Am schlimmsten wird es in der „Todeszone“. Nachts ab zwei, wenn keiner mehr die Augen aufhalten kann, die Platten mit den Schnittchen leer sind und der Verhandlungsführer der Gegenseite die Leute mit seinem Vortrag ins Koma säuselt. Niemand hört mehr richtig hin, alle wollen ins Bett und sind genervt vom stundenlangen Sitzen. Das macht fügsam. Dabei muss man gerade jetzt höllisch aufpassen, sonst wird man über den Tisch gezogen und kriegt es später ab, von der eigenen Partei und den Medien. Koalitionsverhandlungen sind wie ein Schachspiel, sagen Veteranen, bei dem man mit der linken Hand vorsichtig die Figuren schiebt und mit der rechten gleichzeitig unter dem Tisch mit dem Gegner fingerhakelt, während um den Tisch Dutzende Leute rumstehen und gute Ratschläge brüllen. Und am Ende entscheidet manchmal doch nur die nächtliche Kondition darüber, wer als Sieger vom Platz geht.
Martin Schulz hat das so erlebt, der frühere SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat. 2017 hatte er die Wahl klar verloren und noch am Wahlabend verkündet, die SPD werde in die Opposition gehen. Dann scheiterte Jamaika, weil Christian Lindner lieber gar nicht regieren wollte als falsch, und die SPD musste plötzlich doch mit der Union reden. Es lief passabel, in den Sondierungen hatte man die Gemeinsamkeiten und überbrückbaren Differenzen geklärt, dann die heikleren Themen in den Arbeitsgruppen besprochen, die den Koalitionsvertrag vorbereiten. Irgendwann war alles klar, bis auf die Ressortverteilung.
Morgens um halb acht gab Merkel nach
Es kam zum Showdown der Verhandlungsführer, in einer Nachtsitzung bis zum Morgengrauen, an die sich Schulz noch gut erinnert. Viele in der SPD schäumten damals wegen seiner Entscheidung, doch über eine Regierungsbeteiligung zu verhandeln. Der Druck, der auf ihm lastete, war immens. „Ich wusste, dass ich der Parteibasis eine klare sozialdemokratische Handschrift bieten musste, wenn sie der großen Koalition zustimmen sollte“, sagt Schulz heute. Also forderte er drei Schlüsselressorts für die SPD, das Außen-, das Finanz- und das Arbeitsministerium, wie in der ersten großen Koalition 2005.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Die CSU von Horst Seehofer stellte sich quer, und auch Merkel war dagegen. Schulz erinnert sich daran, dass sie ihn in der Nachtsitzung fragte, wie die SPD, die 2005 noch viel stärker gewesen war, jetzt wieder dieselben Ministerien fordern könne, als gerupfte Wahlverliererin. Schulz hielt dagegen. Merkel wollte ja auch nicht zum ersten Mal Kanzlerin werden wie 2005, sondern schon zum vierten Mal. Das treibt den Preis in die Höhe. Morgens um halb acht gab Merkel nach, und Schulz, kurz zuvor noch der gedemütigte „100-Prozent-Martin“, konnte mit einer stattlichen Trophäe vor seine Partei treten. Am Ende stimmte die SPD der ungeliebten großen Koalition zu. Koalitionsverhandlungen sind also wie eine Jagd: Je größer das Fell, das man nach Hause bringt, umso eher geben sie daheim Ruhe. Und wer ein großes Fell will, muss nicht nur geschickt zwischen Druck, Drohungen und Konzilianz changieren, sondern auch das härteste Sitzfleisch haben.
Keine andere Wahl als zu verhandeln
Manchmal hängt es aber auch von mangelnden Alternativen ab, ob Koalitionsverhandlungen gelingen. Merkel hätte Neuwahlen provoziert, wenn nach dem Ende von Jamaika auch die Verhandlungen mit der SPD geplatzt wären. Entsprechend groß war der Einigungsdruck. So geht es gerade auch Friedrich Merz. Er ist zum Konsens mit der SPD verdammt, wenn er die Krise des Landes nicht verschärfen und die AfD noch stärker machen will. Durch die Zusammenarbeit bei den Milliardenschulden hat die große Koalition fast schon begonnen, bevor der neue Bundestag sich überhaupt konstituiert hat. Einfacher werde es dadurch nicht unbedingt, sagen erfahrene Unterhändler. Wer zwangsweise am Tisch sitzt statt aus freien Stücken, der ist auch weniger zu Kompromissen bereit. Weil er weiß, dass das Gegenüber die Gespräche kaum abbrechen wird.
