Die Türkei zwischen Wut und Ohnmacht

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TVor einem Börek-Laden im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa warten Dutzende Menschen in der Schlange. Darunter sind Männer mit langen Bärten und verschleierte Frauen im schwarzen Gewand. Nicht die Art von Menschen, die man gemeinhin mit Anhängern der größten türkischen Oppositionspartei, CHP, in Verbindung bringt. Trotzdem sind sie gekommen, um in einer informellen Wahl ihre Stimme für den inhaftierten Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu abzugeben. Der Börek-Laden dient als Wahllokal. Die Republikanische Volkspartei (CHP) hat zu der Abstimmung aufgerufen.

Auf der einen Seite stehen Urnen für Parteimitglieder, die zum ersten Mal in der Geschichte der CHP ihren Präsidentschaftskandidaten direkt wählen können. İmamoğlu ist allerdings der einzige Kandidat, weil niemand gegen ihn antreten wollte. Auf der anderen Seite stehen Urnen für Nicht-Parteimitglieder, die mit ihrem Wahlzettel ihre Solidarität mit dem Mann bekunden sollen, gegen den ein Gericht am Sonntag formell Untersuchungshaft wegen „Finanzdelikten“ verhängt hat. „Ich habe immer Erdoğan unterstützt, aber wir sehen, was im Land passiert“, sagt ein Rentner vor dem Lokal. Deutlicher will er nicht werden: „Ich will nicht fluchen, weil Ramadan ist.“ Eine Frau neben ihm übernimmt: „Die Verbrecher sind frei und die Unschuldigen im Gefängnis.“ Kasımpaşa ist nicht irgendein Ort in Istanbul. Es ist der konservative Stadtteil, in dem die politische Karriere von Präsident Recep Tayyip Erdoğan begann. Dass er sich selbst hier der Zustimmung der Menschen nicht mehr sicher sein kann, könnte der Grund dafür sein, dass er seinen aussichtsreichsten Kontrahenten hinter Gitter gebracht hat.

İmamoğlu als Bürgermeister abgesetzt

Für İmamoğlu und seine Partei hätte es am Sonntag schlimmer kommen können. Zwar entscheidet ein Istanbuler Gericht, dass er wegen angeblicher Korruption in Haft bleiben muss. Alles andere, wäre eine Überraschung gewesen. Doch in einem zweiten Verfahren wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation befand das Gericht eine Verhaftung „in diesem Stadium nicht für notwendig“. Damit ist aus Sicht der CHP vorerst die Gefahr vom Tisch, dass anstelle des Bürgermeisters ein Zwangsverwalter im Rathaus eingesetzt wird, was nur im Rahmen der Terrorgesetzgebung möglich ist. Die Oppositionspartei hätte dann den Zugriff auf die Ressourcen der türkischen Wirtschaftsmetropole verloren. Zwar verkündet das Innenministerium, dass İmamoğlu als Bürgermeister „vorübergehend“ abgesetzt werde, aber der CHP-dominierte Stadtrat hat das Recht einen Ersatz zu bestimmen. İmamoğlu zeigt sich nach dem Urteil kämpferisch. „Ich werde mich nicht beugen“, schreibt er auf der Plattform X. Ein 112 Seiten langes Vernehmungsprotokoll erweckt vorerst nicht den Eindruck, als gäbe es eine erdrückende Beweislast gegen ihn. Vielfach wird auf anonyme „Zeugen“ verwiesen, die mehr mutmaßen als wissen. In den Berichten der regierungsnahen Medien wird der Bürgermeister aber schon jetzt als charakterloser Bösewicht verunglimpft. Gut möglich, dass durch diese gezielte Rufschädigung etwas an ihm hängen bleibt.

İmamoğlu ist zwar seit Sonntag der offizielle Präsidentschaftskandidat seiner Partei. Doch die nächste reguläre Wahl ist erst 2028 angesetzt. Mit einer vorgezogenen Wahl wird gerechnet, aber erst in zwei Jahren. Womöglich setzt die Regierung darauf, dass die Wut über das Vorgehen gegen İmamoğlu bis dahin verflogen sein könnte. Sollte er verurteilt oder die Aberkennung seines BWL-Diploms von einem Gericht bestätigt werden, könnte er nicht antreten. In dem Fall stünde ein weiterer CHP-Kandidat bereit, der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş. Viele glauben, dass er Erdoğan als Gegner genehmer wäre, weil er wenig Charisma besitzt. Aber auch Yavaş hat nach jetzigen Umfragen das Potenzial, Erdoğan zu schlagen. Vor allem dann, wenn sich die Kaufkraft der immer ärmer werdenden Türken bis dahin nicht erholt. Die wirtschaftlichen Kosten von İmamoğlus Festnahme sind schon jetzt erheblich. Laut türkischen Medienberichten verbrannte die Zentralbank in den drei Tagen danach 26 Milliarden Dollar, um den Wertverfall der Lira zu stoppen. Zudem gibt es Aufrufe zu einem Boykott regierungsnaher Unternehmen. Listen mit Geschäften machen die Runde.

