Die ukrainische Gegenoffensive im Süden ist weitgehend gescheitert. Ein wichtiger Grund dafür ist die vom russischen Kalaschnikow-Konzern entwickelte Kampfdrohne Lanzet. Russland setzt sie mit verheerender Wirkung ein – und verfolgt noch viel bedrohlichere Pläne.
Zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine blamierten sich die Truppen des Kremls in vielerlei Hinsicht: Panzerkolonnen fuhren geradewegs in ukrainische Hinterhalte, Lastwagen blieben ohne Treibstoff stehen, die Flugabwehr verriet peinliche Lücken, und selbst Generäle wurden abgehört, weil ihnen sichere Kommunikationsgeräte fehlten. Doch Russlands Streitkräfte haben eindeutig hinzugelernt. Das oft verspottete Bild einer Armee, die auf uralte Sowjettechnik und Sturmangriffe mit «Kanonenfutter»-Soldaten setzt, ist allzu einseitig.
Ein Beispiel für Russlands Fähigkeit zur Innovation sind die Kamikaze-Drohnen des Typs Lanzet. Anders als die aus Iran importierten Shahed-Langstrecken-Drohnen, mit denen Russland die ukrainische Energieinfrastruktur attackiert, handelt es sich bei der Lanzet um eine russische Eigenentwicklung. Moskau hat sie in diesem Jahr bereits zu Hunderten eingesetzt und damit dem ukrainischen Militär schwere Verluste zugefügt. Kürzlich hat sogar der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschni in einem Grundsatzartikel die Lanzet-Drohnen als Problem hervorgehoben.
Absturz und Explosion
Russische Kanäle veröffentlichen fast täglich neue Videos von ukrainischen Artilleriegeschützen, Radaren und sogar Kampfpanzern, die einer explodierenden Lanzet zum Opfer fallen. So, wie ukrainische Patrioten in sozialen Netzwerken Bilder von russischen Verlusten verbreiten, ergötzen sich in Russland die Anhänger des Krieges an eigenen Erfolgen.
Das untenstehende Video enthält einen Zusammenschnitt von fünf solchen Angriffen im November. Einige dieser Sequenzen zeigen zuerst die Perspektive der Kamikaze-Drohne, die auf ihr Ziel zurast, und danach die Aufnahme des Geschehens durch eine weiter oben fliegende Überwachungsdrohne. Gut erkennbar ist jeweils, wie die Lanzet-Drohnen mit grosser Geschwindigkeit auf das Ziel abstürzen und dabei explodieren. Allerdings haben die russischen Quellen ein Interesse daran, nur die geglückten Angriffe zu zeigen. Gleichwohl ist deren Zahl sehr hoch, was die ukrainischen Operationen teilweise lähmt.
Lanzet-Drohnen treffen getarnte Artilleriegeschütze, einen Flugabwehr-Unterstand, einen Kampf- und einen Schützenpanzer der Ukraine.
Die Brillanz dieser russischen Entwicklung besteht nicht zuletzt in ihrer Einfachheit. Die Herstellung der Lanzet-Drohnen – das Wort entspricht der deutschen «Lanzette», einer Stechhilfe für den medizinischen Gebrauch – kostet nach russischen Angaben nur drei Millionen Rubel oder umgerechnet 30 000 Franken. Wenn es damit gelingt, ein westliches Militärgerät im Wert von Hunderttausenden oder gar mehreren Millionen Dollar zu zerstören, ist die Erfolgsbilanz klar.
Das mehrheitlich eingesetzte Modell Lanzet-3, gut erkennbar an seinen beiden x-förmigen Flügelpaaren, wurde erstmals 2019 an einer Rüstungsmesse präsentiert, kam aber erst dieses Jahr in grosser Zahl zum Einsatz. Es wiegt nur 12 Kilogramm und kann einen Sprengkopf von 3 bis 5 Kilogramm tragen. Mit ihrem Elektromotor kommt die Drohne auf eine Reichweite von 40 Kilometern und beim Sturzflug in Richtung Ziel auf eine Maximalgeschwindigkeit von 300 Kilometern pro Stunde. An ihrer Spitze verfügt sie über optische Sensoren, die der Navigation und Zielerfassung dienen. Die Auswertung von Trümmerteilen hat ergeben, dass dieses russische Produkt viele westliche Komponenten enthält, darunter Mikrochips aus der Schweiz.