Gegenseitiges Vertrauen fördert so eine Zwangslage also nicht. Das ist für Merz bei den Treffen mit der SPD der heikelste Punkt, weil alle gegen das Bild anverhandeln, das die anderen sich von ihnen gemacht haben. Viele Sozialdemokraten trauen Merz nicht über den Weg, sie halten ihn für einen rückwärtsgewandten und impulsiven konservativen Knochen – erst recht nach der Migrationsabstimmung im Bundestag zusammen mit der AfD. „Sie glauben doch nicht“, rief der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil damals im Plenum, „dass wir nach der Geschichte mit Ihnen jetzt noch zusammenarbeiten!“ Nun hat Klingbeil keine andere Wahl.
Ein Depp, aber immerhin ein sympathischer
In Berlin sagen sie zwar, Merz und Klingbeil hätten einen guten Modus miteinander gefunden. Vielen SPD-Leuten geht bei dem Namen Merz aber immer noch das Messer in der Tasche auf. Umso entscheidender sind in den Gesprächen vertrauensbildende Maßnahmen. Ein erfahrener Unterhändler rät Klingbeil, die schärfsten Kritiker zu einem Kennenlernabend mit Merz einzuladen, bei dem der sich erklären kann. „Wenn die Beteiligten dann am Ende rausgehen und sagen, der Merz ist immer noch ein Depp, aber immerhin ein sympathischer, dann ist schon viel gewonnen.“
Vertrauen ist in Koalitionsgesprächen die wichtigste Währung. Als die Grünen in Baden-Württemberg 2016 die Wahl gewonnen hatten und mit der CDU zum ersten Mal über eine grün-schwarze Regierung verhandelten, war die Skepsis bei den Schwarzen noch groß. Manchmal reichte es schon, wenn die Grünen nur das Wort „Bundeswehr“ sagten, und bei der CDU dachten sie gleich, jetzt wollten sie der wieder ans Leder. Dabei stimmte das gar nicht. Klischees können den Blick vernebeln. Als Grüne und CDU fünf Jahre später wieder verhandelten, war das Misstrauen verschwunden.
So ähnlich ging es Bodo Ramelow, dem früheren Thüringer Ministerpräsidenten, der nicht nur viele Sondierungen und Koalitionsgespräche, sondern auch etliche Tarifverhandlungen und Schlichtungen geleitet hat. Ramelows Partei, Die Linke, ist für die meisten CDU-Leute ein rotes Tuch, der Unvereinbarkeitsbeschluss gilt weiterhin. Trotzdem hat Ramelow es in Thüringen geschafft, zur CDU ein konstruktives Arbeitsverhältnis aufzubauen.
„Man sieht sich immer zweimal“
Bis heute erinnert er sich zum Beispiel an den Beginn der Corona-Pandemie. Am 13. März 2020 sollte das Thüringer Kabinett über die ersten Maßnahmen entscheiden. Am Tag davor griff Ramelow spätabends zum Telefon und rief Mario Voigt an, damals CDU-Oppositionsführer, um ihm von seinen Sorgen zu erzählen. „Das hat er mir bis heute nicht vergessen“, sagt Ramelow. Eine vertrauensbildende Maßnahme, von der er glaubt, dass sie auf alle folgenden Gespräche ausgestrahlt hat.
Ramelow kann aber auch anders. Einmal rief ihn sein Staatskanzleichef mitten in der Nacht an, weil der damalige CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer sich Sorgen um die Zustimmung zur Lkw-Maut im Bundesrat machte und mit Ramelow reden wollte. Ramelow schlug dem Minister einen Deal vor: Er würde nicht dagegen stimmen, dafür solle Scheuer aber den Ausbau der Mitteldeutschland-Bahn in Thüringen bewilligen. Scheuer schlug ein. „Drohen, Erpressen und Handeln, das gehört in politischen Verhandlungen wie Koalitionsgesprächen immer dazu“, sagt Ramelow. „Aber man sieht sich immer zweimal.“ Ein guter Unterhändler wisse, dass man den anderen nicht über den Tisch ziehen dürfe, sondern nur gemeinsam zum Erfolg komme. Wie du mir, so ich dir.
