„Trau dich!“, ruft Gesangslehrerin Sabina Martin. Ab und zu muss sie ihre Schülerin Salome noch ermutigen. Bevor Salome mit dem Gesangunterricht begann, fiel es ihr schwer, Töne zu treffen und laut zu singen: „Ich war mit der Stimme eher schüchtern“, erzählt sie. Damit ist sie nicht allein. Viele Menschen glauben fest daran, dass sie nicht singen können – und es niemals lernen werden.
„Die Stimme ist etwas sehr Intimes. Sie ist etwas, das uns als Person sehr stark definiert“, sagt Eckert Altenmüller, der an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover bis zum Ruhestand erforscht hat, wie Musik auf den Menschen wirkt. Wer als Kind zu hören bekommt, er solle lieber den Mund halten, weil seine Töne schief sind, ist oft bis ins Erwachsenenalter unsicher – und wird die Stimme gar nicht erst trainieren. Dabei sind schiefe Töne oft nur eine Frage der Muskulatur, erklärt Gesangslehrerin Martin: „Schiefe Töne liegen oft an Verspannungen oder Unterspannung.“
Sabina Martin beginnt jede Stunde mit Lockerungsübungen: Salome schüttelt den ganzen Körper durch. Dann folgt eine Atemübung. Martin steht vor ihrem Flügel und zeigt Salome, wo sie beim Atmen Raum für die Luft machen soll: nicht im Brust- und Schulterbereich, sondern im Bauch, beim Zwerchfell. Sonst behindert der Atemdruck den Kehlkopf.
Schon bei einem simplen Ton auf „ah“ muss eine Sängerin verschiedene Muskeln koordinieren: Atemmuskulatur, Kehlkopf, Kiefer, Gaumen und Zunge. Der Ton entsteht durch die Schwingung der Stimmlippen. Diese liegen waagerecht im Kehlkopf und werden häufig fälschlicherweise mit den Stimmbändern gleichgesetzt, die aber nur ein Teil der Stimmlippen sind.
Wenn die Gesangsschülerin einatmet, sind ihre Stimmlippen geöffnet und entspannt, damit Luft in die Lunge strömen kann. Beginnt sie zu singen, schließen sich die Stimmlippen. Durch die aufsteigende Luft geraten sie in rhythmische Schwingung und flattern in schnellem Tempo auf und zu. Der Luftstrom wird dabei quasi in dünne Scheiben zerhackt – es entstehen Schallwellen. Bei einem tiefen Ton sind die Stimmlippen schlapper, dicker und schwingen langsamer. Bei höheren Tönen sind sie stärker gespannt, dünner und schwingen schneller. Das klingt simpler, als es ist. Denn eine ganze Reihe an Muskeln im Kehlkopf bestimmen gemeinsam, wie hoch Töne sind und wie sie klingen.

Musikalisches Hirn
Im Gesangsunterricht lernt Salome, diese Muskeln bewusster zu steuern. Dafür sind besonders zwei Bereiche ihrer Hirnrinde – auch Cortex genannt – entscheidend: Der somatosensorische Cortex verarbeitet Empfindungen aus dem Körper und der Umgebung, während der Motorcortex Bewegungen koordiniert. Jeweils ein kleiner Bereich dieser beiden Hirnregionen ist speziell für den Stimmapparat zuständig.
Salomes somatosensorischer Cortex empfängt kontinuierlich Impulse aus ihrem Körper, die Informationen darüber liefern, wie ihre Stimmlippen gerade eingestellt sind und wie stark die Luft durch den Kehlkopf strömt. Ihr Motorcortex sorgt dann dafür, dass ihre Muskulatur korrekt eingestellt ist, um den avisierten Ton zu erzeugen und ausreichend Raum im Rachen und Mund zu schaffen.
