Wer den Beruf wechselt, kann Erfolg haben

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Mit Mitte 30 wollte Katrin Benckendorff-Wichmann raus aus den Küchen der Cafés, in denen sie gearbeitet hatte. Sie wollte noch mal etwas ganz neues machen. „Eigentlich wollte ich mich selbständig machen, aber dafür hat mir der Mut gefehlt“, erzählt sie heute. Dann sprach sie mit ihrem Schwiegervater, einem Arzt. Der gab ihr den Tipp, es mal als Pflegerin im Operationssaal zu versuchen. Ein Praktikum später fing sie mit der Ausbildung an, ihr Mann fing die Lücken im Familieneinkommen auf. „In meiner Klasse waren alle jünger. Die meisten kamen gerade von der Schule. Und ich hatte schon zwei Kinder. Aber das war gut, denn ich wusste genau, was ich wollte, und in der Ausbildung war ich auch noch mal ein bisschen am Nabel der Zeit, der Jugend.“ Heute ist sie zufrieden: Selbst mit Steuerklasse V verdiene sie „okay und fair“.

Was Katrin Benckendorff-Wichmann hinter sich hat, das steht anderen Deutschen jetzt bevor: ein Branchenwechsel. Denn in vielen deutschen Unternehmen kommt es gerade dick. 7500 Stellen sollen bei Audi wegfallen, so hat es der Konzern in der vergangenen Woche angekündigt.

Und Audi ist längst nicht das einzige Unternehmen. Bei Cariad, der Softwareschmiede von VW, werden noch in diesem Jahr 1600 Stellen in Deutschland gestrichen. Bei Puma fallen 150 Stellen weg, bei Adidas 500. Und sogar Deutschlands Pharma-Hoffnung Biontech will in Idar-Oberstein in zwei Jahren 150 Mitarbeiter weniger haben.

Noch schlimmer ist die Lage in kleineren Firmen

Die Abbauwelle, sie schwappt längst nicht mehr nur durch die energieintensiven Industrieunternehmen. Inzwischen wütet die Rezession auch in anderen Branchen. In der Sparte von Siemens, die Fabriken automatisiert, werden allein in Deutschland 2850 Stellen gestrichen, weil nicht mehr so viele Fabriken zu automatisieren sind. Selbst in die einstige Boombranche der Paketdienste frisst sich der Stellenabbau hinein: Die Deutsche Post will künftig 8000 Menschen weniger beschäftigen, weil nicht mehr so viele Pakete verschickt werden wie vorher.

Im vergangenen Jahr galt noch Zurückhaltung. Viele Unternehmen behielten ihre Mitarbeiter lieber, als sie nach Hause zu schicken. Sie hatten Angst, dass sie im nächsten Aufschwung sonst nicht mehr genügend Leute finden würden. Doch diese Sorge ist jetzt offenbar nicht mehr die größte. Allein in diesem Jahr wurden in rund 30 größeren Unternehmen Stellenabbauprogramme bekannt gegeben, die mehr als 36.000 Arbeitsplätze kosten sollen. So zeigt es eine Auswertung des F.A.Z.-Archivs. Da sind die 5000 Stellenstreichungen, die der Stahlkonzern Thyssenkrupp im November angekündigt hat, noch gar nicht mitgerechnet. Und die Bundesagentur für Arbeit weiß: Noch schlimmer ist die Lage in kleineren Firmen, die nicht so im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Dort war der Stellenabbau schon im Herbst in der Breite spürbar.

Gleichzeitig sieht es anderswo auf dem Arbeitsmarkt ganz anders aus. „Es ist in der Tat beides: Wir haben Bereiche, die unter Druck geraten, aber wir haben trotzdem auch enorme Knappheiten“, sagt Enzo Weber, der am Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit den deutschen Arbeitsmarkt unter die Lupe nimmt. Bis heute herrscht in vielen Berufen ein regelrechter Mangel. In der Medizintechnik und der Sozialarbeit, in der Pflege und der Gastronomie sowieso. Selbst im Einzelhandel gibt es heute mehr Stellenanzeigen als vor der Corona-Pandemie, wie vor einigen Wochen eine Auswertung des Jobportals Indeed für die F.A.S. gezeigt hat.

