Dieser Scheich und Chefspion macht die Emirate zur KI-Weltmacht

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Chefspion und Tech-Investor: Scheich Tahnun will die Emirate zur KI-Weltmacht machen

Der Bruder des Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate verwaltet 1,5 Billionen Dollar. Damit mischt der Schach-Nerd weltweit im KI-Wettrennen mit, auch in den USA, in Europa – und in China. Dissidenten lässt er ausspionieren. Kann der Westen ihm vertrauen?

500 Milliarden für die USA. 100 Milliarden für Frankreich. 40 Milliarden für Italien: Überall auf der Welt werden derzeit gewaltige Beträge in künstliche Intelligenz investiert. Und überall hat ein Mann seine Finger im Spiel: Scheich Tahnun bin Zayed Al Nahyan.

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Sein Bruder ist Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Er selbst leitet den Geheimdienst. Und als «Finanzchef» der Herrscherfamilie verwaltet er geschätzt 1,5 Billionen Dollar.

Mit diesem Geld mischt er kräftig im KI-Wettrüsten mit, und er hat gerade erst angefangen. Die Tech-Firmen haben sein Geld nötig, denn der Wettlauf um die beste KI ist unglaublich teuer. Das macht Tahnun zu einem weltweit mächtigen Mann. Das bereitet Kritikern Sorgen – wegen seiner Rolle im Geheimdienst und seiner Nähe zu China.

Ein Schach-Nerd, der immer mit dunkler Sonnenbrille herumläuft, hat heute mehr Einfluss als die Chefs der grossen KI-Firmen gemeinsam. Wie kam es dazu?


Der Nerd und sein Überwachungsimperium

Schon als Tahnun im Dezember 1968 zur Welt kommt, ist klar, dass er in den Emiraten einmal eine wichtige Rolle spielen wird. Er ist einer von sechs Söhnen, die Scheich Zayed bin Sultan Al Nahyan, der Gründervater der Emirate, mit seiner Lieblingsfrau Fatima zeugt.

Zayed ist bis heute beliebt als charismatischer und visionärer Staatsmann. «Er hat die Emirate in ihrer heutigen Form erst möglich gemacht», erklärt Eckart Woertz, Direktor des Hamburger Giga-Instituts für Nahost-Studien. «Dafür war einiges diplomatisches Geschick nötig.»

Um das Erbe des Vaters fortzuführen, werden die «Bani Fatima», die Söhne der Fatima, besonders gefördert. «Zayed war Beduine, er wuchs völlig anders auf als seine Söhne später», so Woertz. Während ihr Vater erst die Wasserversorgung der Emirate aufbaute, erleben seine Söhne Abu Dhabi bereits als modernen Stadtstaat. Sie erhalten eine westliche Bildung. Tahnun besucht ein englisches Internat und verbringt Zeit in Kalifornien.

Heute regiert einer der Brüder als Präsident, einer ist Chef einer staatlichen Ölfirma, ein weiterer ist Aussenminister. Tahnun gilt als Strippenzieher, der lieber im Hintergrund bleibt. Dazu passt, dass er immer eine Sonnenbrille trägt, auch drinnen. Grund dafür ist eine Augenkrankheit.

Mit 23 übernimmt Tahnun die Leitung einer Bank. Daneben steigert er sich in Hobbys hinein. Er lässt sich von einem Privattrainer im Computerspiel «Age of Empires» coachen, hat den schwarzen Gürtel im Kampfsport Jiu Jitsu und steckt hinter Hydra, dem im Jahr 2005 besten Schachcomputer der Welt. Tahnun soll Tag und Nacht gegen Hydra gespielt haben. Es ist der Beginn seiner Faszination für künstliche Intelligenz. Doch bis er diese ganz ausleben kann, dauert es noch etwas.

Mit 45 erhält Tahnun eine wichtige Rolle im Staat: Im Jahr 2013 wird er stellvertretender Sicherheitsberater der Emirate – und damit Teil des gewaltigen Spionageapparats des Landes.

Wenige Jahre vorher war es zu einem Spionageskandal gekommen: 2009 kamen mit den Blackberry-Handys erste Möglichkeiten auf, verschlüsselt zu kommunizieren. Doch die Regierung versteckte in einem angeblichen Update für Blackberry Spionagesoftware. Den Überwachten fiel das auf. Denn das Update beanspruchte die Handys so stark, dass sie sich überhitzten.

