Lorraine Daston über die Idee der Diversität

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Der Regenbogen steht in politischen Kontexten nicht nur für queere Lebens- und Liebesformen. Spätestens seit Nelson Mandela den Begriff der „Regenbogennation“ in seiner Antrittsrede als Präsident Südafrikas 1994 gebrauchte, um das Zusammenleben im Post-Apartheid-Staat zu charakterisieren, steht er auch für Diversität im Allgemeinen – und damit für einen Wert, der sich seither mit rasanter Geschwindigkeit in vielen Ländern als gesellschaftliches Leitbild durchgesetzt hat. Wie die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston nun bei drei Vorträgen an der Central European University in Wien zeigte, hatte dieser Siegeszug eine bis in die Antike zurückreichende Vorgeschichte, in der Diversität zunächst im Namen der Schönheit als ästhetischer und im neunzehnten Jahrhundert im Zeichen der Effizienz auch als ökonomischer Wert etabliert wurde.

So ist es in Dastons Augen kein Zufall, dass Mandela die farbenfrohe Vielfalt der Pflanzenwelt seines Heimatlandes beschwor: „Jeder Einzelne von uns ist intim mit dem Boden dieses Landes verbunden, so wie die berühmten Jacaranda-Bäume von Pretoria und die Mimosenbäume im Bushveld – eine Regenbogennation im Frieden mit sich und der Welt.“ Wie Daston im ersten Vortrag zeigte, war Diversität schon beim antiken Naturhistoriker Plinius dem Älteren ein Thema, der in der Fülle extravaganter Formen von Blumen und Edelsteinen schwelgt, mit denen die Natur gleichsam Urlaub von ihrer eigentlichen Berufung nehme, nämlich dem Menschen zu dienen. In ähnlicher Form präge ästhetische Diversität die Wunderkammern der frühen Neuzeit, die gerade durch ihre wimmelnde Fülle verschiedenartigster, oft aus weiter Ferne stammender Objekte die Größe und Ausdehnung imperialer Herrschaft repräsentierten. In der Buntheit von Straßenparaden wie dem „Karneval der Kulturen“ habe dieses ästhetische Diversitätsverständnis bis heute ein Echo.

Lorraine Daston, geboren 1951 in East Lansing, Michigan, ist seit 1995 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig. 2024 nahm sie in Rom den Balzan-Preis entgegen.
Lorraine Daston, geboren 1951 in East Lansing, Michigan, ist seit 1995 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig. 2024 nahm sie in Rom den Balzan-Preis entgegen.Marcello Foresti

In Unternehmen und anderen Organisationen, Universitäten eingeschlossen, wird Diversität vor allem mit Effizienzargumenten gerechtfertigt. Teams, die unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen versammeln, seien besser darin, Probleme zu lösen und auf globalisierten Märkten zu reüssieren. Damit, so legte Daston in ihrem zweiten, im Naturhistorischen Museum Wien gehaltenen, Vortrag dar, werde die Figur der Arbeitsteilung aufgegriffen, die im späten achtzehnten Jahrhundert von der Ökonomie zunächst auf das Zusammenwirken der Organe im einzelnen Körper und von Charles Darwin schließlich auch auf die Evolution übertragen wurde. Biodiversität sah Darwin als Produkt eines erbarmungslosen Wettbewerbs um knappe Ressourcen, der zur Spezialisierung von Arten führt, die der arbeitsteiligen Differenzierung in Produktionsprozessen ähnelt – wodurch sich alle einst zweckfreie Schönheit der Natur in adaptivem Nutzen auflöst.

Spannungsverhältnis von Diversität und Gleichheit

Mit dem letzten Vortrag wandte sich Daston der Diversität als moralisch-politischem Wert zu. Dessen schnelle Durchsetzung wirke gerade auch vor dem Hintergrund überraschend, dass der Wert der Gleichheit Jahrhunderte gebraucht habe, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. In Dastons Augen stehen Diversität und Gleichheit in einem Spannungsverhältnis, das sie bis auf den Disput von Montesquieu und Condorcet über die Frage zurückführte, ob sich die Gesetze an jeweiligen klimatischen Bedingungen und dadurch bedingter Verschiedenheit von Temperamenten zu orientieren haben oder ob sie für alle Menschen überall dieselben sein sollen – ein Streit, in dem sich auch verschiedene Visionen der Natur als farbenfroher Artenvielfalt oder als nach ewigen und universellen Gesetzen ablaufender Himmelsmechanik spiegeln.

