Mit Brüssel wurde er nicht warm

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Es war ein emotionaler Moment, als Angela Merkel im Oktober 2021 auf europäischer Bühne verabschiedet wurde. „Der Eu­ropäische Rat ohne Angela ist wie Rom ohne Vatikan oder Paris ohne Eiffelturm“, sagte der damalige Ratspräsident Charles Michel. Ein Video, das an ihr Wirken in sechzehn Jahren erinnerte, und eine Botschaft von Barack Obama. Die anderen 26 Staats- und Regierungschefs applaudierten der Kanzlerin im Stehen. Sie werde eine Lücke reißen, hieß es.

Für Olaf Scholz war nichts dergleichen geplant, als er am Donnerstag zu seinem mutmaßlich letzten Europäischen Rat in Brüssel eintraf. Kein Abschied, kein Video, kein Geschenk. Man könne ja nicht wissen, ob es wirklich sein letztes Gipfeltreffen sei, hieß es zur Erläuterung. Der nächste reguläre Rat steht zwar erst Ende Juni an. Davor könnte es noch einen Sonderrat geben, falls die Verhandlungen über einen Frieden in der Ukraine das erfordern. Allerdings kaum vor Ostern – und bis dahin soll die Regierungsbildung in Berlin ja abgeschlossen sein.

Scholz selbst legte wohl auch keinen Wert auf eine Würdigung. „Er wird das hanseatisch zurückhaltend angehen“, hieß es aus Regierungskreisen. „Wir machen unsere Arbeit bis zuletzt, und so soll es auch sein“, sagte er selbst, als er in Brüssel danach gefragt wurde. Es gehe jetzt darum, Dinge voranzubringen, „über die wir jeden Tag mit allen sprechen und bezüglich derer Deutschland seine Aufgabe wahrnehmen muss“. Ty­pische Scholz-Diktion: abstrakt, nüchtern, leicht verquast. So ist er fast immer in den gut drei Jahren aufgetreten. Es war Ausdruck eines Verhältnisses zur Euro­päischen Union und ihren anderen Anführern, das mit dem Wort lauwarm am treffendsten beschrieben ist.

Schon sein erster Auftritt im Dezember 2021 setzte den Ton. Seinerzeit waren viele Staats- und Regierungschefs in heller Sorge über den russischen Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine. In Berlin wurde das heruntergespielt, auch weil der Bundesnachrichtendienst die Lage völlig falsch einschätzte. In Brüssel wurde Scholz mit der Forderung konfrontiert, endlich Nord Stream 2 zu stoppen. Der zweite Strang der Ostseepipeline war fertig, in Deutschland lief das Genehmigungsverfahren. Doch Scholz wiegelte ab. Es handle sich „um ein privatwirtschaftliches Vorhaben“, behauptete er. Darüber entscheide „ganz unpolitisch“ eine Behörde.

Auf die Schenkel klopfen wegen Scholz

Seine Kollegen im Europäischen Rat waren erstaunt, manche gar entsetzt. Selbst Merkel, die das Projekt aufs Gleis gesetzt hatte, war schon weiter gewesen. Die Pipeline dürfe nicht genutzt werden, um die Ukraine zu erpressen, hatte sie gesagt. Scholz wirkte deshalb wie aus der Zeit gefallen. Er habe mit verschränkten Armen dagesessen und zu den Forderungen seiner Kollegen den Kopf geschüttelt, hieß es. Merkel hatte man dagegen anders erlebt. Sie ging auf Kritik ein, führte viele Gespräche, schmiedete Allianzen und suchte nach Auswegen. Eine „Kompromissmaschine“, wie sie ein Regierungschef nannte.

Man könnte den ersten Auftritt als Anfängerfehler verbuchen. Im Februar 2022 wurde das Genehmigungsverfahren für die Pipeline gestoppt – zwei Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. In der Entourage des Kanzlers wurde später ein fortlaufender Witz daraus. Wenn der öffentlich etwas sagte, das so nicht stimmen konnte, oft in verschwurbelter Manier, klopften sich seine Begleiter auf die Schenkel und sagten: Ja, genau, Nord Stream ist ja auch nur ein privatwirtschaftliches Projekt! Auch Scholz konnte sich darüber amüsieren.

Und doch wollte die Irritation nicht verschwinden, mit der er in Brüssel gestartet war. Nach Kriegsbeginn wurde zwar anerkannt, wie der Kanzler ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auflegte und die Ukraine militärisch unterstützte. Trotzdem wirkte er oft eher wie ein Getrie­bener als wie ein Antreiber. Warum Deutschland Kiew nicht auch schwere Artillerie liefere, Leopard-Kampfpanzer, den Taurus-Marschflugkörper, fragten andere. Eine Wahrnehmung setzte sich fest: Deutschland sagt immer Nein, bis es dann doch irgendwann Ja sagt.

Ein Tiefpunkt wurde im Herbst 2022 erreicht. Scholz kündigte stolz sein Paket mit 200 Milliarden Euro an, um Bürger und Unternehmen in Deutschland in der Energiekrise zu entlasten. Die euro­päischen Nachbarn erfuhren von diesem „Doppelwumms“ aus der Zeitung, niemand hatte sie vorgewarnt. Es hagelte dann Kritik von allen Seiten, weil sich Scholz zugleich gegen einen EU-Gaspreisdeckel sperrte. Bei einem informellen Rat in Prag warfen ihm Regierungschefs mangelnde Solidarität, Wettbewerbsverzerrung und Arroganz vor – alles öffentlich. Scholz wollte das nicht wahrhaben. Ihm gegenüber habe das keiner so gesagt, beschwichtigte er.