«Man hat sich fast das Ohr daran verbrannt», sagt der Journalist Bradley Hope, der damals in Abu Dhabi lebte. Er vergleicht die Atmosphäre in den Emiraten mit der in China: «Du musst immer davon ausgehen, dass dich die Regierung abhört. Menschen verstecken ihre Handys unter Kissen in einem anderen Raum, um freier zu sprechen.»

In diesem Polizeistaat baut Tahnun seine Macht weiter aus: 2016 steigt er zum Berater für nationale Sicherheit auf, also zum Chef des Geheimdiensts. An den Praktiken der Behörde ändert er nichts, im Gegenteil. Unter seiner Führung nutzt der Geheimdienst die Spionagesoftware Pegasus, um Aktivisten und Journalisten abzuhören. Auch der Amerikaner Bradley Hope, der investigativ zu Finanzkriminalität recherchiert, steht auf der Liste zur Überwachung.

Für Spionagezwecke werden für ein geheimes Projekt auch ehemalige NSA-Mitarbeiter rekrutiert. Die USA unterstützten die Sache erst, die Emirate sind schliesslich Verbündete im Kampf gegen Terrorismus. Doch das Regime spioniert auch Dissidenten und Aktivisten aus. So wird der Menschenrechtsaktivist Ahmed Mansoor über das Babyphone seines Kindes abgehört. Das geschieht über eine Firma namens Dark Matter. Die gehörte laut Medienberichten einer von Tahnuns Investmentfirmen.

2019 kommt all das ans Licht. Einige der ehemaligen NSA-Mitarbeiter werden in den USA verurteilt. Dark Matter wird in mehrere Splitter-Gesellschaften aufgelöst.

Tahnun ist zum Spionagekönig der Emirate aufgestiegen. Doch er will weiterkommen, will zu den ganz grossen Playern gehören. Dafür orientiert er sich zunächst gen Osten: Ein Arm von Dark Matter namens Pegasus (nicht zu verwechseln mit der oben erwähnten israelischen Spionagesoftware) hat 2017 einen Deal mit Huawei abgeschlossen, um Überwachungstechnologie für die Polizei zu entwickeln. Der Firmenchef von Pegasus heisst Peng Xiao. Er wird uns in dieser Geschichte noch weiter begleiten.


G42: KI als Antwort auf alles

Im Science-Fiction-Roman «Per Anhalter durch die Galaxis» ist die Zahl 42 die Antwort eines Supercomputers auf die «endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest». Für Tahnun ist die Zahl daher der ideale Name für das Unternehmen, das er 2018 gründet: Group 42, kurz G42.

G42 will die Antwort auf alles sein. Zu dem Konglomerat gehören unter anderem ein milliardenschwerer Technologie-Investmentfonds, ein KI-Modell in arabischer Sprache, eine Technologie-Talent-Plattform, ein Gesundheitsunternehmen und ein Programm zur Genom-Sequenzierung. Darüber hinaus investierte das Unternehmen laut Medienberichten in Bytedance, die chinesische Muttergesellschaft von Tiktok.

Die besonderen Stärken von G42 sind aber Hacking und Überwachungstechnologie. Die oben erwähnte Dark-Matter-Tochter Pegasus wird, umbenannt in Pax AI, Teil des Konglomerats. Peng Xiao steigt zum CEO von G42 auf.

Über den chinesischsprachigen Xiao, der an der Hawaii Pacific University Informatik studiert hat, ist wenig bekannt. Laut Medienberichten war er vorübergehend US-Bürger, gab aber seinen amerikanischen Pass für die Staatsbürgerschaft der Emirate auf – eine äusserst seltene Ehre für einen Nicht-Emirati. Als CEO von G42 hilft Xiao, Dark Matter weiterzuentwickeln.

Eines der ersten grossen Projekte ist 2019 die Chat-App Totok. Weil die Emirate Videotelefonie über Whatsapp oder Skype blockieren, ist Totok, die genau das ermöglicht, schnell ein grosser Erfolg. Innerhalb kürzester Zeit laden Millionen von Menschen in den Emiraten, aber auch in den USA und Europa, die App auf ihre Smartphones – und gewähren ihr damit Zugriff auf Fotos, Nachrichten, Kamera, Anrufe und Standortdaten.

Die Daten fliessen zu Pax AI, das im selben Gebäude sitzt wie der Geheimdienst der Emirate. Recherchen der amerikanischen Behörden und der «New York Times» zeigen, dass Staatsbeamte jedes Gespräch, jede Bewegung, jedes Geräusch und jedes Bild mitverfolgen. Nach Veröffentlichung entfernen Apple und Google die App aus ihren Stores.

