Eine Tagung über die Gebrauchsweisen von Foucault

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Bruno Latour äußerte sich einmal über das „transatlantische Schicksal“ von Michel Foucault, dessen Genie gerade darin bestanden habe, „noch die winzigsten Bestandteile, aus denen sich Macht zusammensetzt“, genau zu zerlegen. Obwohl „niemand kritischer gegenüber sozialen Erklärungen“ gewesen sei, wurde aus ihm, „kaum war er ins Amerikanische übersetzt“, sofort jemand, der hinter jeder noch so harmlosen sozialen Aktivität Machtbeziehungen „enthüllte“.

Diese entlarvende oder pseudo-aufklärerische Lektüre von Foucault wurde nicht direkt thematisiert auf einer Tagung mit dem Titel „Gebrauchsweisen von Foucault“, die zu dessen vierzigstem Todestag am Centre Marc Bloch in Berlin stattfand. Heike Delitz (Regensburg) und Christoph Burmeister (Innsbruck), die sie organisiert hatten, trugen in ihren einleitenden Worten auch so einen beachtlichen Katalog an Gebrauchs- oder Interpretationsweisen von Foucaults Werk vor. Das war zunächst der quasi hermeneutische Werkkommentar, der den Klassikerstatus berücksichtigte und festigte, sodann die fruchtbare Übertragung von Begriffen oder Methoden in andere Disziplinen, Themen, Zeitschichten. Zwei verzerrende Verwendungsweisen wurden aufgezählt, zum ei­nen die polemische, zum anderen eine „den Sprengmeister einhegende, normalisierende“.

Der offene Tagungstitel mit der Affi­nität zur Liste ermöglichte ein vielfältiges Programm. Die ersten beiden Vorträge eröffneten einen Dialog zwischen Philosophie und anderen Geistes- und Sozialwissenschaften. Frieder Vogelmann (Freiburg) blickte nach vorn: „Philosophie mit und nach Foucault“, während Thomas Ebke (Bochum) zurückblickend nach dem un­gedachten Erbe von Jean Hyppolite, dem akademischen Lehrer Foucaults, in dessen Werk fragte. Hyppolite übersetzte Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ins Französische und war als Hegel-Kenner ebenso einflussreich wie Alexandre Ko­jève; neben Foucault zählen Jacques Derrida, Alain Badiou und Gilles Deleuze zu seinen Schülern. Bei der Sprache, dem Sprechen, dem Diskurs ansetzend, fand er die Einheit des Denkens und Seins im Sinn („sens“). Der Sinn steht dem Diskurs nicht vor, sondern entfaltet sich in seiner Äußerung. Hyppolite bestand auf dem „moi, celui qui parle“, das in die Dimension des hier und jetzt sprechenden Subjekts einen Wirbel der Äußerlichkeit einführt. Davon ausgehend, wollte er die Philosophie mit der Nichtphilosophie in Beziehung bringen, eine Beziehung, die auch bei Foucault immer wieder Thema wurde, auch wenn er dabei nicht auf Hegel, sondern auf Nietzsche zurückgriff.

Muss Regierung sein?

In der Podiumsdiskussion fasste Wolfgang Eßbach (Freiburg) die Entwicklung von Foucaults Werk unter das Motto „essayer de nouveau“ oder „Abbrüche, Neuanfänge“. Nach „Wahnsinn und Gesellschaft“ habe Foucault wieder neu angesetzt, es erschienen 1963 zwei Bücher am selben Tag („Geburt der Klinik“ und „Raymond Roussel“), nach der „Ordnung der Dinge“ habe er wieder neu angefangen und wieder nach dem Gefängnisbuch („Überwachen und Strafen“, 1975). Gerade Letzteres allerdings begründete eine immer noch lebendige Schule des Verdachts („überall ist Macht im Spiel“), doch Foucault war bald wieder woanders mit der selbst dann auch wieder unterbrochenen und später anders weitergeführten „Geschichte der Sexualität“. Am meisten irritierte der Neuanfang bei den Gouvernementalitätsvorlesungen Ende der Siebzigerjahre („Regierung muss sein“). Das Fazit Eßbachs: Es gibt unglaublich viele Foucaults, und mit jedem von ihnen kann man gut arbeiten, sein Werk „ist eine Werkzeugkiste“.

Dem polemischen Gebrauch Foucaults widmete sich Jannik Oestmann (Frankfurt) unter dem Titel „Foucault in Frankfurt. Kanonisierung und Kritik Foucaults am Beispiel der F.A.Z.“. Wie es dazu kam, dass in den feuilletonistischen Debatten der letzten Jahre Foucault polemisch in den Zusammenhang der „Identitätspolitik“ gebracht worden sei, war die allgemeinere Frage. Auch wenn sie nicht erschöpfend beantwortet wurde, erbrachte der Vortrag einen interessanten Überblick über die rechtsrheinische Foucault-Rezeption, gefolgt von einer lebhaften Diskussion.