Sondierungen gezielt zum Scheitern gebracht
Auch der Grüne Jürgen Trittin hat das in vielen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen erlebt. Er erzählt, wie groß der Druck auf die Unterhändler ist. Die Parteibasis sitzt einem im Nacken, Lobbygruppen und Interessensverbände wollen ihre „Buzzwords“ im Vertrag wiederfinden. Auch die Parteigremien müssen überzeugt werden, deshalb gibt es bei Koalitionsverhandlungen eine eiserne Regel: „Ernsthaft verhandelt wird erst jenseits der eigenen roten Linien. Dabei muss es für alle was geben. Wenn andere Zugeständnisse machen, muss das auch für einen selbst gelten.“
Trittin hat schon 1998 die erste rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder verhandelt und kennt auch andere Fallstricke, die solche Gespräche haben können. Damals kamen die Fachpolitiker aus einer Arbeitsgruppe zu ihm und berichteten stolz, dass sie sich mit der SPD auf eine Erhöhung der Mineralölsteuer geeinigt hätten. „Da habe ich die gefragt: Habt ihr diesen Konsens auch mit dem gewählten Abgeordneten aus Lehrte besprochen?“ Der Lehrter Abgeordnete war Gerhard Schröder, der von seiner Mutter allein großgezogen worden war und die Nöte der arbeitenden Bevölkerung kannte. Da war klar: Preiserhöhung abgesagt.

Manchmal können alle verhandeln, so gut sie wollen, es hilft trotzdem nichts – wenn eine beteiligte Partei nämlich gar keine Einigung will und nur redet, um der Öffentlichkeit ihren guten Willen zu demonstrieren. Trittin sagt, 2013 sei das so gewesen, als die Union fast die absolute Mehrheit geholt hatte und danach auch mit den Grünen sprach. „Bei der Sondierung wollte die Union uns signalisieren, mit Euch wollen wir nicht, deshalb gab es kein Geld für Klimaschutz, keines für Bildung und keine Änderung bei der Ausrichtung der Europapolitik. Dafür die Mütterrente.“ Eine „offene Konfrontation“ sei das gewesen, mit dem Ziel, die Sondierungen gezielt zum Scheitern zu bringen. Was am Ende auch geschah.
Merkels merkwürdige Minusliste
Auch vier Jahre später, bei den Jamaika-Sondierungen 2017, sei das Ende von Anfang an eingepreist gewesen, glaubt Trittin. „CSU und FDP wollten die Gespräche scheitern lassen, und die Grünen sollten Schuld sein. Am Ende hat sich Horst Seehofer aber anders entschieden, und die FDP stand alleine da.“ Bei der FDP wiederum machen viele die Grünen verantwortlich – und Angela Merkel. „Ungewöhnlich“ sei deren Verhandlungsführung gewesen, sagt der mittlerweile parteilose Noch-Verkehrsminister Volker Wissing, der damals für die FDP mit sondierte. Merkel wollte, dass die Arbeitsgruppen erst einmal das Trennende aufschreiben statt die Punkte, bei denen die Parteien sich einigen können.
Psychologisch sei das „schwierig“ gewesen, sagt Wissing. „Damit wurde die Summe der aufgelisteten Probleme mit jedem Tag größer.“ Noch schlimmer seien aber die Durchstechereien an die Medien gewesen. Manchmal redeten sie in den Verhandlungen nur darüber, welches Interview einer gerade schon wieder gegeben hatte. Für das Gesprächsklima sei das schlecht, sagt Wissing. „Wenn man miteinander spricht, um ein Vertrauensverhältnis zu begründen, und jeder kommentiert ständig öffentlich die letzte Interpretation des Gesprächs, dann entstehen zwangsläufig Dissonanzen.“
Wer steht neben wem? Das muss etwas bedeuten!
