der regierenden PP im Regionalparlament eine Mehrheit, seit die rechtspopulistische Vox-Partei ihr Tolerierungsabkommen mit den Konservativen gekündigt hat.

Maklerbüro hat keine Mietwohnungen mehr im Angebot

„Im vergangenen Sommer kamen drei Millionen Passagiere mehr als im Vorjahr am Flughafen von Palma an. Wohin sind sie gegangen? Wirklich nur zu ihren Familien und Freunden, wie sie angaben?“, fragt die stellvertretende Vorsitzende des mallorquinischen Hotelierverbands (FEHM), María José Aguiló. Das Hotelangebot sei in den letzten zwanzig Jahren um sieben Prozent gestiegen. In Ferienwohnungen kamen allein seit 2017 fast 100.000 neue Betten dazu. María José Aguiló nimmt im Gespräch mit der F.A.Z. die Touristen in Schutz, die in Hotels unterkommen: „Das illegale Angebot muss bekämpft werden. Hier ist etwas außer Kontrolle geraten. Besonders durch die Invasion in Wohngebieten und Mehrfamilienhäusern.“

An Bushaltestellen wirbt in Palma eine Kanzlei mit einer Plakatkampagne schon mit einem besonderen Angebot. „Sag NEIN dazu, dass dein Nachbar eines Tages Hans heißt, am nächsten Tag Emily und dann Giuseppe. Wehr dich gegen il­legale Ferienwohnungen“, heißt es neben einem QR-Code. Es gebe viel zu tun. Nach einer Schätzung des Inselrats werden in der Hochsaison bis zu 30.000 illegale Betten angeboten.

Es ist lukrativer, an Ausländer zu vermieten als an Mallorquiner, die ihren Gästen einen perfekten Aufenthalt bereiten sollen. In Palma steht auf einem Schild an einem Maklerbüro an der Plaza de España: „Wegen der großen Nachfrage, die der Sektor derzeit erlebt, haben wir keine Mietwohnungen mehr.“ Auch die Kaufpreise sind regelrecht explodiert. Der Quadratmeterpreis ist höher als in Madrid und Barcelona. Wenn der Kaufpreis für eine kleine Wohnung weniger als 100.000 Euro beträgt, ist sie oft von „Okupas“ besetzt.

Viele Probleme tragen zur Misere bei

Auch zahlungskräftigere Ausländer trugen zu dem Preisanstieg bei. Im vergangenen Jahr machten sie ein Drittel der Immobilienkäufer aus – die meisten von ihnen waren Deutsche. Daniel Arenas hält zwei andere Gründe für die Wohnungsnot für wichtiger. Sie reichen weiter zurück: „In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Bevölkerung auf den Inseln fast verdoppelt. Gleichzeitig hat der Wohnungsbau abgenommen. Vor allem fehlt Bauland, besonders für die Mittelschicht. Selbst ein gutes Einkommen reicht nicht mehr aus“, sagt der Vorsitzende der Maklervereinigung ABINI.

Er berichtet von ersten Kunden, die ihre Immobilien auf den Balearen verkaufen und aufs billigere spanische Festland ziehen. Gleichzeitig stehen Tausende auf den Wartelisten für die wenigen Sozialwohnungen. „Es fehlen 30.000“, sagt Arenas. Dieses Jahr werden trotz des Notprogramms nur 134 neue Wohnungen fertig. Die Schuld an der Misere gibt die rechte PP ihren linken Vorgängern, die den sozialen Wohnungsbau vernachlässigt und viel zu wenig Baugrundstücke ausgewiesen habe.

Vom Dauerstreit der Politiker haben viele Betroffene genug. „Sie interessieren sich doch gar nicht für Leute wie uns“, sagt Ángela Pons. Ihr Haar hat die 64 Jahre alte Köchin blau gefärbt. Sie trägt einen Pulli in leuchtendem Orange, auf den „PAH“ steht. Das ist das Kürzel der Or­ganisation, die für Menschen kämpft, die ihre Hypotheken und Mieten nicht mehr zahlen können. In der Sprechstunde im Stadtteilzentrum Flassaders flössen oft die Tränen, sagt sie – besonders, wenn es um die Kinder geht. „Wir werden eine Generation von geschädigten Kindern haben, weil sie mit ihrer Familie in einem Zimmer aufwachsen.“ Kinder könnten nicht spielen und in Ruhe lernen. Sozialarbeiter berichten von Missbrauch, immer häufiger müsse die Polizei in überfüllten Wohnungen eingreifen.

Vergebens hatte Pons versucht, einer jungen Familie zu helfen. Im Januar war sie bei der Zwangsräumung dabei, bei der eine Familie mit zwei Kindern auf die Straße gesetzt wurde. In solchen Fällen werden die Kinder oft ihren Eltern weggenommen. Sie kommen in ein Heim oder zu einer Pflegefamilie. Laut dem spanischem Sozialrecht dürfen Minderjährige nicht obdachlos sein. Der Rauswurf droht auch Laura, die mit 2000 Euro eigentlich gut verdient. Die Eigentümer haben gerade die Miete der alleiner­ziehenden Mutter auf 1500 Euro verdoppelt. Der einzige Lichtblick in der Sprechstunde ist eine 76 Jahre alte Witwe. Der Rentnerin ist die Wohnung gekündigt worden, in der sie seit mehr als 50 Jahren lebt. Zusammen mit Ángela Pons’ Verein hat sie sich gewehrt und einen Aufschub er­stritten.

Andere geben auf. Während deutsche Pensionäre sich auf den Inseln den Alterstraum erfüllen, kehren Spanier, die mit harter Arbeit Mallorca als Bauarbeiter oder Zimmermädchen zu einer Trauminsel gemacht hatten, in ihre alte Heimat zurück. Für Rentner ohne eigene Immobilie werden die Balearen laut der Gewerkschaft UGT zu teuer. An der Schnellstraße von Palma nach Manacor wählten Aktivisten drastische Worte. „Reiche ausländische Immobilienkäufer, fahrt zur Hölle“, sprayten sie mit roter Farbe auf den großen Stier aus Stahlblech am Straßenrand, der einst für eine Brandy-Marke warb.