Studenten protestieren in Istanbul gegen Erdogan

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Auf der Galatabrücke in Istanbul kann man am Montagabend einer neuen Studentenbewegung bei ihrer Entstehung zuschauen. Man sieht, wie die Studenten Protestformen erproben und verwerfen. Wie sie entscheiden, ob sie Polizeianweisungen ignorieren und wie viel Risiko sie eingehen sollen.

Es ist 20 Uhr. Vor dem Rathaus von Istanbul versammeln sich zur gleichen Zeit einmal mehr die Massen. Doch die Studenten auf der Galatabrücke wollen nicht zum Rathaus. Sie wollen die Brücke besetzen und den Verkehr lahmlegen. Sie wollen, dass möglichst viele Istanbuler merken, dass dies keine gewöhnlichen Zeiten sind, in denen das Leben einfach weitergeht.

Es sind Tausende Studenten aus allen Universitäten der Stadt dabei. Sie wollen nicht länger nur den Aufrufen der Republikanischen Volkspartei (CHP) des inhaftierten und suspendierten Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu folgen. Sie sprechen vom Kampf gegen die Diktatur, vom Sturz des Präsidenten. „Ich kenne keinen anderen“, sagt ein Student der Ingenieurwissenschaften. Er ist 2004 geboren. 2003 wurde Recep Tayyip Erdoğan zum Ministerpräsidenten gewählt.

Sie glauben an die Macht der Straße

Um 17 Uhr nachmittags haben sie sich im zentralen Stadtteil Beşiktaş getroffen und den Feierabendverkehr über Stunden zum kompletten Stillstand gebracht. Ihr Motto: „Die Jugend passt nicht in den Saraçhane.“ Gemeint ist der Platz vor dem Rathaus, auf dem die CHP seit Mittwoch allabendlich vor Zehntausenden Menschen ihre Kundgebungen abhält. „Wir vertrauen keinen bourgeoisen Politikern“, sagt ein Student mit Feinstaubmaske. „Wir wollen unsere eigene Studentenbewegung schaffen. Wir glauben an die Macht der Straße.“

Erstes Etappenziel sei ein Boykott aller Bildungseinrichtungen. Der Student gehört zu denen, die entschieden haben, die Galatabrücke zu besetzen. Erst sitzen sie, dann tanzen sie. „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei“, schallt es über die Brücke. „Bitte gehen Sie weiter nach Saraçhane. Wir wollen die Brücke für den Verkehr öffnen.“

Der Student zeigt sich frustriert von seinen Mitstudenten. „Wir haben Komitees gegründet, aber es gelingt uns nicht, effektiv zu kommunizieren. Die Polizei ist in unseren Gruppenchats.“ Am Ende wird die Brücke geräumt. Erst schickt die Polizei Vermittler. Dann droht sie mit Einkesselung. Der harte Kern wird mit roher Gewalt, mit Pfefferspray und Schlagstöcken vom Platz geschafft.

Eine neue Dynamik

Der Umgang mit der Polizei ist eine Schlüsselfrage. „Polizisten, verkauft Simit, lebt ehrenhaft“, rufen die Studenten. Für sie sind die Sicherheitskräfte Handlanger eines autoritären Regimes. Zur gleichen Zeit spricht CHP-Chef Özgür Özel vor dem Rathaus von „unseren Brüdern von der Polizei, denen illegale Anweisungen gegeben werden“. Er distanziert sich von „ungerechtfertigten Angriffen gegen unsere Polizei“, nicht aber von Polizeigewalt.

Özel will verhindern, dass die Proteste als gewalttätig diskreditiert werden. Präsident Erdoğan droht ihm am Abend in einer Rede: „Die alleinige Verantwortung für die verletzten Polizisten . . . die zerbrochenen Schaufenster . . . und Milliarden Schäden an öffentlichem Eigentum trägt der Chef der größten Oppositionspartei.“ Erdoğan spielt auf der bekannten Klaviatur der Spaltung der Gesellschaft. Er behauptet, dass die Demonstranten Moscheen in Trinkhallen verwandelt und alte Gräber geschändet hätten.

Wie die Studenten spricht auch Özel am Montagabend davon, dass die Proteste jetzt ihre „Form ändern“ sollen. Er weiß, dass er eine neue Dynamik entfachen muss, damit die Demonstrationen nicht vor Erschöpfung austrudeln. Unter anderem ruft er zu einem Käuferboykott gegen regierungsnahe Unternehmen auf: eine Kaffeehauskette, ein Tankstellenkonzern, eine Reisebuchungsplattform, ein Buchhandelsunternehmen. So soll der Druck auf Erdoğan in dessen eigenem Lager erhöht werden.

Es sei wichtig, sagt Özel, nicht die Mitarbeiter der Unternehmen in Mithaftung zu nehmen. „Der Kameramann des regierungsfreundlichen Senders will nur sein Brot verdienen.“ Die Partei richtet eine Website ein, auf der die Firmen aufgelistet sind. Man solle nicht auf andere Listen reinfallen, die von regierungsnahen Unternehmern verbreitet würden, um ihre Wettbewerber auszuschalten, warnt Özel. Mit dem Käuferstreik will die CHP auch Druck auf die regierungsnahen Fernsehsender aufbauen. Er richtet sich gezielt gegen deren Schwesterunternehmen. Am Dienstag scheint das eine gewisse Wirkung zu zeigen. Auf einmal berichten auch diese Sender über Özels Rede.

