Industrie im Wandel: Blick über Gelsenkirchen und das Ruhrgebiet von der Halde Rungenberg
Vom Gipfel der Rungenberghalde wirkt Gelsenkirchen wie ein Puzzle, dessen Teile nicht so recht zusammenpassen wollen. Stillgelegte Zechentürme ragen wie Relikte einer früheren Zeit in den Himmel, daneben rauchende Schlote der Industrieparks. In den Tälern reihen sich Backsteinfassaden ehemaliger Arbeitersiedlungen aneinander, am Horizont drehen sich Windräder auf einer Halde.
Das Panorama steht sinnbildlich für den Strukturwandel, der die Stadt gezeichnet hat. Ihre Blütezeit als Kohlemetropole endete abrupt in den Neunzigerjahren. Die Zechen schlossen, es hieß „Schicht im Schacht“. Nicht nur Einwohner, Arbeitsplätze und Unternehmen verschwanden, sondern mit der Zeit auch das Vertrauen in die Politik. Spätestens seit die AfD hier bei der Bundestagswahl stärkste Kraft wurde, spricht ganz Deutschland über den blauen Fleck im Westen. Das Ergebnis hatte sich abgezeichnet, doch für viele war es ein Schock. Schließlich galt die Stadt lange als Hochburg der SPD – ähnlich wie viele andere Ruhrgebietsstädte.
Fragt man die Menschen in der Stadt nach den Gründen, fallen schnell die großen Schlagworte: Migration, Armut, Wirtschaftspolitik, Arbeitslosigkeit. Viele wählten die AfD aus Perspektivlosigkeit – in dem Glauben, dass sich „endlich mal was ändert“, sagt ein älterer Herr auf der Straße. Ihn besorge das, er schäme sich fast für die Stadt. Doch könne er verstehen, dass sich mancher in Gelsenkirchen „überfremdet“ fühle.
Atilla Öner und Ilhan Bükrücü kamen als Kinder mit ihren Eltern aus der Türkei nach Gelsenkirchen. Beide haben hier ihre Heimat gefunden, beide haben Unternehmen gegründet und Arbeitsplätze geschaffen. Öner leitet eine Werbefirma in der Stadt, Bükrücü besitzt inzwischen elf Unternehmen, darunter einen Pflegedienst und eine Autowerkstatt. Die F.A.Z. trifft die Unternehmerfreunde in der Lobby des Hotels, das Bükrücü in Gelsenkirchen-Buer betreibt. „Die Integration ist hier nicht wirklich gelungen“, sagt Öner, der für die SPD im Stadtrat sitzt. Einige ihrer Bekannten, ebenfalls Migranten, hätten deshalb ihr Kreuz bei der AfD gemacht.
Das klingt widersprüchlich, und für besonders klug halten die beiden Unternehmer das nicht. Über die AfD schütteln sie nur den Kopf. Für die Stimmung unter den Migranten haben sie aber Verständnis. „Die Politik hat zu wenig getan, um die Menschen aus den türkischen Communities zu integrieren“, sagt Öner. Viele Türken fühlten sich auch nach Jahrzehnten von der Gesellschaft nicht richtig aufgenommen. „Sie sind hier geboren und halten sich an die Regeln. Trotzdem werden sie mit Kriegsflüchtlingen oder Migranten aus Osteuropa in einen Topf geworfen – obwohl sie ein unauffälliges Leben führen“, sagt Bükrücü, der sachkundiger Bürger der CDU Gelsenkirchen ist.
„Die Politik hat zu wenig getan, um die Menschen aus den türkischen Communities zu integrieren.“
ATILLA ÖNER
Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) beschreibt die Situation als einzigartig. Lange habe die Stadt als Garant für Integration gegolten. Von den knapp 273.000 Einwohnern sind 72.800 nichtdeutsch. In der Stadt leben Menschen aus mehr als 130 Nationen. Die Integrationskraft aber stoße an ihre Grenzen. Ein besonderes Problem liegt hier in der sogenannten Armutszuwanderung aus Südosteuropa.
Wer durch die Stadt fährt, muss nicht lange nach solchen Orten suchen. Immer wieder fallen marode Straßen, bröckelnde Fassaden und leerstehende Gebäude auf. Ein Zustand, der sinnbildlich für die wirtschaftliche Situation der Stadt steht. Mit 15,2 Prozent hat Gelsenkirchen die höchste Arbeitslosenquote in ganz Deutschland. In sämtlichen Regionalrankings rangiert die einstige Kohlehochburg auf den letzten Plätzen. Auch das Durchschnittseinkommen ist mit 18.522 Euro je Einwohner mager.
Wer nicht gerade nach einer Billigimmobilie sucht, den hält wenig in der Stadt. „Hier fehlen die Zugpferde“, sagt Ilhan Bükrücü. Die wenigen gut Ausgebildeten zögen lieber weg, neue Jobs entstünden fast nur im Niedriglohnsektor. Da stößt auch das Jobcenter an seine Grenzen. „Rund 80 Prozent der ausgeschriebenen Stellen richten sich an Menschen, die entweder auf Fachkraftniveau oder höher qualifiziert sind“, sagt eine Sprecherin. Dem gegenüber stünden 65 Prozent der arbeitslosen Menschen in Gelsenkirchen, die auf Helferniveau einen Beruf suchten.
