Die jährliche Treibhausgasminderung muss sich verdoppeln, wenn Deutschland seine Klimaschutzziele noch erreichen will. Schätzungen zufolge wurde im vergangenen Jahr eine Reduktion der Emissionen von 48 Prozent im Vergleich zu 1990 erreicht, laut Klimaschutzgesetz sind bis 2030 mindestens 65 Prozent vorgeschrieben. Die bisherige Senkung um durchschnittlich 1,4 Prozentpunkte im Jahr müsse daher in den sechs verbliebenen Jahren auf 2,8 Prozentpunkte anwachsen, heißt es im sogenannten Statusbericht zum Stand der Energiewende, der am Freitag vorgestellt wurde.
Der Studie zufolge geht es unter allen untersuchten Feldern im Ausbau des Ökostroms am besten voran. Allerdings zeigt hier die Tendenz nach unten, weil die Integration der erneuerbaren Energien in den Markt stockt. Äußerst negativ und somit rot eingefärbt in der Ampelsystematik ist die Einschätzung zur Energiesicherheit. So gebe es zu hohe Rohstoffabhängigkeiten, und der Erdgasimport sei noch nicht ausreichend diversifiziert. Im Feld der Versorgungsicherheit erhalten die Netze schlechte Noten, da sie möglicherweise überdimensioniert erweitert würden und weil das sogenannte Engpassmanagement hohe Systemkosten verursache. Mit Rot bewertet wird auch, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Endenergieverbrauch weiterhin niedrig sei und dass die Effizienzfortschritte in Gebäuden weiterhin „weit hinter den Zielen“ zurückblieben.
Viele Dimensionen zum Erreichen der Energiewende „nicht sichergestellt“
Der 2011 von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission gehören die Klima- und Energiewissenschaftler Andreas Löschel, Veronika Grimm, Felix Matthes und Anke Weidlich an. Ihre Aufgabe ist es, „die Umsetzung von Maßnahmen zur Energiewende, insbesondere zur Erreichung der Zielwerte für 2030, mit Blick auf eine sichere, wirtschaftliche und bezahlbare sowie umwelt- und klimaverträgliche Energieversorgung unabhängig zu überprüfen und gegebenenfalls Nachsteuerungsbedarfe aufzuzeigen.“ Das Gremium hat sechs Haupt- und dreizehn Unterkategorien zur Energiewende untersucht, „Dimensionen“ und „Unterdimensionen“ genannt.
In ihrem Bericht kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Energiewende 2024 „lediglich in der Unterdimension Stromversorgung auf einem guten Weg war“. Die meisten Felder seien jedoch gelb markiert, um anzuzeigen, dass „deren Erreichung nicht sichergestellt ist“. Dazu gehört die Dimension „Gesellschaftliche Aspekte“. Damit ist unter anderem gemeint, dass es in der Bevölkerung zwar eine breite Unterstützung für die Ziele der Energiewende gibt, aber auch Kritik an deren Umsetzung. Diese Entwicklung tendiert weiter nach unten. Zur gesellschaftlichen Frage gehört auch die Verteilungswirkung, zu der die Forscher eine „sozial unausgewogene Durchführung der Energiewende“ monieren.
Steuerbare Kraftwerke fehlen und Wasserstoff entwickelt sich stockend
Das Papier analysiert im Schwerpunkt das vergangene Jahr, bezieht aber auch den Beginn des neuen mit ein. „In den letzten Monaten hat sich die Situation bei Netzen, Energiekosten und Treibhausgasemissionen leicht verbessert“, sagte der Kommissionsvorsitzende Andreas Löschel, Inhaber des Lehrstuhls für Umwelt-, Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität in Bochum. „Es gab aber auch Verschlechterungen, die weitere Anstrengungen erforderlich machen, um bei der Energiewende Kurs zu halten.“ Er erwähnte neben der fehlenden Marktintegration der Erneuerbaren auch die Verzögerungen beim „dringend notwendigen“ Zubau steuerbarer Kraftwerke sowie den stockenden Hochlauf beim Wasserstoff. „All das hat die Situation verschlechtert, die Schaffung der passenden Rahmenbedingungen für die Energiewende ist unverändert zu leisten“.
Löschels Beraterstab sieht das Statusupdate auch als Handreichung für die politischen Entscheidungsträger, um sie „zum Regierungswechsel auf den aktuellen Stand zu bringen“. Noch bis Montag tagen die Arbeitsgruppen von CDU, CSU und SPD, um einen Koalitionsvertrag für die künftige Bundesregierung vorzubereiten. Für die Union leitet der energie- und klimapolitische Sprecher der Fraktion, Andreas Jung, die Energie-AG; er wird als möglicher Umwelt- und Klimaminister gehandelt.
Das schwarz-rote Sondierungspapier sieht eine Senkung der Strompreise um mindestens fünf Cent je Kilowattstunden vor. Das soll durch die Halbierung der Netzentgelte und die Beibehaltung der Senkung der Stromsteuer auf das europäische Mindestniveau erfolgen. Um die Preise zu stabilisieren und um Versorgungsengpässen vorzubeugen, planen Schwarz-Rot, mehr gesicherte Leistung („Reservekraftwerke“) bereitzustellen. Bis 2030 will man Gaskraftwerke mit einer Leistung von bis zu 20 Gigawatt errichten. Die Ampel-Koalition hatte in ihrer Kraftwerksstrategie 13 GW vorgesehen.