Scholz und Macron nähern sich beim Frühstück an

Beim nächsten formellen Rat, wieder in Brüssel, machte dann Emmanuel Macron seinem Ärger Luft. „Ich bin seit mehr als fünf Jahren hier, um zu ver­suchen, Vorschläge zu machen, voran­zukommen, Einigkeit zu schaffen“, schimpfte der französische Präsident vor laufenden Kameras. „Und ich denke, dass es nicht gut ist, dass sich ein Land isoliert.“ Gemeint war Deutschland. Brüssel staunte: Dass Paris und Berlin ihre Dif­ferenzen so austragen, hatte man lange nicht mehr erlebt. Diplomaten berichteten von Treffen zwischen Macron und Scholz, bei denen ihnen das Blut in den Adern gefror – so kühl war der Umgang.

Danach wurde das Verhältnis allmählich besser, man arrangierte Frühstücke zwischen beiden Politikern im Hotel, damit sie wenigstens halbwegs abgestimmt in Sitzungen gingen. Wirklich herzlich aber wurde es nie. Andere Europäer hatten sich immer mal wieder darüber beklagt, dass sie von deutsch-französischen initiativen überrascht wurden – etwa als Merkel und Macron in der Corona-Krise gemeinsame Schulden vorschlugen. Doch hörte man nun immer öfter eine andere Klage: dass Berlin und Paris nicht mehr führten und gemeinsame Initiativen ergriffen. Das lag auch an den Streitigkeiten in der Ampelkoalition, die oftmals dazu führten, dass Deutschland sich bei Abstimmungen enthalten musste.

Einmal durchbrach Scholz diese Selbstblockade mit einem Machtwort: als sich die Verhandlungen über die EU-Asyl­reform bei der Einstufung privater Seenotretter in einer Detailfrage zwischen Berlin und Rom verhakt hatten – was vor allem auf die Grünen zurückfiel. Damit machte er den Weg für das Gesetzespaket frei. Große Spuren hinterließ Deutschland darin aber nicht. Während die meisten Mitgliedstaaten auf eine Verschärfung der Migrationspolitik drangen und sich damit durchsetzten, kämpfte Berlin auf verlo­renem Posten. Einer der wenigen Erfolge – dass Asylbewerber nur in sichere Drittstaaten abgewiesen werden dürfen, wenn sie dazu eine Verbindung aufweisen – soll bald wieder gestrichen werden.

Der Kanzler saß wieder mit verschränkten Armen da

Es gab aber auch einen Augenblick, in dem der Bundeskanzler viel Lob erfuhr. Ende 2023 war das, der Europäische Rat wollte die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine eröffnen – alle Staaten, bis auf Ungarn. „Wäre es für dich möglich, wenn wir die Entscheidung treffen, ohne dass du im Raum bist“, fragte Scholz den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Der willigte ein – und verschwand entweder auf dem Klo oder auf einen Kaffee, darüber gingen die Berichte auseinander. Scholz hatte diesen Zug vorher mit Orbán besprochen, ein gesichtswahrender Ausweg. Im Raum konnte dann der Beschluss gefasst werden, weil der Europäische Rat zwar stets im Konsens entscheidet, aber nirgendwo steht, dass immer alle anwesend sein müssen.

Ein halbes Jahr später saß Scholz dann wieder mit verschränkten Armen da. Es ging darum, wie die europäische Vertei­digung gestärkt werden könne. Viele Staaten forderten gemeinsame Schulden wie in der Corona-Krise, Eurobonds, um mit Zuschüssen Rüstungsprojekte von gemeinsamem Interesse verwirklichen zu können. Der Kanzler sagte nur, dass eine solche Subventionierung der Verteidigungsausgaben nicht vorgesehen sei. Diese Debatte läuft freilich immer noch, auch am Donnerstag war das wieder so. Reicht es, wenn die EU-Kommission zinsgünstige Kredite ausgibt, für die sie sich selbst Geld leiht? Staaten an der östlichen Flanke sehen das nur als „ersten Schritt“. Die deutsche Haltung hat sich aber nicht geändert, wie der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß in einer vorbereitenden Sitzung klarmachte. „Mit Blick auf die wiederholte Forderung anderer Mitgliedstaaten nach Eurobonds erklärte ich, zu weiteren Schritten seien wir nicht bereit.“ So steht es in einem internen Bericht, den er nach Berlin kabelte.

In Brüssel hoffen Befürworter von Eu­robonds nun darauf, dass Friedrich Merz am Tisch sitzt, wenn das Thema im Juni wieder debattiert wird. Öffentlich hat der CDU-Vorsitzende bisher nicht erkennen lassen, dass er die deutsche Linie ändern würde. Doch glauben einige, die auch Kontakt mit ihm hatten, dass er sich flexibler zeigen könnte. CDU und SPD hätten ja gerade mit der Änderung des Grundgesetzes bewiesen, dass sie „Dinge vereinbaren, die der traditionellen Haltung widersprechen“, sagt ein Diplomat. „Wir werden da schon eine gemeinsame Linie finden.“