„Singen“, sagt Gunter Kreutz, „ist ungefähr wie spazieren gehen.“ Wenn man durch den Wald laufe, verfliegen schlechte Gedanken – es tut dem Körper gut. Der Professor für Systematische Musikwissenschaften an der Universität Oldenburg erforscht die psychologischen, körperlichen und sozialen Auswirkungen des Singens. So wirke es sich positiv auf die Stimmung aus, geradezu euphorisierend, wenn man beim Singen seinen Körper spürt, die Haltung kontrolliert und die Atmung vertieft. Genauso, wie man es von leichtem Sport kennt. Es gibt Hinweise darauf, dass der Körper beim Singen Glückshormone ausschüttet – darunter das Belohnungshormon Dopamin und das Bindungshormon Oxytocin, das auch beim Kuscheln frei wird.
Glückshormone im Blut
Auch andere Botenstoffe des Körpers werden ausgeschüttet: In einer Studie von 2018 fanden Forscher aus Großbritannien heraus, dass die Konzentration von Endocannabinoiden im Blut nicht nur nach dem Joggen, sondern auch nach körperlich leichter Aktivität wie dem Singen steigt. „Man muss keinen Marathon mehr laufen, sondern man kann eine Weile singen, um ähnliche Effekte für das Belohnungssystem zu erzielen“, sagt Kreutz.
Diese Erkenntnisse lassen sich für die Behandlung von bestimmten Erkrankungen nutzen: So könnte Gesang Patienten mit Depressionen helfen, wie australische Forscher 2022 gezeigt haben. Sie untersuchten bei mehr als 200 an Demenz erkrankten Bewohnern von Pflegeheimen, ob depressive Verstimmungen und Depressionen, die häufig mit dem Abbau der kognitiven Funktionen einhergehen, sich durch Musiktherapie oder regelmäßiges Chorsingen bessern. Tatsächlich steigerte sich die Stimmung derjenigen, die mit anderen sangen – und die Wirkung war nach zwölf Monaten noch spürbar.
In Liedern stecken Erinnerungen
Das Trällern im Chor regt kognitiv, emotional und motorisch an und hilft auch so den Patienten mit Demenz: Singen Patienten zum Beispiel Lieder aus ihrer Jugend, erinnern sie sich wieder an diese Zeit. Und: „Es gibt Hinweise, dass Patienten dadurch umgänglicher sind“, sagt Kreutz. „Sie sind mit ihrer Person mehr im Hier und Jetzt – zumindest bis zu mittleren Stadien von Demenz.“
Bei einer weiteren neurodegenerativen Erkrankung verspricht Singen Linderung: Parkinson-Patienten mangelt es an Dopamin – das Hormon, das der Körper vermutlich beim Singen ausschüttet. Zudem könnten die mit Parkinson einhergehenden Artikulations- und Schluckprobleme gelindert werden. Denn: Die Schluckmuskulatur kann vom Gesang profitieren, sagt Gunter Kreutz. Für Patienten ist es wichtig, diesen Schluckmechanismus zu trainieren: „Singen ist eine Art Physiotraining des Sprechapparats.“ Tanzen Betroffene dazu noch, rege das die Durchblutung des Gehirns an – wodurch sich die Patienten womöglich wieder flüssiger bewegen können.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Einen positiven Effekt könnte Singen auch bei bestimmten Sprachproblemen haben. So leiden Schlaganfallpatienten häufig an Aphasie, einer Wortfindungsstörung, bei der der Sprachfluss verlangsamt ist. Ursache dafür sind beschädigte Sprachzentren im Gehirn. In einer aktuellen Studie hat ein Forscherteam aus Finnland und den USA Patienten mit mindestens leichter Aphasie untersucht. Sie verglichen die Wirkung vom Chorsingen mit einer Standardbehandlung auf das Gehirn der Probanden. Es zeigte sich:In der Gesangsgruppe war die weiße Substanz in verschiedenen Hirnregionen stärker verknüpft. Diese Substanz besteht hauptsächlich aus langen Zellfortsätzen, die von einer Nervenzelle zur nächsten führen. So können Signale zwischen Hirnarealen weitergeleitet werden. Außerdem nahm die graue Substanz in einem Areal der linken Hirnhälfte durch das gemeinsame Singen stärker zu als bei der Standardbehandlung: in der Region, die für die Wortproduktion wichtig ist. Das weist auf einen positiven Effekt für Schlaganfallpatienten mit Aphasie hin. Ärzte behandeln manche Patienten, bei denen die Sprachzentren durch einen Schlaganfall eingeschränkt sind, bereits heute schon mit Gesangstherapie. Bis sich das Sprechen wieder verbessert, dauert es aber häufig mehr als 100 Stunden.