Niedrige Strompreise haben höchste Priorität
„Der Bau neuer, flexibel einsetzbarer Gaskraftwerke ist für die Energiewende essenziell, um die Versorgungsicherheit zu gewährleisten, dafür ist ein Neustart der Kraftwerksstrategie erforderlich“, sagte Felix Matthes vom Freiburger Öko-Institut. „Dabei sollten die regulatorischen Rahmenbedingungen, zum Beispiel für die Nutzung von Wasserstoff, weniger restriktiv ausgestaltet werden.“ Die Koautorin und Wirtschaftsingenieurin Anke Weidlich, Professorin für Energieverteilung in Freiburg, wies auf die Aufgaben der neuen Regierung hin. „In der kommenden Legislaturperiode besteht großer Handlungsbedarf darin, die Sektoren Gebäude und Verkehr zu dekarbonisieren und die Industrie auf Klimaneutralität auszurichten“, sagte sie bei der Präsentation. „Eine zentrale Strategie hierfür ist die Elektrifizierung.“
Der notwendige Hochlauf von Elektrofahrzeugen, Wärmepumpen und elektrischen Industrieprozessen lasse sich vor allem durch niedrige Energietarife fördern. „Der Senkung der Strompreise, in Verbindung mit einem starken CO2-Emissionshandel, sollte daher höchste Priorität eingeräumt werden“, verlanget die Wissenschaftlerin.
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hält den weiteren zügigen Ausbau der Energieinfrastruktur für nötig, etwa mit Hilfe beschleunigter Planungen und Genehmigungen. Tatsächlich könnte diese Aufgabe nach der Grundgesetzänderung durch Union, SPD und Grüne aus dem 500 Milliarden Euro schweren neuen Schuldentopf („Sondervermögen für Infrastruktur“) finanziert werden. An diesem Freitag will nach dem Bundestag auch der Bundesrat über die Verfassungsänderung abstimmen.
Freileitungen, statt Erdkabel
Grimm machte aber deutlich, dass der Ausbau von Erzeugung und Netzen nicht überdimensioniert erfolgen dürfe. „Der Anstieg der Stromnachfrage bis zum Jahr 2030 könnte aufgrund aktueller Elektrifizierungstrends überschätzt sein“, warnte sie. „Durch eine entsprechende Anpassung der Investitionsentscheidungen könnte der Anstieg der Netznutzungsentgelte im Zeitverlauf reduziert werden.“ Die Kosten des Netzausbaus ließen sich zudem dadurch senken, dass für Gleichstromprojekte Freileitungen vorgesehen würden, statt wie bisher Erdkabel. Zu ähnlichen Empfehlungen waren am Donnerstag der Bundesverband der Deutschen Industrie und das Beratungsunternehmen Boston Consulting Group gekommen.
Bemerkenswert in dem neuen Statusbericht ist das Kapitel zu den Energiekosten. Denn im Gegensatz zur allgemeinen Einschätzung und zum Wehklagen von Verbrauchern und Wirtschaftsverbänden sinken die Preise deutlich – wenn auch von hohem Niveau. Für Privathaushalte hat die Untersuchung ergeben, dass die Durchschnittsstrompreise für Bestandskunden zu Beginn des Jahres 2025 unter das Niveau von 2022 zurückgefallen seien. Für Neukunden seien Tarife von weniger als 30 Cent je Kilowattstunde möglich.
Strompreise sind für Unternehmen und Haushalte 2024 gefallen
Deutschland habe in der Energiekrise die Preissteigerungen „besser abgepuffert als im EU-Durchschnitt“, vermerkt der Report, „jedoch sinken sie seitdem im europäischen Schnitt schneller als hierzulande.“ Zur glimpflichen Entwicklung in Deutschland hätten 2022 der Wegfall der Umlage aus dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) sowie 2024 die Senkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum beigetragen. „Dies führte zu niedrigeren Stromkosten der Unternehmen, was sich positiv auf deren Wettbewerbsfähigkeit auswirkt“, so das Gutachten.
Neuere Zahlen zeigten, dass die Strompreise für die Industrie im Verlauf des Jahres 2024 gefallen seien, „sogar unter das Niveau von 2020“. Für Haushalte weist der Bericht im Jahr 2024 einen Strompreis von 40,92 Cent je Kilowattstunde (kWh) aus. Das war mehr als in den Jahren bis 2022, aber deutlich weniger als 2023 (45,73). Unternehmen mit einem Bedarf von bis zu 20.000 Megawattstunden im Jahr hätten im vergangenen Jahr 16,99 Cent je kWh zahlen müssen, so wenig wie seit 2016 nicht. Der Gaspreis für Privathaushalte habe 2024 durchschnittlich 11,02 Cent je kWh betragen –der geringste Wert seit 2021. Die Höhepunkte waren hier 2022 mit 16,47 und 2023 mit 13,99 Cent. Zu den Gaspreisen für Unternehmen lagen der Studie für 2024 keine Werte vor, aber im Jahr 2023 erreichten sie 7,83 Cent. Das war noch immer viel, bedeutete gegenüber 2022 aber einen Rückgang um mehr als sechs Prozent.