CHP spricht von einer Million Teilnehmern

Die seit Mittwoch anhaltenden Massendemonstrationen wurden auch am Sonntag fortgesetzt. In der Nacht davor war es vor dem Rathaus von Istanbul zur größten Protestkundgebung in der Türkei seit den sogenannten Gezi-Protesten von 2013 gekommen. Die CHP gab die Zahl der Teilnehmer mit einer Million an. Am Rande der Kundgebung kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Tränengas wurde eingesetzt. Bilder davon werden von den regierungstreuen Medien genutzt, um Ängste vor Chaos und politischer Gewalt zu schüren, wie sie das Land in den Siebzigerjahren erlebt hat. Auch der Präsident beschwört diese Ängste: „Die Zeiten, in denen Politik und Recht von Straßenterror bestimmt wurden, sind vorüber“, schrieb er am Samstag auf X. „Wir werden der CHP und ihren Anhängern definitiv nicht erlauben, mit ihren Provokationen die öffentliche Ordnung zu stören.“

Es sind aber längst nicht nur CHP-Anhänger, die in Istanbul und anderen Städten auf die Straße gehen. Im Gegenteil müssen sich die Redner der Partei immer wieder Buhrufe von Studenten anhören, die ihnen vorwerfen, zu konfliktscheu und staatstragend zu agieren. Jahrelang hatte die CHP den Schulterschluss mit der „Straße“ vermieden. Stets hieß es, man werde den autoritären Methoden des Präsidenten an der Wahlurne trotzen. Seit der Festnahme İmamoğlus glaubt daran kaum jemand mehr. Am Freitagabend sagte CHP-Chef Özgür Özel einen Satz, den Aktivisten als “revolutionär” bezeichnen: „Ich schwöre, wir werden Taksim zurückholen.” Der Taksim-Platz in Istanbul war schon immer der Ort, an dem die türkische Bevölkerung ihren Unmut kundtat. Spätestens seit den Gezi-Protesten hat er eine ikonische Bedeutung. Hier, im Gezi-Park neben dem Taksim-Platz, begann im Mai 2013 eine Protestbewegung, die damals das ganze Land erfasste, bis sie blutig niedergeschlagen wurde. Gezi war ein Wendepunkt, so wie die Festnahme İmamoğlus einer ist.

Tränengas auf Demonstranten: Zusammenstöße in Istanbul am Samstagabend
Tränengas auf Demonstranten: Zusammenstöße in Istanbul am SamstagabendAFP

Der symbolträchtige Taksim-Platz ist seit Mittwoch von Absperrgittern verbarrikadiert. Demonstrationen sind hier seit 2013 verboten. Viele Studenten wollen ihn jetzt zurückerobern. „Wir wollen, dass die CHP uns zum Taksim führt”, sagt eine vermummte IT-Studentin. „Wenn wir zum Taksim gehen, können wir die Schwäche der Regierung zeigen.” Das weiß auch die Polizei. Alle Versuche kleinerer Gruppierungen, vom Rathaus in Richtung Taksim zu marschieren, werden mit Tränengas zurückgeschlagen.

Nicht alle Protestteilnehmer sind überzeugt von der Taksim-Idee. „Die Zusammenstöße nur wegen Taksim begrenzen unsere Sicht“, sagt die protesterfahrene feministische Aktivistin Selime Büyükgöze. „Wir wissen nicht, was wir tun würden, wenn wir die Blockade des Taksim überwinden könnten.“ Sie komme sich vor wie in einer Neuverfilmung der Gezi-Proteste, sagt Büyükgöze. Sie war 2013 dabei. „Statt etwas zu tun, spielen wir etwas nach.“

Die Aktivistin findet es bemerkenswert, dass die Polizei bislang vergleichsweise zurückhaltend agiert. „Die Strategie könnte sein, dass die Menge ihre Energie von allein verbraucht. Ich glaube, sie hoffen, dass es sich irgendwann von allein erledigt.“ Könnte die Regierung mit dieser Einschätzung richtig liegen? „Vielleicht“, sagt Büyükgöze, „Ich weiß es nicht.“ Es sei schwer vorherzusehen, ob sich die Ohnmacht oder die Wut durchsetzt. Einschränkend fügt sie hinzu, das sei die Perspektive ihrer Generation. „Wir haben geglaubt, etwas ändern zu können und haben gesehen, was danach passiert ist.“ Die meisten Organisationen, die 2013 beteiligt waren, wurden verboten. Viele Beteiligte sind noch immer noch im Gefängnis. Es gab Tote, Verletzte, ruinierte Karrieren. Viele von Büyükgözes Mitstreiterinnen haben die Türkei verlassen. „Es war hart, bei Verstand zu bleiben.“ Wer blieb, wurde zynisch.