Der Bedarf der kommenden Jahre

Nicht in jeder dieser Branchen sind die Löhne und Arbeitsbedingungen so, wie sie in der Industrie waren. In einigen sind die Löhne aber zuletzt überraschend stark gestiegen. Auch das Handwerk sucht kräftig nach Mitarbeitern. „Die Tür zum Handwerk steht dringend benötigten Fachkräften immer offen“, wirbt der Präsident des Handwerksverbands, Jörg Dittrich.

Und dann kommt der Bedarf der kommenden Jahre: Nachdem die angehende Regierungskoalition ihr großes Schuldenprogramm vergangene Woche durch Bundestag und Bundesrat bekommen hat, stehen große Anschaffungen ins Haus. Die machen Arbeit. Die Rüstungsindustrie wird neue Mitarbeiter brauchen, der Bau ebenfalls. Allein um all das zusätzliche Geld zu verarbeiten, werden die betroffenen Branchen nach Schätzungen von Ökonomen mehrere Hunderttausend Arbeitskräfte brauchen. Obendrauf die Aufgaben, die in der Transformation des Landes sowieso nötig sind: Windkraft, Wasserstoff, Wärmepumpen und Gebäudetechnik zählt Arbeitsmarkt-Forscher Weber auf: „Es gibt für ein Industrieland wie Deutschland genug Felder, wo man richtig was hermachen könnte und wo Deutschland auch führend sein könnte.“ Nur: Wie kommen die Leute dorthin?

In den vergangenen Jahren gab es schon mehr und mehr Branchenwechsler. Kaum ein Beruf hat so viele Quereinsteiger gesehen wie die Erzieher. Auch das trug dazu bei, dass ihre Zahl in den vergangenen zehn Jahren um 340.000 auf mehr als eine Million gestiegen ist.

Karin Benkendorff-Wichmann, die aus dem Café in die Klinik gewechselt ist, will ihren neuen Beruf nicht mehr missen. „Ich lerne immer wieder etwas Neues dazu“, sagt sie. „Ich ärgere mich nur, dass ich das nicht früher gemacht habe.“

Doch das funktioniert nicht für jeden. Nicht jeder, der bisher Getriebe zusammengesetzt hat, wird als Krankenpfleger glücklich – auch wenn in beiden Berufen Schichtarbeit vorkommt und sich die Gehälter gar nicht mehr so sehr unterscheiden. Während einer Umschulung bleiben ohnehin finanzielle Einbußen. Anja Piel aus dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes fordert, die Unternehmen müssten jetzt schon ihre Mitarbeiter besser weiterbilden: „Das Recht auf Weiterbildung muss kommen.“ Und weiter: „Statt über Fachkräftemangel zu schwadronieren, als würde er wie das Wetter über die Arbeitswelt kommen, müssen alle Betriebe endlich ihre vollen Möglichkeiten nutzen, um ihre Beschäftigten für die neue Arbeitswelt fit zu machen.“

Dabei sind große Umschulungen nicht mal immer nötig. Handwerkspräsident Dittrich erinnert daran, dass viele Mitarbeiter der Industrie sowieso im Handwerk gelernt hätten. Weiter: „Industriefachkräfte bringen oft technisches Know-how, handwerkliches Geschick und Problemlösungskompetenz mit, alles gefragte Qualitäten in Handwerksbetrieben.“ Auch Enzo Weber sagt: „Wir müssen nicht die halbe Welt umschulen, denn in der Transformation wird nichts grundsätzlich anderes nachgefragt als vorher. Nur die Anwendungen sind andere.“

RuhestandsrechnerWann kann ich mit der Arbeit aufhören?