Später wurde Diversität zunächst von Bewegungen auf die Tagesordnung gesetzt, die um Gleichheit kämpften, ausgehend von der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie Daston am Beispiel von Zulassungsregeln für Colleges in den Vereinigten Staaten zeigte, wurde bald jedoch eine Vision von Gerechtigkeit als Gleichheit, die von allen Unterschieden absieht, durch eine Vision von Gerechtigkeit als Diversität und Inklusion ersetzt. Ein wichtiger Einschnitt sei dabei das Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1978 gewesen, mit dem Universitäten untersagt wurde, bei der Studienplatzvergabe feste Quoten etwa für schwarze Studierende vorzusehen – ihnen aber ausdrücklich erlaubt wurde, Bewerber im Interesse der Förderung von Diversität auszuwählen. Als Vorbild erwähnte das Urteil dabei die Zugangsregeln der Harvard University, die einen Diversitätsbegriff zugrunde legten, der neben rassistischer auch andere Arten von Benachteiligung berücksichtigte und so etwa auch den „farm boy from Idaho“ als Beitrag zu Diversität sah.

Natalie Zemon Davis, geboren am 8. November 1928 in Detroit, gestorben am 21. Oktober 2023 in Toronto, wurde mit dem Buch „Die Rückkehr des Martin Guerre“ berühmt. Das Porträt entstand am Rande einer Berliner Lesung am 2. Dezember 2008.
Natalie Zemon Davis, geboren am 8. November 1928 in Detroit, gestorben am 21. Oktober 2023 in Toronto, wurde mit dem Buch „Die Rückkehr des Martin Guerre“ berühmt. Das Porträt entstand am Rande einer Berliner Lesung am 2. Dezember 2008.Christian Thiel

Eine Folge des Aufstiegs von Diversität sei insoweit der Rückgang von Gleichheit im Sinne proportionaler Repräsentation historisch diskriminierter Gruppen gewesen. Positive Diskriminierung konnte nun nicht mehr als Entschädigung für vergangenes Unrecht und dadurch bedingte strukturelle Ungleichheit gerechtfertigt werden. Zudem führe ein Verständnis von Gerechtigkeit als Diversität zur Zementierung von Identitäten, die gleichsam in Analogie zur Biodiversität wie die unaufhebbare Angehörigkeit an eine biologische Spezies begriffen würden: Während das ältere Bild des Schmelztiegels im Sinne von Gleichheit darauf zielte, Verschiedenheiten aufzulösen, verliere der Regenbogen der Diversität all seine Schönheit, wenn die einzelnen Farben nicht mehr als solche erkennbar wären.

Mehr als ein vorübergehender Zeitgeist

Im Zuge ihrer in formvollendet schöner Wissenschaftsprosa gehaltenen Vorträge betonte Daston mehrmals, dass Historiker keine Lizenz hätten, die Gegenwart zu kommentieren oder gar die Zukunft vorherzusagen. Zum gegenwärtigen politischen Backlash gegen „Diversity, Equity, Inclusion“ könne sie darum nur wie jede andere Person auch als Bürgerin Stellung beziehen. So konsequent diese an Max Webers Wissenschaftsethos erinnernde normative Enthaltsamkeit erscheint, so wenig wird man zugleich das Gefühl los, dass eine mangelnde Berücksichtigung gegenwärtiger Entwicklungen dazu führen könnte, die Ausgangsprämisse von Dastons Wiener Vorträgen zweifelhaft erscheinen zu lassen.

Diese fanden im Rahmen einer der Historikerin Natalie Zemon Davis (1928 bis 2023) gewidmeten Reihe statt. Schon 2006 wurde die jährliche Vorlesungsserie begründet, als die Central European University noch ihren Sitz in Budapest hatte. Nach dem Tod der Widmungsträgerin wurden „The Natalie Zemon Davis Annual Lectures“ in „Memorial Lec­tures“ umbenannt. Natalie Zemon Davis, die in Büchern wie „Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident“ (Wagenbach, 2008) die Diversität der vormodernen Welt erkundete, gehörte in der Frühzeit ihrer Karriere zu den Opfern der Kommunistenverfolgung der McCarthy-Zeit und musste mit ihrem Ehemann nach Kanada auswandern.

Kann man noch einfach voraussetzen, dass es sich bei Diversität in moralisch-politischem Sinne um einen selbstverständlich gewordenen, keiner ausdrücklichen Rechtfertigung mehr bedürftigen Wert handelt? Auch wenn Daston keine affirmative Genealogie beabsichtigte, demonstrierten die Einblicke in die lange Vorgeschichte von Diversität jedoch gewissermaßen performativ, dass es sich bei ihr entgegen mancher Unkenrufe und Attacken nicht um einen vorübergehenden Zeitgeist handelt, sondern um etwas, das längst Teil des Kernbestands liberaldemokratischer Normativität geworden ist – und heute wohl gerade auch in diesem Sinne angefeindet wird.