Auf eine erste Phase (1970 bis 1978) der wohlwollenden Neugier, in der unter anderem die literarische Qualität von Foucaults Texten und das „provozierende Vergnügen“ bei ihrer Lektüre hervorgehoben wurden, folgte eine zweite, die mit Foucaults Tod (1984) einsetzte und von Oestmann als „Deutungskampf“ gedeutet wurde. Konrad Adam, in der Feuilletonredaktion für Bildungspolitik zuständig und spä­ter einer der Gründer der AfD, sprach Foucault weiterreichenden Einfluss ab, während Jürg Altwegg, Frankreichkorrespondent mit Sitz in Genf, in ihm einen würdigen Nachfolger Sartres und Merleau-Pontys sah.

Wir haben seinen Namen verdruckt: Als Michel Foucault am 25. Juni 1984 starb, gab es in der F.A.Z. noch kein Ressort Geisteswissenschaften. Der Nachruf von Konrad Adam war der Aufmacher im Feuilleton vom 28. Juni. Dass er mit 95 Zeilen recht kurz ausfiel, lag auch daran, dass das Feuilleton an diesem Tag wegen eines Streiks der IG Druck und Papier nur eine halbe Seite einnahm, wie im klassischen Zeitalter unter dem Strich. Oben stand der Sport.
Wir haben seinen Namen verdruckt: Als Michel Foucault am 25. Juni 1984 starb, gab es in der F.A.Z. noch kein Ressort Geisteswissenschaften. Der Nachruf von Konrad Adam war der Aufmacher im Feuilleton vom 28. Juni. Dass er mit 95 Zeilen recht kurz ausfiel, lag auch daran, dass das Feuilleton an diesem Tag wegen eines Streiks der IG Druck und Papier nur eine halbe Seite einnahm, wie im klassischen Zeitalter unter dem Strich. Oben stand der Sport.F.A.Z.

Foucault wurde als Ereignis der französischen Geistesgeschichte anerkannt, von einem „Foucault-Effekt“ war auch die Rede in einer Phase der Stabilisierung (von 1990 an), für die der Foucault-Kenner und -Übersetzer Ulrich Raulff stand, der von 1994 bis 2001 im Feuilleton dieser Zeitung tätig war, zuletzt als Ressortchef. Um die Jahrtausendwende wurde es ruhiger um Foucault, von „wachsender Anerkennung“ sprach Oestmann – die „Kanonisierung“ des Titels war erreicht.

Auf dem Umweg über Amerika

Bei den kritischen Voten erweiterte Oestmann das Quellenmaterial über die F.A.Z. hinaus. So hatte Jean Améry bereits 1978 Foucault in der „Zeit“ als „gefährlichsten Gegenaufklärer“ tituliert. Aktuelle und ungerechte Kritik machte Oestmann unter den Stichworten „Postmoderne und Identitätspolitik“ aus. Wo genau der Bruch stattfand, wurde nicht recht klar – war es die Berichterstattung zu einer Foucault-Tagung in Marburg 2012? Damals wurde es als „Zeichen“ der „Arriviertheit“, notiert, „dass die aktuelle Rezeption die Versöhnung mit früheren Gegnern sucht“. 2017 wurde er als Gegenstand einer „Debatte um den Vordenker der Identitätspolitik“ präsentiert, die bereits „neu entflammt“ sei, wegen der Verbindungen zwischen Gouvernementalität und Neoliberalismus. 2021 galt er dem Literaturwissenschaftler Markus Steinmayr als „Säulenheiliger“ und US-amerikanischer „Reimport“. War letztere Charakterisierung aber nicht vielleicht angemessen und plausibel?

Dann wäre es interessant, diesen ideologischen oder „Kultur“-Kämpfen, ja auch dem transatlantischen Schicksal Foucaults und seiner Rückübersetzung in hiesige Debatten genauer nachzugehen, und zwar durchaus in einer „dreistrahligen“ Analyse im Sinne Foucaults (wie sie Vogelmann in seinem Vortrag beschrieben hatte), das heißt entlang der Achsen des Wissens, der Machtbeziehungen und der Subjektivierung. Denn nicht nur wahre und falsche Interpretationen oder „Gebrauchsweisen“ Foucaults stehen sich gegenüber, sondern die Polemik gegen einen identitätspolitischen „Foucault“ antwortet bereits auf Verwendung und Vereinfachung sowie Radikalisierung von „Foucault“ in politischen Auseinandersetzungen, die quer durch verschiedene Ebenen (Theorien, Vorschriften, Praktiken, Aktionen), Disziplinen und Textformen ausgetragen werden, teils aktivistisch oder militant, teils individuell, institutionell und diskursiv. Von „Einfluss“ spricht man traditionell, origineller und soziologischer ließen sich mit dem Begriff der „Übersetzung“ solche Transporte in andere Zusammenhänge und Netze verfolgen.