Prozess gegen RAF-Terroristin Daniela Klette nach 35 Jahren Untergrund

6

In der Ortschaft Eitze wird derzeit eine Reithalle umgebaut. Auf dem umzäunten Grundstück am Stadtrand von Verden wird für rund drei Millionen Euro ein Gerichtssaal errichtet, der höchsten Sicherheitsanforderungen entspricht. Da der Saal nicht rechtzeitig fertig wird, werden die Richter des Landgerichts Verden die Verhandlung gegen die ehemalige RAF-Terroristin Daniela Klette am Dienstagmorgen jedoch in einem besonders gesicherten Saal des Oberlandesgerichts Celle eröffnen.

Die 67 Jahre alte Klette muss sich dort wegen 13 Raubüberfällen verantworten, die sie gemeinsam mit den beiden ehemaligen RAF-Terroristen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg begangen haben soll. Diese Taten fanden im Zeitraum von 1999 bis 2016 statt. Doch im Fall Daniela Klette geht es um mehr. Es geht um die Gespenster der alten Bundesrepublik.

Daniela Marie-Luise Klette wird am 5. Januar 1958 in Karlsruhe geboren. Sie wächst in bürgerlichen Verhältnissen auf, die Mutter ist Zahnärztin, der Vater Vertreter. Die Tochter politisiert sich bereits in der Schulzeit über die damals verbreitete Kritik am Krieg in Vietnam und gerät von Mitte der Siebzigerjahre an mehr und mehr in linksextreme Kreise. Über die „Rote Hilfe“ kommt sie in Kontakt mit Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ und wird selbst Mitglied der Terrororganisation.

Welche Rolle spielte Klette in der dritten RAF-Generation?

Klette wird zur sogenannten dritten Generation der RAF gerechnet. Die dritte Generation unterscheidet sich von ihren Vorgängern darin, dass sie deutlich weniger Spuren hinterlässt. Sie kooperiert mit linksextremen Terrorgruppen aus anderen europäischen Ländern und begeht ausgeklügelte Sabotageakte und Morde an Managern wie dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, und dem Präsidenten der Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwedder.

Die genaue Rolle von Klette innerhalb der dritten Generation ist unklar. In drei Fällen gibt es aufgrund von DNA-Spuren aber eine große Wahrscheinlichkeit für eine Tatbeteiligung: erstens beim fehlgeschlagenen Anschlag auf ein Rechenzentrum der Deutschen Bank in Eschborn im Februar 1990. Zweitens ein Jahr später beim Schusswaffenangriff auf die amerikanische Botschaft in Bonn, bei der die RAF Dutzende Schüsse von der gegenüberliegenden Rheinseite abgab. Und Daniela Klette soll, drittens, auch dabei gewesen sein, als die RAF 1993 den Neubau der JVA Weiterstadt kurz vor deren Eröffnung mit rund 200 Kilogramm Sprengstoff in eine Ruine verwandelte. Es war der letzte Terroranschlag in der Geschichte der Terrororganisation, bevor diese im Jahr 1998 in einem Schreiben ihre Selbstauflösung bekannt gab.

Eine Luftaufnahme vom 28.3.1993 zeigt Teile des verwüsteten Gefängnisbaus in Weiterstadt bei Darmstadt.
Eine Luftaufnahme vom 28.3.1993 zeigt Teile des verwüsteten Gefängnisbaus in Weiterstadt bei Darmstadt.dpa

Zusammen mit Staub und Garweg entschied sich Klette damals, trotzdem im Untergrund zu bleiben. Klette lebte zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren in der Anonymität. Der letzte bekannte Kontakt der deutschen Behörden zu Klette fällt in die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Klette wird am 6. Dezember 1989 vor ihrer damaligen Wohnung in Wiesbaden von der Polizei kontrolliert. Danach schafft sie es knapp 35 Jahre lang, sich den Behörden zu entziehen. Das Leben im Untergrund finanzieren Klette, Staub und Garweg durch eine Serie von insgesamt 13 Raubüberfällen. Nach jahrelangen Ermittlungen und Auswertungen ist sich das Landeskriminalamt Niedersachsen ziemlich sicher, dass es daneben keine weiteren Überfälle gab.

Die Serie beginnt 1999 in Duisburg-Rheinhausen, wo das Trio einen Geldtransporter überfällt und eine Million Mark erbeutet. Die Ermittler können damals im Fluchtwagen DNA-Spuren der früheren Terroristen sichern. Es sind für viele Jahre die letzten Spuren des Trios. Erst in der Rückschau kommen die Behörden darauf, dass auch Überfälle 2004 in Leverkusen, 2006 in Bochum und 2009 in Löhne den früheren RAF-Terroristen zuzurechnen seien.

