Über Trumps Motive lässt sich streiten. Hört man ihm zu, dann geht es vor allem um ihn selbst: Er ist der Dealmaker, er ist der Friedensstifter, er ist der Mann, der mit Putin, Xi Jinping oder Kim Jong-un gut zurechtkommt. Seine Herausforderin Harris hatte schon recht mit ihrer Bemerkung, dass die Diktatoren und Autokraten dieser Welt einen wie Trump mit Schmeicheleien und Gefälligkeiten manipulieren können. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu. Wer dem Präsidenten widerspricht, der wird abgekanzelt und bestraft wie Selenskyj.
Trotzdem wäre es zu einfach, die neue amerikanische Außenpolitik nur auf den offenkundigen Narzissmus Trumps zurückzuführen. Seine Minister haben eine strategische Begründung für den Kurswechsel geliefert, die im medialen Getöse der vergangenen Wochen weitgehend untergegangen ist. Kurz gefasst lautet sie: Amerikas Ressourcen reichen nicht, um sich um alles auf der Welt zu kümmern, deshalb müssen nun Prioritäten gesetzt werden. Die größte davon ist der Umgang mit China, weil nur dieses Land ein „gleichwertiger Konkurrent“ sei, wie es Verteidigungsminister Hegseth formulierte. Um Chinas Position zu schwächen, soll Putins Bündnis mit Xi gelockert werden, wofür es wiederum notwendig sei, den Krieg in der Ukraine zu beenden.
Klassische Machtbalancepolitik
Das ist klassische Machtbalancepolitik, was vielleicht erklärt, warum die Überraschung gerade in Deutschland so groß ist. In solchen Kategorien zu denken hat man sich hierzulande abtrainiert. Überraschend kommt es aber nicht. Die amerikanische Debatte bewegt sich seit vielen Jahren in diese Richtung. Obama war der Erste, der einen Schwenk nach Asien ausrief, er tat Russland einmal als Regionalmacht ab. Auch in Bidens Nationaler Sicherheitsstrategie wurde China als der einzige Wettbewerber dargestellt, der die internationale Ordnung verändern könne. Diese Überzeugung wird im ansonsten so zerstrittenen Washington parteiübergreifend geteilt.
Und noch etwas ist keine Erfindung Trumps. Dass die Europäer mehr für ihre Verteidigung tun müssen, das haben nun schon mehrere Administrationen gefordert. Wie alles, was er macht, inszeniert der Präsident es in Reality-TV-Manier, aber der Kern der Sache ist real: Amerika ist überdehnt, es kann nicht mehr in gleichem Maße die Sicherheit in Europa wie in Asien garantieren, vom Rest der Welt zu schweigen. Die vergangenen Jahre waren eine Zeit des amerikanischen Rückzugs von den Schauplätzen des „Kriegs gegen den Terror“. Daran hielt auch Biden im Grundsatz fest. Amerika ist kriegs- und verantwortungsmüde. Trumps Ansprüche auf Panama, Grönland oder Kanada stehen nicht mal im Widerspruch dazu. Sie knüpfen an die alte Idee von der Beherrschung der westlichen Hemisphäre an. Aus der soll China ferngehalten werden.
Keine Liebesbeziehung
Die transatlantischen Beziehungen wiederum waren nie die Liebesbeziehung, an die sich manche zu erinnern glauben. Schon im Kalten Krieg gab es Streit über Lastenteilung und Taktik. Gerade die (west-)deutsche Linke, die heute von westlichen Werten schwärmt, sah in Amerika lange ein imperialistisches Übel. Nach 9/11 fand der Westen noch einmal zusammen, man sah sich kollektiv vom Dschihadismus bedroht. Das ging aber nicht ohne ernste Zerwürfnisse ab (Irak), nun ist die Sache ganz zerbrochen: Für Europa ist Russland die größere Bedrohung, für Amerika ist es China.
Trump ist anzukreiden, dass er dieses wahrscheinlich unvermeidbare Auseinanderdriften verschärft hat, statt es abzufedern. Im Prinzip wäre eine Debatte über eine neue atlantische Arbeitsteilung durchaus vorstellbar, auch über die Ukraine. Aber dass Trump Kernfragen europäischer Sicherheit über die Köpfe der Europäer hinweg verhandelt und dass er mitten im Krieg die Militärhilfe für die Ukraine aussetzte, das sind gravierende Einschnitte, die beschädigen, was eine Allianz ausmacht: Vertrauen und Rücksichtnahme auf die Interessen der Partner. Man muss die NATO (noch) nicht verabschieden, Europa könnte Amerikas Beitrag derzeit gar nicht übernehmen. Aber die Europäer müssen sich nun auf einen Fall vorbereiten, den sie seit achtzig Jahren nicht mehr kennen: dass sie auf sich allein gestellt sein könnten.
Die Aufrüstung ist nur eine Seite davon, im Grunde sogar die einfachere. Das andere Problem besteht darin, dass Trump Putin eine Normalisierung der Beziehungen in Aussicht stellt, auch wirtschaftlich. Man wird genau hinsehen müssen, wie weit das reicht. Sollte Trump Russland nachhaltig stärken, dazu noch die NATO (weiter) schwächen, dann wäre das eine Verschiebung der europäischen Machtbalance zugunsten Moskaus. Dem müssten die Europäer allerdings nicht tatenlos zusehen. Wirtschaftlich haben sie durchaus Macht, der Hebel sind die Sanktionen gegen Russland. Vorschnell lockern oder gar ganz aufheben sollte man sie nicht. Und auch auf einer Friedenstruppe sollten sie beharren. Eine Waffenruhe hieße nicht, dass Russland nicht mehr abgeschreckt werden müsste.