Training für die Atemmuskulatur
Gesang gilt auch als Therapieform für Kinder, die stottern. Denn: Wer singt, spricht in der Regel langsamer, aktiviert seinen Stimmapparat bewusster und verbessert die Atmung. Letzteres erklärt sich dadurch, dass Sänger Lungenvolumen und Luftstrom aktiv ansteuern und ihr Zwerchfell zusammenziehen. Deshalb vermuten Forscher, dass auch Menschen mit Lungenerkrankungen wie COPD, der chronischen obstruktiven Lungenerkrankung, vom Singen profitieren könnten. Infolge von Rauchen gelingt es den Erkrankten häufig nur noch mit Mühe, auszuatmen, und bei fortschreitender Krankheit leiden sie unter Atemnot. Im Jahr 2022 hat ein Forscherteam aus China in einer Metaanalyse gezeigt, dass Singen die Atemmuskulatur kräftigt und die Lebensqualität der COPD-Patienten verbessern kann. Die Lungenfunktion und die körperliche Leistungsfähigkeit steigerten sich bei den mehr als 300 Probanden allerdings nicht.
Aber auch nicht erkrankte Menschen sollten sich die positiven Effekte des Singens bewusst machen: Es scheint davor zu schützen, überhaupt erst krank zu werden. Beim Singen wird nämlich das Immunsystem aktiviert, wie eine Studie anhand von Speichelproben von Amateursängern nahelegt. Nach einer Chorprobe waren auf den Schleimhäuten der oberen Atemwege der Sänger mehr Immunglobuline A nachweisbar als vorher. Diese Antikörper schützen etwa in Nase, Mund und Rachen gegen Krankheitserreger. Wenn die Chormitglieder dagegen nur Musik hörten, blieb die Konzentration der Immunglobuline in ihrem Rachenraum unverändert. Kreutz, der an der Studie mitgearbeitet hatte, bestätigt: Sänger haben gute Chancen, mehr körperliche Widerstandsfähigkeit aufzubauen.
Schwer zu messende Effekte
Warum verschreiben Ärzte das Singen dann nicht längst auf Rezept? Ein genauerer Blick auf die Studienlage verrät: Die Forschungsergebnisse zu Gesang als Mittel gegen Parkinson, Depression und Co. haben ihre Grenzen. Zunächst sind die dabei ausgeschütteten Hormone schwierig zu messen, sodass Forscher die Patienten häufig nur nach ihren subjektiven Empfindungen fragen und mit Fragebögen arbeiten können. Einige Faktoren verzerren zudem die Aussagekraft darüber, ob der Gesang an sich die positiven Effekte bei den Patienten verursacht. Vielleicht wirkt schon das Hören von harmonischem Chorgesang oder die Bewegung des Stimmapparats. Auch das Gemeinschaftsgefühl beim Singen in der Gruppe könnte seine Wirkung tun. Und wenn Patienten mit Depression zu einer Gruppenaktivität hingehen, ist allein das bereits ein Therapieerfolg – denn die Erkrankung macht die Betroffenen häufig antriebslos.
Manche Studien zur Wirkung von Gesang auf die Gesundheit umfassen zudem nur wenige Probanden, bei denen zum Anstieg der Endocannabinoide oder der Aphasie ist das der Fall. „Es gibt bisher nur wenige Studien, die die langfristigen gesundheitlichen Effekte vom Singen epidemiologisch nachgewiesen haben“, bestätigt Musikwissenschaftler Kreutz.
Freude am Musizieren
Einen entscheidenden Aspekt beim Einsatz von Singen hebt Kreutz hervor: Es wirkt in allen Fällen nur dann langfristig, wenn es den Patienten Spaß macht. Nahmen an einer Studie Probanden teil, die ohnehin gerne sangen, lässt sich das Ergebnis nur auf sangesfreudige Menschen übertragen. Und hatten depressive Patienten Lust, in der Musiktherapie zu singen, waren sie schon weiter als andere.
Das wiederum bedeutet, dass die Krankenkassen Gesangsunterricht wohl nicht in den Leistungskatalog aufnehmen werden. Ratsam ist es trotzdem: „Singen lohnt sich in jedem Lebensalter. Singen kennt keine Altersbeschränkung, keine Kulturbeschränkung, aber das Ganze sollte Spaß machen“, sagt Gunter Kreutz. „Singen ist ein nebenwirkungsarmer Zugang zu Glücksgefühlen.“