Überfälle erst in NRW, dann in Niedersachen

Mitte der Zehnerjahre verlagert sich der Schwerpunkt der Überfälle aus Nordrhein-Westfalen in den Raum Niedersachsen. Dies geht vermutlich einher mit einer Verlagerung des Lebensmittelpunkts vom Kölner Raum nach Berlin, wo Klette bis zu ihrer Festnahme jahrelang in einer kleinen 41 Quadratmeter-Wohnung in der Sebastianstraße in Kreuzberg leben wird.

Die Ermittler vermuten, dass die Konzentration der Überfälle in Niedersachsen dazu dient, einen lokalen Hintergrund der Täter vorzutäuschen. Dies gelingt auch lange Zeit, denn Klette, Staub und Garweg schaffen es, auch bei ihren Raubüberfällen kaum Spuren zu hinterlassen. Ihre Raubzüge werden ebenso akribisch geplant wie die Terroranschläge der dritten RAF-Generation. Die Zielobjekte werden vor den Überfällen über Wochen und Monate ausgespäht, die Fluchtwege sind präzise geplant. Das Trio mietet sich dafür in Ferienwohnungen oder anderen Unterkünften in der Region ein. In ihrem sozialen Umfeld in der Hauptstadt schützt Klette vor, dass sie in dieser Zeit im Süden Deutschlands arbeite, um Geld zu verdienen.

Die Taten laufen nach einem Muster ab. Ziel sind meistens Einkaufsmärkte in gesichtslosen Gewerbegebieten mit unmittelbarer Anbindung an eine Autobahn. Das Trio schlägt dort bevorzugt vor oder nach Feiertagen wie Weihnachten, Neujahr oder Ostern zu, an denen besonders hohe Beträge in Kassenräumen und Geldtransportern zu erbeuten sind.

Ermittler präsentieren eine Panzerfaustattrappe, die nach der Festnahme von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette sichergestellt wurden.
Ermittler präsentieren eine Panzerfaustattrappe, die nach der Festnahme von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette sichergestellt wurden.dpa

In Klettes Berliner Wohnung werden die Behörden später Waffen aus alten RAF-Beständen finden, mit denen das Trio die Angestellten bei den Überfällen bedroht hat. Pistolen, eine Kalaschnikow AK-74 sowie eine Panzerfaust, die allerdings nicht funktionsfähig ist. Für ihre Flucht verwenden Klette, Staub und Garweg Fahrzeuge, für die sie zuvor Kennzeichen baugleicher Exemplare in der Region entwendet haben. Das Fluchtauto wird dann in einem Waldstück zurückgelassen und in Brand gesetzt.

Nach einem gescheiterten Überfall auf einen Geldtransporter in Stuhr nahe Bremen am 6. Juni 2015 versagt jedoch der im Fluchtwagen verbaute Brandsatz mit Zeitzünder. Die Ermittlungsbehörden können den Innenraum des Wagens kriminaltechnisch untersuchen und stoßen auf DNA-Spuren der früheren RAF-Terroristen. Die Nachricht, dass Klette, Staub und Garweg hinter der Raubserie in Niedersachsen stecken, ist eine Sensation.

Ein Schuss in Stuhr

Die Tat in Stuhr ist noch aus einem weiteren Grund bedeutsam: Beim erfolglosen Versuch, in den Geldtransporter zu gelangen, schießt einer der Täter, vermutlich handelt es sich um Burkhard Garweg, mit seiner polnischen Kalaschnikow durch die gepanzerte Scheibe.

Die Kugel verfehlt den Geldboten nur knapp und bleibt in der Rückenlehne seines Sitzes stecken. Darauf gründet die Staatsanwaltschaft den Vorwurf des versuchten Mordes gegen Klette als Mitglied des Trios. Zu den Schlüsselfragen im anstehenden Prozess gehört, wie stichhaltig dieser Vorwurf ist. Die Verteidiger werden entgegnen, dass keine Tötungsabsicht vorlag, zumal das Ziel der Räuber war, dass der Geldbote die Tür seines Transporters von innen öffnet.

Ein Fahndungsplakat. Immer noch gesucht: Burkhard Garweg
Ein Fahndungsplakat. Immer noch gesucht: Burkhard GarwegAFP

Nach dem Fehlschlag von Stuhr wächst der Druck auf das Trio. Das zuständige niedersächsische Landeskriminalamt investiert nun enorme Ressourcen in die Ermittlungen. Die Behörden stoßen auf Aufnahmen von Garweg und Staub aus einem Bus in Osnabrück, zudem macht ein Gebrauchtwagenhändler heimlich ein Foto von Staub. Zugleich scheitern die ehemaligen RAF-Terroristen bei weiteren Überfällen, unter anderem auf einen Rewe-Markt in Hildesheim. Die enge zeitliche Taktung der Taten weist darauf hin, dass sie zu diesem Zeitpunkt dringend Geld benötigen.

