„Wir brauchen eine mentale Zeitenwende“

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Herr Minister, die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann sind das neue starke Duo der Partei, seit sie sich bei der Schuldenbremse gegenüber Friedrich Merz durchgesetzt haben. Gibt in Ihrer Partei jetzt der linke Flügel den Ton an?

Es geht nicht um diesen oder jenen Flügel bei den Grünen, sondern um Politiker, die den Verteidigungs- und Investitionsbedarf über Jahre geleugnet haben und nun innerhalb von zwei Wochen plötzlich zur notwendigen Erkenntnis gekommen sind. Friedrich Merz macht jetzt Schulden in einer Höhe, die sich Robert Habeck in seinen kühnsten Träumen nicht zu machen getraut hätte; diese Regierung hat finanzielle Spielräume, die die Ampel nie hatte. Wir Grünen werden ihr genau auf die Finger schauen, damit dieses Geld auch sinnvoll eingesetzt wird.

Was wollen Sie denn tun, wenn die Koalition sagt: Schade ums Klima, aber die Mütterrente ist wichtiger?

Wir Grünen haben die künftige Koalition erst handlungsfähig gemacht. Sie hat es uns zu verdanken, dass sie künftig mit einfacher Mehrheit wichtige Maßnahmen für die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit beschließen kann. Das ist ein starkes Signal an unsere europäischen Partner, aber auch an unsere Feinde. Wenn die Regierung dann aber sagen sollte, vielen Dank, jetzt wollen wir auch über die Mütterrente, die Pendlerpauschale und den Agrardiesel sprechen, dann müssen sie mit deutlichem Widerspruch rechnen. Wir haben über den Bundesrat genug Möglichkeiten, Entscheidungen zu verändern. Schon, weil bei mir bei der Höhe der Verschuldungsspielräume ein mulmiges Gefühl bleibt.

Die Sondervermögen und die Grundgesetzänderung waren notwendig, sind aber auch eine demokratische Zumutung angesichts der Kürze der Beratungszeit. Ihre Kollateralfolgen sind überhaupt noch nicht zu überblicken. Als Finanzminister weiß ich: Normalerweise kommt die Finanzierungsfrage erst am Ende, wenn man sich über die notwendigen Reformen, Einsparungen und Investitionen schon einig ist. Denn Produktivität und Wachstum kann man mit Schulden allein nicht kaufen. Jetzt ist es umgekehrt, das Geld ist schon da, aber wir wissen noch nicht genau, wofür. Umso wichtiger sind wir Grüne als fiskalpolitisches Korrektiv, um den Reformdruck aufrechtzuerhalten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Wie sieht die denn aus, eine progressive grüne Fiskalpolitik?

Es ist richtig, dass wir jetzt im großen Stil in unsere Verteidigungsfähigkeit investieren. Aber das Geld zu beschaffen, war der leichteste Teil der Aufgabe. Manche tun jetzt ja so, als hätten wir schon richtig was erreicht, dabei haben wir erst einmal nur Voraussetzungen geschaffen. Jetzt geht es um Personal, um mehr europäische Kooperation, um ein schnelleres und effizienteres Beschaffungswesen, das auf hochautomatisierte Drohnen und Satellitentechnik setzt statt auf veraltete Panzer. Neben der Verteidigungsfähigkeit ist die Infrastruktur aber mindestens genauso wichtig. Auch da haben wir bisher nur die Voraussetzung geschaffen, dass wir investieren können. Die Frage ist: Wie?

Vor allem, indem wir schneller bei den Genehmigungen werden und sicherstellen, dass die Gelder wirklich in marode Brücken, Gebäude und Schienen, aber auch in Forschung und Technologie investiert werden. Wir müssen auf allen föderalen Ebenen überprüfen, wie die Verwaltungsverfahren agiler und digitaler werden können. Wenn ich mir das Sondierungspapier anschaue, dann atmet es jedoch den Geist „business as usual“. Das darf nicht passieren. Wenn sich in zehn Jahren herausstellen sollte, dass die Staatsverschuldung um zwanzig Prozent gestiegen ist, die Bürger davon aber keinen spürbaren Mehrwert hatten, dann wäre der Schaden für das Land immens.

Wie kann man verhindern, dass das Geld in den Gremien und Verwaltungen des Föderalismus versickert?