Totok ist in Zusammenarbeit mit Ingenieuren der chinesischen Chat-App YeeCall erstellt worden. Auch Huawei hat in den Emiraten Werbung dafür gemacht.

Zu dieser Zeit sind die Verbindungen zwischen G42 und China sehr eng: Die Tochterfirma Presight AI verkauft Überwachungssoftware, die den Systemen der chinesischen Strafverfolgungsbehörden auffällig ähnlich ist. Während der Pandemie arbeitet G42 mit chinesischen Pharmakonzernen zusammen, die an Tests und Impfungen forschen. Und: Das Fundament der Technologien, die das Unternehmen entwickelt, stammt überwiegend von Huawei.


Tahnun setzt auf den Westen –
mithilfe von Microsoft

Huawei wird bald zum Problem. Denn für G42 ist China zu wenig. In den Jahren 2022 und 2023 geht die Firma Kooperationen unter anderem mit AstraZeneca und Open AI ein. Gemeinsam mit der Silicon-Valley-Firma Cerebras will G42 in Kalifornien den grössten Supercomputer der Welt bauen.

2023 erschwert die amerikanische Regierung solche Kooperationen: Sie schränkt die Ausfuhr von Nvidia-Grafikprozessoren ein. Kein Unternehmen, das Huawei-Technologie verwendet, soll Zugang erhalten. Für die USA ist dieser Entscheid von geopolitischer Bedeutung: Sie wollen verhindern, dass die umkämpfte Technologie in die Hände der chinesischen Regierung fällt.

US-Beamte befürchten, dass die Nähe des Unternehmens zu Huawei, und damit zur chinesischen Regierung, zu gross ist. Doch um seine KI-Ambitionen zu verwirklichen, ist Abu Dhabi auf diese Chips angewiesen.

Also schwenkt Tahnun um. Anfang 2024 kündigt G42 an, die Beziehungen zu China zu kappen und die chinesische Ausrüstung aus dem Verkehr zu ziehen. Nach und nach verlassen chinesische Staatsangehörige den Technologiesektor von Abu Dhabi.

Wenige Monate später teilt Microsoft mit, 1,5 Milliarden Dollar in G42 investiert zu haben. Der Microsoft-Präsident Brad Smith zieht in den Verwaltungsrat des Unternehmens ein – wohl auch als eine Art Aufpasser, der darauf achtet, dass alles mit rechten Dingen zugeht.

Laut Medienberichten war der Deal von Beamten der Biden-Administration aufgegleist worden – das, obwohl überzeugte China-Kritiker im Kongress nach wie vor Bedenken gegenüber G42 und möglichen Hintertüren hegen. Denn wie gründlich die Beziehungen wirklich gekappt worden sind, ist unklar.

Doch G42 hat nun den offiziellen Stempel der US-Regierung, was dem Unternehmen erlaubt, mit amerikanischen Partnern zusammenzuarbeiten. Und Scheich Tahnun geht auf Shoppingtour.

Über den Investitionsfonds MGX, den er 2024 gründet, will er über 100 Milliarden Dollar in Soft- und Hardware für KI pumpen. Tahnun investiert in Firmen wie Open AI und xAI sowie in die KI-Analysefirma Databricks, die zu den wertvollsten KI-Startups der Welt zählt. 70 bis 80 Prozent seines Geldes sollen in den USA investiert werden.

Aber auch hinter Frankreichs kürzlich angekündigten KI-Plänen stecken 50 Milliarden von MGX. Weitere Milliarden fliessen nach Italien – in eine Kooperation von Eni und G42 zum Bau von Rechenzentren. Und auch bei Stargate, dem 500-Milliarden-Projekt für KI-Infrastruktur in den USA, ist MGX an Bord.

Das Geld dafür hat Tahnun: Seit 2023 ist er Präsident der Abu Dhabi Investment Authority, die das Vermögen der Herrscherfamilie verwaltet. Insgesamt werden die Vermögenswerte, die Tahnun kontrolliert, auf 1,5 Billionen Dollar geschätzt.


Die letzten Schritte auf dem Weg
zur KI-Weltmacht

Tahnun gilt als Mastermind hinter den Investitionen der Herrscherfamilie. Doch das Geld fliesst nicht nur in KI. Der Al-Nahyan-Clan hält beispielsweise Anteile an der Kosmetikfirma Fenty der Pop-Sängerin Rihanna, an SpaceX und am Fussballklub Manchester City. Über eine Investmentfirma hält Tahnun Anteile im Wert von 1,5 Milliarden Dollar am Affinity-Fonds von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, investiert aber auch weiterhin fleissig in China. In der Schweiz gehören die Mall of Switzerland und einige Startups zum Portfolio.

