Bis 17 Uhr am Montag sollten die wichtigsten inhaltlichen Fragen geklärt sein – das war zumindest der Plan. Jede der 16 Arbeitsgruppen aus CDU/CSU und SPD war angehalten, bis zu diesem Zeitpunkt ihre Vorschläge für den Koalitionsvertrag hochzuladen. Die Überweisung von strittigen Punkten – in Blau die Position der Union, in Rot die der SPD – solle die Ausnahme bleiben, lautete der Auftrag der Parteispitzen an die Verhandler. Doch daraus wurde nichts.
In der Wirtschaftspolitik liegen die Positionen der potentiellen Koalitionäre weit auseinander. Ob Schulden, Steuern oder Sozialreformen: In der CDU wächst der Frust über die Kluft zwischen dem, was sie im Wahlkampf versprochen hat, und dem, was sie durchsetzen kann. Die Sozialdemokraten, so das verbreitete Gefühl, verhandeln geschickter.
Seinen Anfang nahm dieses Ungleichgewicht vier Tage nach der Bundestagswahl, am 27. Februar. An jenem Tag beraten auf Initiative des saarländischen Finanzministers Jakob von Weizsäcker (SPD) vier Ökonomen darüber, wie sowohl die Investitionen in die Verteidigung als auch die in die Infrastruktur deutlich steigen könnten. Der Sozialdemokrat, einst Abteilungsleiter im Bundesfinanzministerium und gut vernetzt, wählt die Runde mit Bedacht aus: Drei der Ökonomen werben schon seit Langem wie die SPD für eine Lockerung der Schuldenbremse. Aber von Weizsäcker holt auch Clemens Fuest vom Münchner Ifo-Institut dazu, der oft eher CDU- oder FDP-nahe Positionen vertritt. Die Runde einigt sich auf ein Papier, in dem sie zwei große neue Schuldentöpfe – jeweils mindestens 400 Milliarden Euro – für die Verteidigung und die Infrastruktur vorschlägt.
Es wird zur Tischvorlage für die Gespräche der Sondierer am Folgetag und von den Sozialdemokraten geschickt als Konsens der „Top-Ökonomen“ in Deutschland vermarktet. Danach lautet die Frage nicht mehr, ob die Schuldenbremse gelockert wird, sondern nur noch, wie sehr. Wenige Tage später ist die Sache beschlossen. Und nicht nur in der CDU fragen sich viele: Wie konnte sich ausgerechnet die Partei, die im Wahlkampf stets ihre Wirtschaftskompetenz betont hatte, in einer derart wichtigen Grundsatzfrage von der SPD überrumpeln lassen?
Die SPD hat bereits, was sie wollte
Erst Einsparpotentiale im Haushalt suchen und Bürokratie abbauen, dann eventuell auch über zusätzliche Schulden reden: Die von CDU-Chef Friedrich Merz vorgegebene Marschrichtung war bereits eine Woche nach der Wahl Makulatur. Das schnelle Einlenken beim Thema Schulden rächt sich nun. Die SPD hat bereits, was sie wollte. Die CDU dagegen muss darum kämpfen, zumindest einige ihrer Positionen durchzubekommen.
In der Steuerpolitik sieht es dabei nicht gut aus. Die christdemokratischen Unterhändler liefen in der zuständigen Arbeitsgruppe allzu oft gegen eine Wand. Die Sozialdemokraten drückten das Wahlergebnis (28,6 Prozent für die Union, 16,4 Prozent für die SPD) kühl beiseite, traten selbstbewusst in dem Wissen auf, dass Friedrich Merz nur mit ihren Stimmen Bundeskanzler werden kann, verhandelten auf Grundlage eingeforderter Gleichrangigkeit.
Nun zeigte sich, wie riskant die Verhandlungsstrategie des CDU-Vorsitzenden ist: Die Schuldenbremse im Grundgesetz ist so weit gelockert, dass sie kaum noch wirkt, aber eine steuerliche Entlastung der Bürger und Betriebe ist noch lange nicht in Sicht. Wenn die Einstellungen der potentiellen Koalitionspartner zu dem, was notwendig ist, um die Wirtschaft wieder flott zu machen, fundamental auseinanderliegen, wäre es wichtig, noch einen Trumpf in der Hand zu haben. Der aber fehlt Merz.
Eine Wirtschaftswende hat er versprochen. Der Ausbau der Mütterrente, der Steuerrabatt für die Gastronomie und die Rückkehr zum subventionierten Agrardiesel stehen genau für das Gegenteil. Doch dafür darf man nicht die Sozialdemokraten verantwortlich machen – in diesen Punkten diktierte die CSU der CDU ihre Wünsche. Die CDU hat zwar auch einige Punkte gemacht mit der Steuerfreiheit für Überstundenzuschläge und der steuerfreien Weiterarbeit im Rentenalter: Doch so schön das für alle ist, die davon profitieren – auf diese Weise lassen sich weder die Sozialbeiträge in Richtung 40 Prozent drücken noch die darnieder liegende Investitionstätigkeit der Privatwirtschaft wieder anfachen.
Dafür braucht es mehr, nicht zuletzt grundlegende Reformen in den Sozialversicherungen und eine Aussicht auf eine echte Steuerreform, damit Unternehmen nicht länger stärker belastet sind als ihre Konkurrenten im Ausland. Doch es gibt bisher kein Anzeichen, dass die SPD dabei mitziehen will. Im Gegenteil, sie stellt Forderungen für neue Subventionen auf: eine Kaufprämie für Elektroautos, finanziert aus dem Schuldentopf.
So wächst in der CDU der Verdruss. Und nicht nur dort. Wie man hört, sollen sich schon Wähler und Spender bei den Abgeordneten melden, um ihrem Unmut freien Lauf zu lassen. Die heikle Phase der Koalitionsverhandlungen nötigt die Abgeordneten von CDU und CSU, sich mit öffentlichen Einlassungen zurückzuhalten. Aber im vertraulichen Gespräch spricht der ein oder andere dann doch davon, dass er nur mit geballten Fäusten in der Tasche der Grundgesetzänderung zugestimmt habe. Und zuweilen klingen ob des Verhandlungsgeschicks ihres eigenen Kanzlerkandidaten gewisse Sorgen durch. Zu denken gibt den Unionsleuten auch, dass Merz so wenig auf das Fachwissen in der eigenen Fraktion setzt. Der Unmut ist nicht länger zu übersehen.