Am 25. Juni 2016 verübt das Trio seinen letzten Überfall auf einen Geldtransporter in Cremlingen, das östlich von Braunschweig an der Autobahn 39 liegt. Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg erbeuten dort knapp 1,4 Millionen Euro. Ein Jackpot, durch den sie auf Jahre keine Geldsorgen mehr haben. Wie die F.A.Z. damals kurz nach der Tat enthüllen wird, haben die Behörden aus der Bevölkerung den Hinweis erhalten, dass das Cremlinger Gewerbegebiet möglicherweise von den ehemaligen RAF-Terroristen ausgespäht wurde. Daraufhin legen sich dort auch Beamte auf die Lauer, die aber kurz vor der Tat aufgrund knapper Ressourcen wieder abgezogen werden. Die Behörden verpassen damit ihre bis dahin vermutlich größte Chance, die ehemaligen RAF-Terroristen zu fassen.

Lebt Ernst-Volker Staub noch?

Obwohl sie in Deutschland und auch im europäischen Ausland fahnden, verliert sich die Spur von Klette, Garweg und Staub. Von Staub haben die Behörden schon seit mindestens fünf Jahren keinerlei Spuren mehr gesehen. Manche Ermittler glauben, dass er sich nach den letzten Raubüberfällen der Gruppe ins Ausland abgesetzt hat, vielleicht auch wegen der in seinem Fall besonders aussagekräftigen Fahndungsfotos. Andere glauben, dass Staub gestorben ist. Der überfallene Geldbote in Cremlingen hielt Staub zunächst für einen Obdachlosen. Auch die Zähne von Staub auf den Fahndungsfotos scheinen nicht von allerbester Gesundheit zu zeugen.

Es wird aber auch nicht ausgeschlossen, dass Staub, der inzwischen 70 Jahre alt wäre, mit Unterstützung aus der linken Szene weiter in Deutschland lebt. Dass er also den gleichen Weg gewählt hat wie Klette und Garweg, bei denen die Behörden jahrelang auch keinen Schimmer hatten, dass sie mitten in Berlin leben. Burkhard Garweg wohnte dort zuletzt in einen Bauwagen auf einem Gelände in Berlin-Friedrichshain, das von linken Aussteigern besiedelt wurde und keine hundert Meter entfernt liegt von der Berliner Außenstelle des Bundeskriminalamts.

Die BKA-Beamten konnten aus ihren Fenstern sogar direkt auf das linke Wohnprojekt am Markgrafendamm auf der anderen Seite der Bahngleise gucken. Der Hundeliebhaber Garweg hatte in seinem Bauwagen eine kleine Fälscherwerkstatt für Ausweisdokumente eingerichtet, betätigte sich als Fotograf und pflegte ein abwechslungsreiches Liebesleben, das die „Bild“-Zeitung zu einer knackigen Schlagzeile über das „Sex-Mobil des RAF-Terroristen“ inspirierte. Burkhard Garweg gab sich dabei als „Martin Becker“ aus, wobei allerdings nicht auszuschließen ist, dass seine wahre Identität manchen Wegbegleitern bekannt war. Ihre Bereitschaft, mit der Polizei zu kooperieren, ist auch weiterhin sehr gering.

Klette und Garweg waren in Kontakt

Zu Daniela Klette, die fünf Kilometer entfernt in Kreuzberg wohnt, hat Garweg einen regen Kontakt. Klette ist auch darüber hinaus kontaktfreudig. Sie interessiert sich besonders für die afrobrasilianische Kultur, lernt deren Tänze, übt sich im brasilianischen Tanzkampfsport Capoeira und tritt sogar auf dem Berliner „Karneval der Kulturen“ auf. Sie nutzt dabei falsche Namen – „Claudia Bernardi“, „Claudia Schmidt“ oder „Claudia Ivone“ – und schafft es sogar, mit ihren gefälschten Dokumenten mehrere Auslandsreisen nach Brasilien, Südafrika und Mosambik zu unternehmen.

Unter ihrem Decknamen „Claudia Ivone“ legt sie 2011 auch ein Profil bei Facebook an. Ihre dortigen Präferenzen belegen, dass Klette sich weiterhin der extremen Linken angehörig sieht. Sie vermeidet Selfies, ihr Gesicht ist jedoch auf der Homepage des Capoeira-Vereins zu sehen.