Eine Mammutaufgabe: Die Stadt Gelsenkirchen will gegen die Probleme auf dem Wohnungsmarkt angehen und kauft „Schrottimmobilien“ auf, wo es geht.
Dass die BP-Raffinerie nun als einer der letzten großen Industriebetriebe in der Stadt verkauft werden soll – an wen, ist noch unklar – verschärft die Situation. Im Werk Scholven ist die Stimmung gemischt. „Wenn BP geht, was bleibt dann noch?“, sagt Darko Manojlovic, der Betriebsratsvorsitzende. Vieles habe sich hier zum Guten gewendet, sagt er, während er mit dem Bulli über das Werksgelände fährt. Mehr als zwei Milliarden Euro seien in den Standort investiert worden, in neue Infrastruktur, vor allem in eine autarke Dampf- und Stromversorgung.
So vorbildlich wie hier läuft es mit Blick auf die Arbeitskräfte nicht überall. Den Unternehmern Öner und Bükrücü bereitet die Personalsuche Bauchschmerzen. „Über das Wort Fachkräftemangel kann ich nur lachen“, sagt Attila Öner. „Wir haben einen Arbeitskräftemangel.“ Ilhan Bükrücü sagt, er finde nicht einmal Reinigungskräfte für seine Betriebe, obwohl er über Tarif zahle und viele arbeitslos seien. Manche sagen: Fast das gleiche Geld bekämen sie auch ohne Arbeit.
„Über das Wort Fachkräftemangel kann ich nur lachen.“
ILHAN BÜKRÜCÜ, Geschäftsführer wpt-online
Auch sein Versuch, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, hat sich nicht nachhaltig ausgezahlt. Letztes Jahr habe er 60 Pflegekräfte aus der Türkei angeworben. Inzwischen sei die Hälfte wieder in die Heimat zurückgekehrt. „Hier gibt es keine Willkommenskultur“, sagt er. Hinzu kämen jede Menge bürokratische Hürden: lange Wartezeiten auf Termine beim Amt oder Schwierigkeiten mit Sprachkursen.
Doch daran mangelt es. Kaum ein frisch ausgebildeter Lehrer gehe freiwillig nach Gelsenkirchen. Lösungen hätte die Oberbürgermeisterin einige parat, und verweist auf Bildungsinitiativen, Sprach- und Integrationsmittler oder Familienzentren – gute, bestehende Modelle, die aber in der Breite nicht ausreichten. Am Ende scheitere es oft am Geld. Ohnehin gebe es in anderen Kommunen wenig Solidarität für die Probleme Gelsenkirchens. Die angespannte Haushaltslage enge den Handlungsspielraum ein. Die Partei fordert deshalb eine Lösung für die Altschulden.
Alle Probleme der Region, jedes für sich komplex, spielen der AfD in die Hände. Sie verspricht schnelle Lösungen. Damit ist die Partei längst auf Erfolgskurs, nicht nur in armen Bevölkerungsschichten. Enxhi Seli-Zacharias von der AfD Gelsenkirchen spricht selbstbewusst davon, dass nun auch das „Bildungsbürgertum“ dazu stoße. Sie hält ihre Partei für ein „Sprachrohr der Mitte“. „Wir bedienen Menschen, die Angst vor sozialem Abstieg haben und Menschen, die von der katastrophalen Wirtschaftspolitik betroffen sind“, sagt sie. Vorwürfe, die AfD sei ausländerfeindlich, hält sie für primitiv.
Bundestagsmitglied Markus Töns, der das Direktmandat für die SPD vor Ort verteidigen konnte, sieht all diese Entwicklungen – und den Handlungsbedarf. „Wenn die demokratischen Parteien wieder Vertrauen gewinnen wollen, müssen wir die zentralen Sorgen und Nöte der Bürger in den Mittelpunkt stellen“, sagt er. Die Menschen hätten das Gefühl, dass sich niemand in Berlin oder Düsseldorf um ihre Anliegen kümmere. Während seit Jahrzehnten Milliarden in den Aufbau Ost fließen, scheint für die Probleme des Ruhrgebiets kein Platz zu sein, sagt er.
Einfache Lösungen für all diese Probleme gibt es aber nicht. „Das macht die Menschen nicht zu Radikalen, aber es führt dazu, dass sie sagen: Die da oben können es nicht“, sagt Oberbürgermeisterin Welge. Die Mandatsträger tragen Verantwortung für die Entscheidungen vor Ort. Aber sie haben das Gefühl, dass da Dinge am Werk sind, die ihren Einflussbereich weit übersteigen.
Ob die Stadt den Abwärtssog stoppen kann, hängt nicht nur von Berlin ab, sondern auch davon, ob sie selbst Wege aus der Krise findet. Bürgermeisterin Welge verweist auf Bemühungen der Stadt, etwa Initiativen für den Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt oder die Aufgabe, „grüne, klimapolitisch saubere Inseln“ zu schaffen.
Passiert allerdings wenig, könnte sich die politische Landschaft weiter verschieben. Mancher vermutet, dass bei der nächsten Wahl im Herbst der erste Regierende Bürgermeister von der AfD kommen könnte – und so manche rote Socke im Ruhrgebiet damit noch größere Löcher bekommt.