Der Aufruf zum zivilen Ungehorsam soll breiten Teilen der Gesellschaft ermöglichen, ein Zeichen zu setzen. In der säkularen türkischen Mittelschicht, die unter Erdoğan einen erheblichen Status- und Wohlstandsverlust erlitten hat, gibt es viel Sympathie für die Studenten. Sie klatschen ihnen Beifall und hupen im Stau. Professoren ermutigen ihre Studenten, auf die Straße zu gehen. „Sie haben unsere Kurse abgesagt und unsere Abschlussprüfungen verschoben“, berichtet ein Ingenieurstudent. „Sie haben uns gesagt, wir müssten jetzt die Nation schützen.“

Von der Haltung der breiteren Gesellschaft jenseits der klassischen CHP-Klientel wird es abhängen, ob Erdoğan in die Defensive gerät und die Proteste nicht einfach nur aussitzen kann. Von den regierungsnahen Unternehmern, die Einbußen fürchten. Von Politikern der Regierungspartei, denen all das womöglich zu weit geht. Von den Kindern der Polizisten und Ehefrauen der Richter. Weder die Justiz noch das Parlament sind noch in der Lage, die Macht des Präsidenten zu beschränken, weil er in den vergangenen Jahren alle Institutionen mit Loyalisten besetzt hat.

Auf der Straße zeigen sich Risse

Die Proteste hätten schon jetzt viel erreicht, sagt Özel. Sie hätten die Zentralregierung davor zurückschrecken lassen, İmamoğlu durch einen staatlich ernannten Zwangsverwalter zu ersetzen. „Ihr habt das verhindert“, ruft Özel der Menge zu. Istanbul bleibt vorerst in der Hand der CHP. Sie will am Mittwoch einen Vertreter für den suspendierten İmamoğlu ernennen.

Was das bedeutet, lässt sich an jeder Straßenecke ablesen. Die Busse zum Beispiel, in denen die Hundertschaften der Polizei aus weit entfernten Landesteilen in der Stadt verteilt werden, sind von Tourismusunternehmen angemietet, weil das Innenministerium keinen Zugriff auf die städtischen Busse hat.

Während die noch kaum organisierten Studenten vage Umsturzpläne äußern, nennt Özel konkrete Forderungen: die Freilassung İmamoğlus während seines Gerichtsprozesses und die Liveübertragung des Prozesses im Fernsehen. Am Dienstag besucht er İmamoğlu im Gefängnis von Silivri. Der suspendierte Bürgermeister ist dort in prominenter Gesellschaft. In Silivri sitzen die politischen Gefangenen der Gezi-Proteste von 2013, wie der Kulturmäzen Osman Kavala und der Rechtsanwalt Can Atalay.

Özel ruft zur Einheit auf. Nationalisten, Konservative, Sozialdemokraten, Aleviten, Sunniten, Kurden müssten zusammenstehen. Als einendes Element beschwört er die bei der Staatsgründung vor hundert Jahren bestimmte Gesellschaftsordnung des Säkularismus.

Doch auf der Straße zeigen sich Risse. Manche Teilnehmer zeigen den ultranationalistischen Wolfsgruß und halten Plakate hoch, auf denen der PKK-Chef Abdullah Öcalan als „Bastard“ bezeichnet wird. Vielen Kurden dürfte es schwerfallen, unter solchen Plakaten mitzulaufen. Die Regierung versucht gezielt, die Risse zu vertiefen. Der kurdischen DEM-Partei sind die Hände gebunden, weil sie den parallel stattfindenden Verhandlungsprozess über eine Entwaffnung der PKK nicht gefährden will.

Verkauf von F-35-Kampfflugzeuge

Präsident Erdoğan zeigt sich derweil zuversichtlich, dass die Inhaftierung seines stärksten politischen Gegners außenpolitisch keinen Gegenwind erzeugt. „Die hitzigen Debatten der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die europäische Sicherheit ohne die Türkei unmöglich sein wird“, sagt der Präsident am Montagabend. Die Beziehungen zu den USA wähnt er in einem „neuen Momentum“. Özels Stellvertreter İlhan Uzgel sagt dazu: „Sie betrachten das internationale Umfeld als günstig für eine Zerschlagung der Opposition.“

Außenminister Hakan Fidan soll am Dienstag in Washington von seinem Amtskollegen Marco Rubio empfangen werden. In Ankara heißt es, das Treffen diene der Vorbereitung eines möglichen Erdoğan-Besuchs. Donald Trumps Vorgänger Joe Biden hat Erdoğan nie im Weißen Haus empfangen. Auf der Agenda steht nun nach türkischen Angaben auch der Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen, die Amerika Erdoğan bisher verweigert hat, nachdem dieser 2019 von Russland das Raketenabwehrsystem S-400 gekauft hatte.

Ungeachtet der Festnahme İmamoğlus hatte Trumps Sondergesandter Steve Witkoff in einem Interview am Freitag mit Blick auf ein Telefonat zwischen Trump und Erdoğan gesagt: „Viele gute, positive Nachrichten kommen aus der Türkei.“ Und die diplomatische Vertretung der USA in Ankara hat in diesen Tagen auf der Plattform X nur eine Botschaft für die türkische Bevölkerung: „Wenn Sie versuchen, illegal (in die USA) einzureisen, werden Sie ergriffen, rausgeworfen und nie mehr zurückkommen.