Als Salome eine hohe Passage nicht trifft, gibt Sabina Martin einen einfachen Tipp. „Öffne deinen Kiefer weiter.“ Und voilà: Die richtige Technik wirkt sofort. Salome schafft die Übung mit glasklarer Stimme noch drei Halbtöne höher. „Ich sehe, dass du dir jetzt ganz genau zuhörst“, sagt Sabina Martin. Während wir singen, werden die einzelnen Frequenzen im Innenohr in neuronale Signale umgewandelt. Diese Impulse werden in einem weiteren Bereich der Hirnrinde, dem auditiven Cortex, verarbeitet. So kann Salome überprüfen, ob sie einen Ton tatsächlich getroffen hat. Zusätzlich beansprucht die Sängerin das Kurzzeitgedächtnis, damit sie einzelne Tonhöhen zusammenzusetzen und eine Melodie nachsingen kann.

Neue Verknüpfungen
„Ob ich im Fußballstadium mitsinge oder ein Kunstlied von Franz Schubert, die Unterschiede kann man im Gehirn nicht sehen“, sagt Musikphysiologe Altenmüller. „Aber was man sehen kann, ist, wie viel Gesangserfahrung ich habe.“ Bei geübten Sängern ist der Bereich des somatosensorischen Cortex, der für den Stimmapparat zuständig ist, beim Singen besonders aktiv. Das kann man mit bildgebenden Verfahren messen. Außerdem sind Regionen des auditiven Cortex und seine Verbindung zum Motorcortex stärker ausgeprägt.
Die Hirnaktivität von erfahrenen und unerfahrenen Sängern unterscheidet sich nur, wenn sie schwierige Melodien singen. Das hat der chilenische Sprachpathologe Martín Vivero herausgefunden. Komplexere Passagen aktivierten bei erfahrenen Sängern zusätzliche Hirnregionen. „Sängerhirne haben einen spezialisierten neuronalen Schaltkreis, den sie möglicherweise, um effizienter zu arbeiten, nicht immer nutzen“, sagt Vivero. Doch wie lange muss jemand üben, bis sich die Verschaltungen im Hirn anpassen und optimieren?
Vivero ließ in einer weiteren Studie Versuchspersonen vier Wochen lang komplizierte Melodien nachsingen und beobachtete die Veränderungen im Gehirn. „Sobald sie die Melodie besser nachsangen, war die Hirnaktivität plötzlich deutlich anders“, sagt er. „Ob sich das Gehirn verändert, hängt also möglicherweise nicht davon ab, wie lange oder viel wir üben, sondern davon, ob wir uns tatsächlich verbessern.“ Seine Beobachtung stützt sich jedoch bisher nur auf drei Versuchspersonen.

Selbst wenn erfahrene Sänger beim Singen beeinträchtigt werden, indem ihr Kehlkopf betäubt oder ihr Hören gestört wird, treffen sie Töne präziser als Gesangsunerfahrene, zeigt eine Studie der Universität Montreal. Das scheint mit der Insula zusammenzuhängen – einer Hirnregion, die sensorische und motorische Signale koordiniert. Bei einer Lähmung des Kehlkopfes war die Insula bei Sängern demnach weniger aktiv. War ihre akustische Wahrnehmung gestört, so war ihre Insula aktiver. Die Insula wird durch Singerfahrung offenbar sensibler gegenüber sensorischen Signalen und setzt diese Sensibilität je nach Situation vermehrt oder vermindert ein. Das erklärt, warum geübte Sänger in einem Chor die richtigen Töne treffen, obwohl sie sich selbst kaum hören. Sie haben durch ihre Erfahrung gelernt sich mehr auf sensorisches Feedback – also auf Empfindungen im Kehlkopf – zu verlassen.
Dass geübte Sänger sogar ohne korrigierenden auditorischen Input auskommen, hat Sängerin Mandy Harvey eindrucksvoll bewiesen: Nachdem sie mit 18 Jahren taub wurde, veröffentlichte sie fünf Alben und belegte 2017 den vierten Platz bei America’s Got Talent.