Scheich Tahnun hat überall einflussreiche Freunde: Er trainiert Jiu Jitsu mit Mark Zuckerberg, besucht eine Tesla-Fabrik mit Elon Musk und schmiedet Pläne mit Open-AI-Chef Sam Altman, um KI-Chips in den USA herzustellen. Den beiden schwebt laut Medienberichten ein Projekt im Wert von bis zu sieben Billionen Dollar vor.

Für die Emirate standen die Sterne selten so günstig wie jetzt. Das Staatenbündnis verfügt über Unmengen von Geld und Energie und ist als Stabilitätsanker im Nahen Osten von geopolitischer Bedeutung.

«Die Vereinigten Arabischen Emirate wollen zu den grossen globalen KI-Playern aufsteigen», sagt Kamel Al Tawil, Managing Director für den Nahen Osten beim Rechenzentrumsbetreiber Equinix. Diese Bestrebungen seien nichts Neues: Bereits im Jahr 2017 ernannten die Emirate erstmals einen KI-Minister. In Abu Dhabi steht seit einigen Jahren die «Mohammed-bin-Zayed-Universität für künstliche Intelligenz», an der zukünftige Talente ausgebildet werden.

«Die grossen KI-Firmen gehen dorthin, wo es Geld und Zugang zu viel Energie gibt. Die Emirate haben beides», so Al Tawil. Längst haben sich Firmen wie Amazon Web Services, IBM und Microsoft dort niedergelassen, in der Wüste rund um die grossen Städte entstehen Datenzentren.

Am nötigen Equipment mangelt es auch nicht mehr: Wenige Tage nach der Gründung von MGX gab die News-Seite «Semafor» bekannt, dass die USA die Lieferung von Nvidia-Chips an G42 freigegeben haben.

Innerhalb kürzester Zeit ist Tahnun vom «Spionage-Scheich» zum Investment-Partner Nummer eins der grossen Tech-Firmen geworden. Davon profitiert seine gesamte Heimat: Auf dem World Government Summit in Dubai schlug Sam Altman vergangenes Jahr vor, dass die Emirate als weltweiter «regulatorischer Sandkasten» für KI dienen könnten – als Ort, an dem neue Regeln für die Technologie geschrieben, getestet und weiterentwickelt werden können.


Keine Privatsphäre und unendlich Geld: Perfekt für das KI-Business

Alles läuft nach Plan: Die Emirate sind im Begriff, zu den grossen KI-Mächten aufzusteigen. Manchen bereitet das Sorgen.

Die Machthaber nutzen KI zwar, um das Leben und die Gesundheit ihrer Bürger zu verbessern – die Emirate sind vielleicht das digitalste Land der Welt. Doch sie sind auch ein autoritäres Land. Mit KI kann man auch gegen Dissidenten vorgehen. «Die Emirate haben sehr umfangreiche Möglichkeiten, das Leben ihrer Bürger zu überwachen», sagt der Nahost-Experte Eckart Woertz. «Juristische Schranken wie in westlichen Ländern gibt es nicht.»

Für Wohlstand und Sicherheit bezahlen die Einwohner mit ihrer Privatsphäre. Staat und Technologie laufen in einer Hand zusammen, und das ist die von Tahnun.

Für Geschäftspartner in den USA und Europa stellt sich darüber hinaus die Frage, ob man den Emiraten geopolitisch langfristig trauen kann. Das Staatenbündnis sieht sich selbst als eine Art «Schweiz des Nahen Ostens», die auf niemandes Seite steht. «Man sieht die veränderte Weltlage und möchte sich auch mit Ländern wie China, Indien und Russland gut stellen», so Woertz. Nicht Ideologie, sondern Pragmatismus dient als Leitprinzip der Herrscher. Sie orientieren sich dorthin, wo die besten Deals warten.

Wegen der Chips herrscht in den USA der Eindruck, am längeren Hebel zu sitzen. Aber die Emirate haben ein Ass im Ärmel: Geld. «Sie können gewaltige Summen aufbringen und dadurch unter Umständen Trump mehr beeinflussen als etwa Macron oder der deutsche Kanzler», so Woertz. Und: «Sie können das Geld schnell und unbürokratisch zur Verfügung stellen.»

Viel Geld, und das so schnell wie möglich – das ist, was im KI-Wettrennen zählt. Für den Westen ist die Zusammenarbeit mit den Emiraten zu lukrativ, um grosse Ansprüche zu stellen. Tahnun ist am Ziel.

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