Tatsächlich waren die nächtelangen Jamaika-Sondierungen der vorläufige Höhepunkt einer theatralischen Inszenierung, bei der die Öffentlichkeit als ständiger Teilnehmer mit am Verhandlungstisch saß. Gefühlt fanden die Gespräche auch nicht nur in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin statt, sondern ebenso auf deren Balkon – so viele Gruppenbilder boten die Sondierer den wartenden Fotografen in wechselnder Besetzung. Claudia Roth scherzte mit Horst Seehofer, Armin Laschet gab Christian Lindner Feuer – wer neben wem stand, wer müde wirkte oder aufgekratzt, das wurde von den Journalisten in Echtzeit als Wasserstand der Verhandlungen interpretiert. Politik als Schauspiel. Das mangelnde Vertrauen der Beteiligten zueinander konnte dies aber nur vordergründig übertünchen.
Eine große Koalition und eine Merkel-Dämmerung später, nach der Wahl 2021, wollte die Ampel alles besser machen. Die einstigen Antagonisten aus Jamaika, FDP und Grüne, trafen sich diskret im kleinen Kreis, Annalena Baerbock und Robert Habeck für die Grünen, Christian Lindner und Volker Wissing für die FDP. Man aß zusammen, trank Wein, sprach über ein mögliches Bündnis – diesmal drang lange nichts nach außen. Es sei schnell Vertrauen entstanden, weil alle konstruktiv gewesen seien, sagt Wissing heute. „Wir wollten, dass das Ampel-Projekt funktioniert.“ Am Ende, nach dem letzten Abend, schossen die vier ein Selfie. Es wirkte modern, kameradschaftlich und ungestellt – ein wohl gesetztes Gegenbild zur großen Koalition.

Doch es war nur Fassade, auch in der Ampel war es mit dem Vertrauen nicht weit her. „Die Ampel ist daran gescheitert, dass die FDP und die Grünen sie von Anfang an skeptisch gesehen haben“, sagt Wissing. „Die Partner haben sich nicht voll zueinander bekannt. Dabei ist es das, was in guten Sondierungen und Koalitionsgesprächen erreicht werden muss.“ Am Ende, findet Wissing, der zu seiner früheren Partei längst Distanz hat, sei es in der FDP nur noch darum gegangen, was man mit der CDU besser machen könne als in der Ampel. „Destruktiv“ nennt er das. „Wenn man frisch verheiratet ist, fragt man doch auch nicht gleich, ob man lieber die Nachbarin heiraten soll.“
Konfliktstoff gibt es auch diesmal genug
Friedrich Merz will aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Er hat den 256 Delegierten, die in 16 Arbeitsgruppen einen Koalitionsvertrag vorbereiten sollen, für die nächsten Wochen einen Verhaltenskodex verordnet: Erste Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen bis kommenden Montag, keine Selfies, Verhandlungen „in der Regel zwischen elf und 17 Uhr“, so steht es in einer „Handreichung“. Das soll nicht nur disziplinierend wirken, sondern offenkundig auch symbolhaft: Die Lage ist ernst, also arbeiten wir konzentriert. Mancher hofft auch auf einen deutlich schmaleren Koalitionsvertrag als in den vergangenen Jahren, als in hundertseitigen Papieren jeder Spiegelstrich festgezurrt und dann binnen weniger Wochen von der Realität überholt wurde.
Einem Machtpragmatiker wie dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann von den Grünen würde das gefallen. „Hundertseitige Koalitionsverträge sind nicht sinnvoll“, findet er. Besser sei, sich auf ein paar grundlegende Eckpunkte und Ziele zu einigen, weil man die in der Koalition ohnehin ständig weiter ausverhandeln müsse.
Trotzdem bleibt viel zu klären für Union und SPD. Migration, Steuerpolitik, Taurus-Lieferungen an die Ukraine – Konfliktstoff gibt es genug. Und selbst wenn man sich schneller einigen sollte als erwartet: Symbolisch müsse das kein Vorteil sein, sagt ein alter Unterhändler. „Wenn einer erklärt, wir hätten zehn Stunden Zeit gehabt, waren uns aber schon nach zwei einig, dann sagt doch jeder: Hättet Ihr mal zehn gebraucht, da hättet ihr viel mehr rausgeholt!“ Seine Taktik war deshalb immer: Auch wenn man sich schon morgens um elf geeinigt hat, muss man noch bis nachts Skat spielen, damit alle sehen, wie dramatisch man dahingesunken ist. Ein Spaziergang darf es nicht sein. Zumindest nicht nach außen.