Anfänger hingegen verlassen sich stärker auf ihr Gehör, bis ihr Gehirn gelernt hat, wie sich ein bestimmter Ton im Körper anfühlen sollte. Das verdeutlicht auch eine Studie, die zeigt, dass Anfänger Töne präziser treffen, wenn ihr somatosensorischer Cortex von außen magnetisch stimuliert wird.
Singen ist menschlich
Für Salome geht es heute um mehr als Töne treffen – sie will das Stück „Memory“ aus dem Musical Cats mit Ausdruck singen. Ihre Gesangslehrerin fragt sie: „Was bedeutet der Text für dich? Welche Worte sind dir wichtig?“ Damit Salome den richtigen Ausdruck hinbekommt, rät Martin ihr zu einem Trick: Bei einer melancholischen Passage, soll sie an einen traurigen Moment in ihrem Leben denken. Bei einer wütenden Stelle im Stück, soll sie sich einen Streit mit einer imaginären Freundin vorstellen.
Warum ist Singen so eng mit Emotionen verknüpft? Wissenschaftler diskutieren, ob Gesang nur ein Nebenprodukt der Sprachentwicklung ist oder evolutionsbiologische Vorteile bietet – ähnlich wie bei Vögeln, die über Gesang ihr Territorium verteidigen und Partner anziehen. Martín Vivero vermutet, dass Musik und Singen wesentlich älter sind als Sprache. Feststeht: „Singen ist ein angeborener Trieb bei uns Menschen. Das sieht man bei kleinen Kindern, die beim Spielen vor sich hin singen“, ergänzt Musikphysiologe Altenmüller.

Aber kann wirklich jeder Singen lernen? Auch diejenigen, die absolut keinen Ton treffen, Ängste und Verspannungen haben? Die Forschung sagt: ja. Nur maximal fünf Prozent stoßen auf nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten. „Ich bin überzeugt davon, dass jede Person singen lernen kann“, bekräftigt Gesangslehrerin Martin.
In unserer Gesellschaft herrscht jedoch die falsche Vorstellung, dass Musikalität und gut singen zu können, etwas ist, mit dem man geboren wird – oder eben nicht. 17 Prozent der westlichen Bevölkerung glauben nicht, dass sie Tonhöhen unterscheiden können. Dabei leiden tatsächlich nur zwei bis vier Prozent der Menschen unter einer sogenannten Amusie – eine bisher als lebenslang geltende neurogenetische Störung, durch die Betroffene Tonhöhen und Melodien nicht unterscheiden können. Doch selbst für Personen mit Amusie gibt es Hoffnung: Eine Studie der Universität Minnesota zeigt, dass über die Hälfte der Probanden mit Amusie nach einem Training nicht mehr die Diagnostikkriterien erfüllte. Ein Jahr später konnten sie Töne und Melodien noch immer besser unterscheiden als vorher.
Manche Menschen lernen singen schneller als andere – genetische Veranlagung und frühe musikalische Prägung spielen eine Rolle. Doch ohne Training schöpfen wir nur einen Bruchteil unseres Potentials aus. „Bei manchen Menschen dauert es länger, bis das Gehirn erkennt, dass es sich an die Aufgabe anpassen muss“, sagt Vivero. „Wenn Menschen Töne nicht unterscheiden können, müssen sie einfach nur länger durchhalten, bis ihr Gehirn auf das Training anspringt.“ Und dafür ist es nie zu spät: Singen lernen kann man – nach Viveros Erfahrungen als Sprachpathologe – noch als Neunzigjähriger.
Altenmüller fordert: „Wir sollten zu dem zurückkommen, was singen eigentlich ist: nämlich ein natürlicher, normaler Ausdruck unseres Lebens.“ Salome nimmt erst seit sechs Monaten Gesangsunterricht und schon bald soll sie „Memory“ bei einem Konzert aufführen – über den eigenen Schatten zu springen, lohnt sich.