Evakuierung in Nordukraine: Von Russlands Bombenterror vertrieben

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Aus einem Haus schlagen die Flammen, von anderen Gebäuden sind nur noch Ruinen übrig, Trümmer liegen herum, der Boden ist von Bombenkratern zerklüftet. Kurz zuvor waren wieder einmal Granaten und Raketen im Dorf Myropillja im Nordosten der Ukraine eingeschlagen. Ein Mann hat es gefilmt, kurz bevor der Ort vor einer Woche evakuiert wurde. Nun sitzt er in der nahegelegenen Großstadt Sumy und wartet darauf, dass er Lebensmittel erhält. Seinen Namen will er nicht nennen, aber die Bilder unbedingt zeigen.

Auch ein älteres Ehepaar ist an diesem Tag in das Hilfszentrum gekommen. Der Mann erzählt mit glänzenden Augen, wie er in den Siebziger Jahren als Soldat in Thüringen gedient hat. Dann werden sie wieder traurig. Das Paar ist vor zwei Wochen aus Myropillja geflohen und vorerst bei der Schwester des Mannes in Sumy untergekommen. Eigentlich wollten die beiden in ihr Haus zurückkehren, wenn sich die Lage beruhigt. Doch das steht nun nicht mehr. „Wir sind in unseren Siebzigern, wo sollen wir hin?“, fragt die Frau mit brüchiger Stimme.

Von einer kirchlichen Organisation evakuiert

Myropillja liegt gerade einmal drei Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Dennoch sei es dort bis Mitte März vergleichsweise ruhig gewesen, berichten mehrere in Sicherheit gebrachte Bewohner der F.A.Z. Dann verlor die ukrainische Armee bei den Kämpfen im angrenzenden Gebiet Kursk an Boden. Mit dem Rückzug kam auch die Front wieder näher an die Grenzorte, immer mehr Bomben und Granaten schlugen ein. Am 16. März entschied der Gemeinderat von Myropillja schließlich, der Ort müsse evakuiert werden. Es sei zu gefährlich für die verbliebenen Bewohner zu bleiben. Rettungskräfte, Militär und Freiwillige brachten die Leute in Sicherheit.

Wolodymyr Tretjakow organisiert solche Evakuierungen im Gebiet Sumy für die Hilfsorganisation Eleos. Am Freitag sitzt er mit einem Kollegen in deren Kiewer Büro und bespricht das weitere Vorgehen. Soeben kam die Bitte, bei der Evakuierung eines Rehabilitierungszentrums zu helfen. Sie sollen drei Kinder und acht Erwachsene in den Westen der Ukraine bringen.

Packt an: Taras Slidennyj von der Hilfsorganisation Eleos
Packt an: Taras Slidennyj von der Hilfsorganisation EleosOthmara Glas

Auch Tretjakow erzählt, dass sich vor allem in der vergangenen Woche die Situation stark verschlechtert habe. Immer wieder sei es russischen Soldaten gelungen, über die Grenze kommen. Mehr Orte seien nun in Artilleriereichweite der Russen, die zudem verstärkt mit Bomben auf die Dörfer ziele. Zwischen Dienstag und Freitag hätten sie 40 Menschen in Sicherheit gebracht. Aufgrund der ständigen Kampfhandlungen müsse es nun oft sehr schnell gehen.

Waren sie zunächst in den besonders grenznahen Gemeinden wie Miropillja tätig, wird die Evakuierungszone nun nach und nach erweitert. So wie auf Krasnopillja, das etwa zehn Kilometer von der Grenze entfernt liegt. „In einer Nacht gab es 33 Bombeneinschläge, viele Menschen sitzen dort auf gepackten Koffern und warten auf die Evakuierung“, sagt Tretjakow. Er schätzt die Einwohnerzahl von Krasnopillja auf 5000. „So wie ich es sehe, wird in drei bis vier Tagen niemand mehr dort sein.“

Viele sind bei Verwandten untergekommen

Tretjakow arbeitet eng mit den ukrainischen Behörden und Militär zusammen. Mit der sich verschlechternden Lage rufen ihn aber auch immer mehr Menschen privat an, allein am Donnerstag 94 Mal. Bevor die Lage so akut wurde, nahmen die Menschen oft noch Möbel oder Tiere wie ihre Hühner und Kühe mit, erzählt er. Die Helfer versuchten, so gut es ging, das möglich zu machen. „Nun verstehen sie, dass sie nur noch das Notwendigste mitnehmen können.“

Auf seinem Handy zeigt Tretjakow Bilder vom zerstörten Krasnopillja. Dabei war es auch dort bis zum 18. März trotz der Grenznähe vergleichsweise ruhig. An jenem Tag sagte Russlands Staatschef Wladimir Putin in einem Telefonat mit dem amerikanischen Präsident Donald Trump zu, die Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine für 30 Tage einzustellen. Seitdem schlagen nicht nur im Gebiet Sumy mehr Bomben ein. Auch in anderen Teilen des Landes hat Russland seine Angriffe verstärkt.