Wenn wir glauben, dass wir das Geld aus den Sondervermögen und der veränderten Schuldenbremse in den bisherigen Strukturen nutzen und einfach für Schienen, Straßen, Kitas und neue Hochschulgebäude ausgeben können, dann werden wir scheitern. Dann werden wir nicht mehr beschaffen und mehr bauen, sondern es werden einfach nur die Preise explodieren und die Summen der nicht getätigten Investitionen ansteigen. Deshalb brauchen wir ein strategisches Beschaffungswesen und eine langfristige Planung beim Kapazitätsausbau. Der Vorteil ist ja jetzt, dass das Sondervermögen für zwölf Jahre gilt. Der Staat und die Unternehmen wissen also, dass Gelder langfristig bereitstehen. Wir müssen die Sanierung also langsam hochfahren, einzelne Projekte herausnehmen und versuchen, bei ihnen schnell das „Deutschlandtempo“ der LNG-Terminals zu erreichen.

An welche Projekte denken Sie?

Neben der Bundeswehr zum Beispiel an die Ertüchtigung der Wärmenetze in den Kommunen. Für solche Projekte sollten einige Rechtsnormen außer Kraft gesetzt werden, wie beim Bau der LNG-Termi­nals nach dem Beginn des Ukrainekriegs. Wenn wir mit den bisherigen Beteiligungs- und Genehmigungsverfahren weitermachen, wird der Sanierungsstau noch größer und werden die Ausgabereste steigen, weil zwar das Geld da ist, aber nicht genügend Kapazität für die Sanierung.

„Wir haben über den Bundesrat genug Möglichkeiten, Entscheidungen zu verändern“: Bayaz über grüne Einflussmöglichkeiten auf die künftige Regierung
„Wir haben über den Bundesrat genug Möglichkeiten, Entscheidungen zu verändern“: Bayaz über grüne Einflussmöglichkeiten auf die künftige RegierungAndreas Pein

Immer mehr Bürger wenden sich vom Staat ab, weil sie ihn für dysfunktional halten. Wie kann das Geld diesen Eindruck schnell verringern?

Das ist ein Dilemma, weil viele Reformen Zeit brauchen, um bei den Bürgern anzukommen. Selbst wenn wir jetzt dauerhaft mehr in die Bahn investieren, wird es dauern, bevor Züge wieder pünktlicher werden. Es gibt aber identitätsstiftende Projekte, bei denen der Staat schnell zeigen kann, dass er verstanden hat. Nehmen Sie das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg und die Krebsforschung insgesamt. Die Forschung dort ist Hochtechnologie, die einen gesellschaftlichen Mehrwert hat, aber durch Innovationen und Biotech-Ausgründungen auch wirtschaftliche Potentiale birgt.

Vielen ist ebenso wichtig, dass es in der Schule nicht mehr hineinregnet oder die Brücken nicht zerbröseln.

Deshalb muss es oberste Priorität haben, die Infrastruktur so herzurichten, dass das Land wieder besser funktioniert. Und da ist meine Hoffnung, dass beim Sondervermögen und der Aufteilung zwischen Bund und Ländern noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Sechzig Prozent der staatlichen Investitionen werden von Ländern und Kommunen bewerkstelligt – es sollen jetzt aber nur zwanzig Prozent des Sondervermögens an sie gehen, gleichzeitig müssen wir jede Steuersenkung mitfinanzieren. Das ist nicht proportional. Wenn bei uns nun mal die Investitionen stattfinden, dann muss das Geld auch für die föderalen Ebenen bereitgestellt werden.

Braucht man für die Priorisierung ein neues Lenkungsgremium zwischen Bund, Ländern und Kommunen, das agiler entscheiden kann?

Die notwendigen Gesetze und Gremien gibt es ja schon. Wir müssen nur entschiedener und weniger rücksichtsvoll werden. Nehmen Sie mal den Netzausbau der unterirdischen Stromtrassen, der extrem teuer ist. Warum? Weil wir beim Ausbau die lokale Akzeptanz bewahren wollen und uns von Bürgerinitiativen ausbremsen lassen. Damit riskieren wir aber die gesamtdeutsche Akzeptanz, weil die Zeche am Ende alle Bürger über teurere Nebenkosten, Netzentgelte und Umlagen bezahlen müssen. Und wir müssen die Mischfinanzierungen beenden, die uns lähmen. Ganztagsbetreuung, Kitaausbau, Deutschlandticket, all diese Dinge sind taktische Manövriermasse zwischen Bund und Ländern. Dafür haben die Menschen kein Verständnis.

Nach der Grundgesetzänderung wird, zum Beispiel für die Wärmewende, viel öffentliches Geld im System sein. Stadtwerke brauchen aber nicht nur viel Geld für die Umstellung der Wärmeversorgung, sondern auch tragfähige Geschäftsmodelle, die für Investoren interessant sind. Wie schafft man da eine Balance?

