Gérard Depardieu steht in Frankreich wegen Missbrauchsvorwürfen vor Gericht. Und wieder wird diskutiert, ob man zwischen Künstler und Werk unterscheiden darf. Es kann nur eine Antwort geben.
Er ist ein Trinker, Freund von Diktatoren, mutmaßlicher Steuerflüchtling – und steht in Frankreich nun wegen Missbrauchsvorwürfen vor Gericht. Gérard Depardieu ist offensichtlich kein sonderlich angenehmer Mensch. Sollte sich das Pariser Gericht dazu entscheiden, ihn schuldig zu sprechen, gehört er verurteilt – für seine Taten. Seine Filme aber sollten bitte nicht wegen seines Verhaltens verurteilt werden.
Der öffentlich-rechtliche Sender RTS in der Schweiz hat Depardieus Werke bereits aus dem Programm genommen. Frankreichs Sender haben Projekte mit ihm auf Eis gelegt. Kein Platz für Täter auf der Leinwand, heißt es von verschiedenen Aktivistengruppen. Die Reaktion ist verständlich, aber gefährlich. Denn wer so pauschal über Kunst urteilt, wird bald in einer sehr grauen Welt leben.
Die Diskussion ist nicht neu: Dürfen wir Werk und Mensch voneinander trennen? Oder besser: Müssen wir das nicht sogar? In den vergangenen Jahren ist diese Frage häufiger gestellt worden, häufiger jedenfalls als sinnvolle Antworten darauf gegeben wurden. Während die einen gleich von einer “Cancel Culture” sprechen, also von einer Zensurkultur, fordern andere, dass auch prominente Täter weitreichende Konsequenzen für ihre Taten spüren müssen – gesellschaftlich wie juristisch.
Dabei kann die Antwort nur lauten: Viele Künstler, die Strafbares getan haben, sind juristisch und gesellschaftlich zu verurteilen. Aber ihre Kunst kann man trotzdem weiter genießen. Sie steht für sich.
Wollen wir wirklich Caravaggios Bilder aus den Museen verbannen, weil der Maler des Barock ein gewalttätiger Hitzkopf und mutmaßlicher Pädophiler war? Oder Woody Allens Filme aus den Kinos nehmen, obwohl ihm zwar Missbrauch vorgeworfen wurde, aber ein Gericht nie seine Schuld festgestellt hat? Allen wurde nicht verurteilt – dennoch wird er von Teilen der Öffentlichkeit behandelt, als sei das geschehen.
Was hat sein Kinofilm “Bullets over Broadway” mit den Vorwürfen zu tun? Oder Depardieus Darstellung von Cyrano de Bergerac mit seinem privaten Verhalten? Die Antwort ist: nichts.
Wenn wir anfangen, jedes Werk eines charakterlosen, moralisch fragwürdigen Künstlers zu verbannen, dann löschen wir bald weite Teile unserer Kulturgeschichte. Goethe galt als narzisstisch, Thomas Mann als eitel, Bertolt Brecht war berüchtigt für seine Beziehungen zu mehreren Frauen gleichzeitig. Sollen ihre Werke deshalb aus den Regalen und von den Bühnen verschwinden? Oder nehmen wir den noch viel extremeren Fall von Oscar Wilde, der wegen seiner Homosexualität und seines Romans “Das Bildnis des Dorian Gray” ins Zuchthaus gesperrt wurde. Das ist gerade einmal 130 Jahre her. Damals wurde die Verurteilung in weiten Teilen der Gesellschaft geradezu begrüßt. Heutzutage hat sich der Blick auf Oscar Wilde zum Glück geändert. Den damaligen moralischen Furor erlebt man aber zuweilen auch heutzutage.
Der italienische Lyriker und Drehbuchautor Tonino Guerra sagte einmal: “Wenn ich mit dem Schreiben eines Buches fertig bin, entwickele ich eine seltsame Distanz dazu. Ist es einmal im Druck, gehört es nicht mehr mir.” Mit anderen Worten: Ein Werk löst sich vom Autor. Es ist mehr als sein Ursprung.
Wenn Kunst zu Propaganda wird
Aber was passiert, wenn Kunst und Autor nicht mehr zu trennen sind? Wenn nicht nur das Werk bleibt, sondern die Intention des Autors rein ideologisch ist?
Ein drastisches Beispiel sind die Filme von Leni Riefenstahl. Ihre Werke gelten als formal bahnbrechend – innovative Schnitttechnik, neue Perspektiven, monumentale Bildsprache. Doch all das diente der Glorifizierung des Nationalsozialismus. Ihre Kunst war nie zweckfrei. Die Ästhetik wurde zur Maske der Gewalt. Das ist dann eigentlich keine Kunst mehr – das ist Propaganda für Massenmörder.
Es braucht also Unterscheidungsvermögen – zwischen einem Künstler, der moralisch oder juristisch versagt, und einem Werk, das eigenständig und unabhängig von diesem Versagen existiert. Gérard Depardieu ist nicht Cyrano de Bergerac, er ist nicht Olmo aus Bertoluccis “1900”. Und deswegen sollten wir diese wundervollen Filme immer wieder sehen können.