Ganz gelegentlich passiert das sogar im Block. In Görlitz gibt in diesen Wochen der Zughersteller Alstom ein Werk auf. Doch es wird nicht geschlossen. Der Rüstungskonzern KNDS will dort künftig Panzer bauen und hat das ganze Werk übernommen. 580 von 700 Mitarbeitern kommen bei KNDS unter.

Oft werden garnicht viele Mitarbeiter entlassen

Arbeitsmarktforscher Weber verweist darauf, dass es heute schon Branchenwechsler gibt, die in benachbarten Berufen unterkommen. Wer einen Beruf aus der Metallverarbeitung gelernt hat, wechselt zum Beispiel oft in die Maschinen- und Fahrzeugtechnik. Aus diesen Berufen wiederum geht es oft in die technische Forschung und Entwicklung. „Wenn Sie Maschinenbauer sind, dann haben Sie mit Sicherheit gute Chancen in der Wasserstofftechnologie, in der Rüstung, in der Windkraft und so weiter. Auch im Heizungsbau wird Maschinenbau gebraucht.“ Nur hätten viele Leute das nicht richtig auf dem Schirm.

Deshalb hat Weber erst vor ein paar Tagen auf einer Führungskräftekonferenz der Arbeitsagentur dafür geworben, dass sich in den einzelnen Regionen Netzwerke bilden, die den Menschen beim Wechsel von einem Unternehmen ins andere helfen. „Es gibt schon entsprechende Programme, zum Beispiel Arbeitsmarktdrehscheiben“, sagt er. „Aber solange man die Erfolgsfälle einzeln aufzählen kann, ist das viel zu wenig.“ Von einer besseren Organisation hätten alle Unternehmen etwas: Die neuen Arbeitgeber bekommen dringend benötigte Mitarbeiter, die alten sparen sich Geld für eine Abfindung – und die betroffenen Mitarbeiter haben weniger Gehaltseinbußen, wenn der alte Arbeitgeber im Übergang zum neuen noch das Gehalt aufstockt.

Oft läuft der Stellenabbau allerdings so, dass gar nicht viele Mitarbeiter entlassen werden. Und ausgerechnet das ist in der aktuellen Situation nicht nur gut.

„All das ist gut gemeint“

Erstens probieren viele Unternehmen, die Mitarbeiter in anderen Sparten einzusetzen, wo noch Personalmangel herrscht, so wie zuletzt Siemens. Zweitens sind die Belegschaften in vielen Betrieben so alt, dass eine Menge Stellen schon eingespart werden kann, wenn Rentner keinen Nachfolger bekommen. Und drittens helfen die Unternehmen mit Abfindungen und Frühverrentungsprogrammen oft kräftig dabei nach, dass Menschen freiwillig gehen. Wer aber erst mal in Frührente ist, der erledigt auch keine Arbeit in einem anderen Unternehmen mehr. Tatsächlich ist es auch jetzt noch so: Wer schon eine Stelle hat, für den ist das Risiko der Arbeitslosigkeit außerordentlich gering, sogar kleiner als in den guten Jahren Deutschlands vor der Pandemie.

„All das ist gut gemeint“, sagt Arbeitsmarkt-Forscher Enzo Weber, „aber es ist volkswirtschaftlich im Moment einfach nicht gut. Wenn wir Deindustrialisierung wollen, machen wir genau so weiter.“

Selbst mit 60 Jahren hätten viele Deutsche eigentlich noch rund sieben Jahre Arbeit vor sich. Härter als Weber ist Holger Schäfer am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Er spricht sich gegen all die Instrumente aus, die gerade einen sanften Übergang in den Ruhestand ermöglichen: die Rente mit 63 oder die Tatsache, dass Arbeitslose über 58 länger Arbeitslosengeld kommen. „Wenn das mit einer Transfergesellschaft und anrechnungsfreien Zeiten der Weiterbildung verknüpft ist, kann sich schon ab einem Alter von 60 ein Übergang in den Ruhestand eröffnen“, stellt Schäfer fest. So bleibt als größte Gefahr, dass Deutschland die wenigen Chancen, die in einem Stellenabbau stecken, auch noch verspielt.