Wir sollten überlegen, ob man das Geld, das in den Klimatransformationsfonds überführt wird, nicht auch verwenden kann, um die Eigenkapitalbasis der Stadtwerke zu verbessern. Eine bessere Eigenkapitalbasis heißt auch, die Fremdfinanzierung zu erhöhen. Wenn also ein Stadtwerk beispielhaft sein Eigenkapital aufstockt, könnte es dadurch Fremdkapital in mehrfacher Höhe dessen mobilisieren, damit wäre viel gewonnen. Ein zweiter Weg ist die private Altersvorsorge und die Finanzierung der Erneuerung des Standortes über den Kapitalmarkt. Es braucht neben staatlichem Geld jetzt sehr viel privates Kapital.

Die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Katharina Dröge (links) und Britta Haßelmann
Die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Katharina Dröge (links) und Britta Haßelmanndpa

Für den Klimaschutz sollen hundert Milliarden Euro in den jetzt unterfinanzierten Klima- und Transformationsfonds fließen. Was soll damit gefördert werden, E-Mobilität oder die Wärmenetze?

Ich hätte mir gewünscht, dass man sagt, von den hundert Milliarden Euro geben wir fünfzig Milliarden konkret für die Wärmewende aus. Das hätte überall im Land schnell einen Modernisierungseffekt ausgelöst. Von keynesianischer Nachfragepolitik halte ich in der aktuellen Lage wenig. Eine E-Auto-Prämie stimuliert den Konsum nur kurzfristig, hilft aber nicht den strukturellen Herausforderungen der Autoindustrie.

Zur Schuldenaufnahme gehört die Tilgung. Womit finanzieren wir die?

Das Mindeste wäre, den verbliebenen Solidaritätszuschlag für Gutverdiener in einen Verteidigungssoli umzuwandeln. Das wären pro Jahr schon einige Milliarden Euro, auch wenn das Bundesverfassungsgericht hierzu in der nächsten Woche erst noch eine Entscheidung verkünden wird. Wir müssen eines sehr klar sagen: Das Thema Verteidigung hat die jetzige Politikergeneration völlig vermasselt. Wir haben die Friedensdividende über viele Jahre verfrühstückt und das Geld für alles Mögliche ausgegeben. Es wäre zudem möglich, einen Feiertag zu streichen, das haben die Dänen ja gemacht. Mit Blick auf mögliche hohe Margen der Rüstungsindustrie, die jetzt zu erwarten sind, sollten wir auch über eine europäische Übergewinnsteuer nachdenken. Merz hat die Schulden bestellt, er sollte jetzt auch zur Finanzierung Vorschläge machen.

Durch die Festlegung, die Schuldenaufnahme schon beginnen zu lassen, wenn die Rüstungsausgaben ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten, ist der Sanierungsdruck auf den Haushalt gering. Haben Katharina Dröge und Britta Haßelmann da mit zu wenig Nachdruck verhandelt?

Am Ende war es ein Kompromiss. Natürlich wäre hier mehr Ambition nötig. Die Landesverteidigung ist eine Kernaufgabe des Staates, mein Vorschlag wäre deshalb, die Schwelle jedes Jahr um 0,1 oder 0,2 Prozent zu steigern. Angesichts der geopolitischen Lage würden wir damit die Ernsthaftigkeit der Lage unterstreichen.

Wie groß ist die Gefahr, dass in der Bevölkerung das Bewusstsein für die Ausnahmesituation und die Bereitschaft für Zumutungen schnell wieder schwinden? Weil sie sagen: Jetzt gibt’s doch genug Geld, lasst mich mit Sparprogrammen in Ruhe!

Wir haben in diesem Land eine Anspruchshaltung entwickelt, die wir überwinden müssen. Wenn wir in diesem Geist weitermachen und Schulden nutzen, um Reformen und Veränderungen zu vermeiden, statt sie anzugehen, dann werden wir den Bürgern den Ernst der Lage nicht vermitteln können. Nach der militärischen und der finanzpolitischen brauchen wir deshalb auch eine mentale Zeitenwende. Wir brauchen jetzt eine große Reformagenda, die uns allen etwas abverlangen wird. Das ist die Kehrseite des Schuldenpakets. Der Staat muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren und den Menschen wieder mehr Eigenverantwortung zumuten. Hier muss Friedrich Merz führen. Ich wünsche ihm völlig ohne Ironie größtmöglichen Erfolg. Sonst drohen uns österreichische Verhältnisse.