Tretjakows Kollege berichtet, dass es im Dezember nur zwei Evakuierungsfahrten gab. Bisher hätten sich Menschen bei Beschuss in ihren Kellern verstecken können. Also blieben sie, solange es ging. Nun mit dem Einsatz der Bomben reichten die Keller nicht mehr aus. „Oft hören wir auch in Sumy die Einschläge.“

Viele der in Sicherheit gebrachten haben in der Gebietshauptstadt Verwandte, bei denen sie zunächst unterkommen können. Daher gibt es in Sumy auch das Hilfszentrum von Eleos. Dort merken sie, dass derzeit immer mehr Menschen kommen. „Unsere Mittel werden knapper“, sagt Taras Slidennyj. Er ist der Leiter der Hilfsorganisation im Gebiet Sumy. Vor allem Essen und Hygieneprodukte würden dringend gebraucht. Allein bis Samstagmittag kommen mehr als hundert Menschen, holen sich Lebensmittel und Gutscheine ab, mit denen sie im Supermarkt einkaufen können. Für den nächsten Tag erwarten die Freiwilligen, die dort arbeiten, doppelt so viele.

Bis 2014 arbeiteten hier viele in Russland

Slidennyj fällt auf mit seinem langen Bart und der hellblauen Trainingsjacke, die er an diesem Tag trägt. Als Arzt leitet er eine Klinik für sogenannte sozial gefährliche Krankheiten wie HIV/AIDS oder Drogensucht. Zudem ist er Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine, der auch Eleos angegliedert ist. Seit mehr als 20 Jahren lebt der Sechsundvierzigjährige in Sumy.

Wenn er in seinem Auto durch die Stadt fährt und erzählt, merkt man, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen ist. Früher hatte Sumy mit seinen 250.000 Einwohnern die ideale Lage, sagt er. Keine 200 Kilometer sind es bis nach Charkiw, 300 nach Kiew, 600 bis Moskau. Vor Beginn des Krieges 2014 arbeiteten viele Menschen aus Sumy in Russland.

Als vor drei Jahren dann die Russen auch über Sumy in Richtung Kiew vorstießen, schafften es die Ukrainer, dass die Stadt nicht unter russische Kontrolle geriet. Auf Karten ist zu sehen, wie die russischen Armeekolonnen Sumy umfahren mussten. Zwei Monate nach der Invasion hatte das ukrainische Militär die russischen Truppen aus dem Gebiet vertrieben. Im vergangenen August dann eroberten die Ukrainer von Sumy aus einen Teil des russischen Gebiets Kursk.

Slidennyj biegt auf den Campus der Agraruniversität ein. Daneben steht ein Neubauviertel aus roten Backsteinen. Ein gelber Kleinbus von Eleos kommt gerade angefahren. Auf den wartet Mykola Osetschyj schon sehnlichst. Am Vortag war er mit seiner Frau und dem 11 Jahre alten Sohn aus einem Dorf bei Krasnopillja nach Sumy gebracht worden. Die Familie hat dort eine Einzimmerwohnung gefunden, und mit einem Freiwilligen hat Osetschyj noch einige Möbel aus seinem Haus geholt, das die Nacht zum Glück überstanden hat.

Osetschyj erzählt von den Bomben und Drohnen, die in seinem Dorf eingeschlagen sind. Auch in das Krankenhaus, in dem er als Arzthelfer arbeitete. In Sumy muss er sich nun eine neue Stelle suchen. Er hat Sorge davor, dass die Russen die ukrainischen Stellungen durchbrechen könnten. Was er von den Verhandlungen zwischen Trump und Putin hält? Er schüttelt den Kopf. „Wer weiß, was die sich ausdenken?“, sagt er. „Solange Putin lebt, gibt es keinen Frieden.“

Wieder im Auto fährt Slidennyj an Orten vorbei, die in Sumy schon getroffen wurden: die lokale Zentrale des Geheimdienstes, ein Wohnhaus, ein Altersheim, ein Krankenhaus. Gleichzeitig wird in der Stadt neu gebaut. Das Rote Kreuz errichtet Unterkünfte für Hunderte Flüchtlinge. Ein Zeichen an die Zukunft, findet Slidennyj. Auch er denkt nicht, dass die Gespräche viel bringen. Er vertraut mehr auf die Soldaten als auf die Politiker. Am Jugendzentrum in Sumys Innenstadt steht seine Überzeugung in Großbuchstaben: „Wir glauben an die Armee.“