Einige Jahre später, im Jahr 2023, kontaktiert das Team eines ARD-Podcasts den Rechercheur Michael Colborne von der Rechercheplattform Bellingcat, die sonst die Gräueltaten und die Korruption von Autokraten wie Wladimir Putin aufdeckt. Colborne benötigt mithilfe von KI-Gesichtserkennung nicht einmal 30 Minuten, um auf Grundlage der öffentlichen Fahndungsfotos von Daniela Klette auf die Capoeira-Tänzerin in Berlin zu stoßen. Den deutschen Polizeibehörden ist die Nutzung solcher Softwareprogramme untersagt. Sie erhalten aber einige Wochen später einen Hinweis auf „Claudia Ivone“ in Berlin, von einer Person, deren Name unter Verschluss bleibt und die dafür mehr als 25.000 Euro Belohnung erhält.

Klettes Trick bei ihrer Festnahme

Für das niedersächsische Landeskriminalamt ist der Hinweis zunächst aber nur einer unter vielen. Die Ermittler haben schon viele Tipps erhalten, von denen viele in die Irre führten. Am 26. Februar klingeln die Beamten aus Hannover in Begleitung von Berliner Streifenpolizisten an der Tür im fünften Stock der Berliner Sebastianstraße. Daniela Klette schreibt, noch bevor sie öffnet, eine SMS an Garweg nach Friedrichshain, dass es an ihrer Tür klingelt. Sie öffnet die Türe, allerdings nur einen Spalt breit und mit vorgehängter Kette. Auch ihr Hund kommt mit zur Türe und bellt.

Klette sagt, sie müsse das Tier erst in einen anderen Raum bringen und schließt die Türe wieder für einige Sekunden. Dann öffnet sie die Türe. Die Ermittler betreten die Wohnung und fordern Klette auf, sie aufs Revier zu begleiten. Sie haben die frühere RAF-Terroristin immer noch nicht erkannt und entsprechen ihrer Bitte, zuvor noch auf die Toilette gehen zu dürfen. Klette kann auch ihr Handy mitnehmen und tippt dort eine zweite SMS an Garweg. „Es ist das LKA. Sie haben mich.“ Ihr Komplize hat dadurch ausreichend Zeit zur Flucht. Auf dem Weg zum Revier offenbart Claudia Ivone dann ihre wahre Identität. „Ich bin Daniela Klette von der RAF und bin festgenommen“, bricht es nach Jahrzehnten im Untergrund laut aus ihr hinaus.

Der Ausruf ist aufschlussreich, weil Klette nicht sagt, dass sie früher einmal in der RAF war und auch die Selbstauflösung der Terrororganisation unerwähnt lässt. Aus ihrer Haft in der JVA Vechta heraus lanciert Klette auch ein Schreiben an die Öffentlichkeit, in dem sie im alten RAF-Sound vom „Kampf um Befreiung“ schwärmt, der auf „eine Welt ohne Gier nach Geld, frei von Ausbeutung und jeglicher Unterdrückung“ ziele.

Nach der geglückten Flucht aus der Bauwagensiedlung werden auch zwei Schreiben veröffentlicht, in denen Garweg, sofern er tatsächlich der Verfasser der Schreiben ist, kaum Distanz zu seiner linksterroristischen Vergangenheit erkennen lässt und sich unverdrossen als Teil der „revolutionären Linken“ bezeichnet. All das führt zu der Frage, ob man die Terroranschläge von Klette, Staub und Garweg tatsächlich feinsäuberlich von ihren späteren, vermeintlich ideologiefreien Überfällen trennen kann, wobei die Selbstauflösung der RAF 1998 die Wasserscheide zwischen beiden Phasen bildet.

In der behördlichen Aufarbeitung werden beide Phasen strikt getrennt. Die Ermittlungen zu den früheren Terroranschlägen liegen beim Bundeskriminalamt und dem Generalbundesanwalt. Das Landeskriminalamt Niedersachsen und die Staatsanwaltschaft Verden ermitteln nur wegen der Raubüberfälle und haben auch nur diese vor dem dortigen Landgericht angeklagt.

Die Beweisführung in dem Verfahren, das im Mai nach Verden in die dann umgebaute Reithalle verlegt werden soll, gilt als sehr aufwendig. Klettes Anwälte behaupten bereits, dass es einen vierten Täter gegeben habe. Das würde den Nachweis, dass unter einer der drei Masken bei einem Überfall tatsächlich Daniela Klette steckte, erheblich erschweren. Prozessbeobachter gehen davon aus, dass das Verfahren zwei bis drei Jahre dauern könnte, sofern Daniela Klette kein Geständnis ablegt.