Die Polizei setzt auf Einschüchterung

Die jetzigen Proteste werden aber von einer neuen Generation getragen. Von Studenten, die sich nicht sagen lassen wollen, dass aller Widerstands vergebens sei. Jeden Tag versammeln sich jetzt Gruppen unterschiedlicher Universitäten vor dem Eingang der Istanbul-Universität und ziehen gemeinsam zum Rathaus. Viele Passanten feuern sie an. Der 80 Jahre alte Medet Karakaya steht am Straßenrand und hält den Studenten zum Abklatschen die Hand hin. Er sei mit 15 Familienangehörigen aus dem 1400 Kilometer entfernten Kars angereist, um seine Solidarität mit İmamoğlu zum Ausdruck zu bringen, sagt der pensionierte Lehrer, der in seiner Jugend selbst politisch aktiv war, weshalb er nach dem Militärputsch von 1980 einige Zeit im Gefängnis verbracht hat. Eine Protestteilnehmerin berichtet, dass das Gericht, an dem sie arbeitet, alle Mitarbeiter davor gewarnt habe, auf die Kundgebung zu gehen. Sie könnten identifiziert und entlassen werden, hieß es in dem Schreiben. Deshalb trägt sie eine Gesichtsmaske. Die Juristin sagt, dass es unter den Richtern und Staatsanwälten durchaus noch welche gebe, die die Politisierung der Justiz ablehnen. Doch sie trauten sich nicht, es zu sagen.

Die Studenten auf der Straße bedienen sich in der Fankultur des türkischen Fußballs und rufen „Spring, spring, wer nicht springt, unterstützt Tayyip (Erdoğan)”. Eine junge Frau hält ein Plakat mit dem Spruch „Unser Nationalgetränk ist Tränengas“ hoch. Das bezieht sich auf Erdoğans Aussage, Ayran und nicht Rakı sei das türkische Nationalgetränk. Andere Slogans gegen den Präsidenten wie „Erdoğan ohne Diplom“ könnten vor Gericht leicht als Präsidentenbeleidigung eingestuft werden. In Studentenforen wird diskutiert, welche Proteste als Vorbild dienen könnten. Hongkong? Serbien? Eine richtige Strategie ist noch nicht zu erkennen. Zu frisch sind die Proteste, zu wenig organisiert die Beteiligten. In den vergangenen Jahren waren fast nur noch Feministinnen, Kurden, Gewerkschaften und LGBT-Personen auf die Straße gegangen. Die Studenten sind nicht protesterfahren. „Es gibt noch keine Anführer und keine Entscheidungsstrukturen“, sagt ein Student der Istanbul-Universität. „Es gibt nur viele Leute, die zehn andere mitbringen.“ Mobilisiert hat sie nicht nur die Festnahme İmamoğlus und die Aberkennung seines Diploms, sondern auch die Tatsache, dass zahlreichen ihrer Dozenten ebenfalls die Abschlüsse aberkannt wurden. Zum Beispiel der BWL-Fachbereichsleiterin an der Galatasaray-Universität, die an der Sorbonne-Universität promoviert hat.

Die Polizei setzt derweil auf Einschüchterung. Am Samstagmorgen werden rund hundert Studenten von Zuhause abgeholt. Es gibt Verhöre und Durchsuchungen. Eigentlich hatten zwei Studentinnen, die an der Organisation der Protestaktionen beteiligt sind, einem Treffen mit der F.A.Z. zugestimmt. Doch am Morgen werden beide verhört. Anschließend schreibt eine: „Einige meiner Freunde sind noch immer in Gewahrsam, weil sie ausländischen Medien Interviews gegeben haben.“ Auch auf anderen Ebenen wird die Repression verstärkt. Der gewählte Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer wird per Gericht aus dem Amt gedrängt. In der CHP geht die Angst um, dass die Partei einem Zwangsverwalter unterstellt werden könnte, weil unzufriedene Parteimitglieder Özels Wahl zum Parteivorsitzenden im November 2023 wegen angeblicher Korruption anfechten wollen. Deshalb kündigt Özel einen Sonderparteitag für April an. Bis dahin kann noch viel passieren.