Die Lanzet schliesst für Russlands Militär eine wichtige Lücke zwischen den grösseren Shahed-Drohnen, die auf Langstreckeneinsätze ausgelegt sind, und Billig-Drohnen wie DJI-Quadrokoptern, die nur einige Kilometer weit fliegen und weniger Sprengstoff tragen können. Die Lanzet-Drohnen sind für Russlands Militär vor allem deshalb so nützlich, weil sie den russischen Nachteil bei der Artillerie teilweise kompensieren. Die ukrainische Artillerie verfügt dank westlichen Lieferungen über eine höhere Reichweite und grössere Präzision. Bei der Bekämpfung ukrainischer Stellungen, dem sogenannten Konterbatterie-Feuer, ist die russische Artillerie deshalb tendenziell unterlegen. Kamikaze-Drohnen schaffen Abhilfe: Sie ermöglichen es den Russen, gegnerische Geschütze systematisch auszuschalten.
Eingesetzt wird die Lanzet meist in Kombination mit einer Aufklärungsdrohne, zum Beispiel einer Orlan-10, einer weiteren russischen Eigenentwicklung. Hat die Aufklärungs-Drohne ein ukrainisches Ziel entdeckt, wird eine Lanzet zum Angriff geschickt. Der Start erfolgt dabei durch ein Katapult.
Gute Rezepte gegen diese Waffen haben die Ukrainer bis jetzt nicht gefunden. Da die kleinen Flugobjekte vom Radar nicht erkannt werden, erfolgen die Angriffe meist überraschend. Abgesehen von besserer Tarnung bestehen Behelfslösungen darin, das eigene Militärgerät mit Maschengittern und Metallkäfigen zu bedecken. Bleiben die Drohnen dort hängen, so vermindert sich ihre Explosionswirkung. Auch sonst richtet laut ukrainischen Berichten der kleine Sprengsatz nicht immer irreparable Schäden an.
Doch für die ukrainischen Truppen in Frontnähe bleiben die feindlichen Kamikaze-Drohnen eine eigentliche Plage. Das russische Militäranalyse-Portal «Lost Armour» hat bis Ende November 813 Videos von Lanzet-Angriffen ausgewertet. Demnach kam es in 250 Fällen zu einer Zerstörung und in weiteren 438 Fällen zu einer Beschädigung des militärischen Ziels. In rund der Hälfte der Fälle handelte es sich dabei um Artilleriewaffen, bei knapp jedem vierten um Panzerfahrzeuge, seltener gerieten auch Flugabwehrstellungen und Radaranlagen ins Visier.
Besonderes Aufsehen erregten zwei Angriffe im Frühherbst auf eine ukrainische Luftwaffenbasis weit hinter der Front. Dabei erlitten zwei Kampfflugzeuge starke Schäden.
Weil dieser Stützpunkt 65 Kilometer vom nächstgelegenen Ort unter russischer Kontrolle liegt, gehen Beobachter von einer Weiterentwicklung der Lanzet-Drohnen aus, die höhere Reichweiten ermöglicht. Entsprechend wächst die ukrainische Beunruhigung.
Produktion wird angekurbelt
Die Einschätzung des ukrainischen Generalstabs von Anfang Juli, wonach Russland die meisten seiner Lanzet-Drohnen bereits verbraucht habe und nur noch 50 Stück besitze, hat sich als falsch erwiesen. In jenem Monat sowie im August erreichten die russischen Kamikaze-Aktionen mit 260 durch Videos belegten Angriffen einen Höhepunkt – parallel zum Höhepunkt der ukrainischen Gegenoffensive, die danach verebbte. Aber auch im November, mit 87 belegten Einsätzen, häuften sich die Lanzet-Angriffe.
Präsident Putin hat eine Ausweitung der Drohnen-Produktion angeordnet und im September auf einer seiner eher seltenen Reisen die Lanzet-Fabrik der Rüstungsfirma Zala Aero in der Stadt Ischewsk im Uralgebiet besucht.
Zala Aero gehört zum staatsnahen Kalaschnikow-Konzern, der nach dem Entwickler des weltweit berühmtesten Sturmgewehrs benannt ist. Die Geschichte scheint sich nun zu wiederholen: Wie der legendäre Michail Kalaschnikow wird nun auch der Chefmanager hinter der Lanzet-Entwicklung, Alexander Sacharow, in Russland als Held gefeiert. Sacharow führte diesen Sommer für eine Reportage des Staatsfernsehens durch seine Produktionshallen. Diese sind ausgestattet mit japanischen und südkoreanischen Fertigungsanlagen – die Sanktionen gegen Russlands Rüstungsindustrie scheinen nicht zu greifen. Um die Produktion auszuweiten, hat die Firma auch die Räumlichkeiten eines stillgelegten Warenhauses übernommen.
Sacharows Ruhm ist nicht unverdient. Die Ukraine hat keine vergleichbare Drohne entwickelt, und die von den USA erhaltenen Kamikaze-Drohnen des Typs Switchblade 600 haben die hohen Erwartungen nicht erfüllt. Klar ist, dass Drohnen wie die Lanzet die Kriegführung stark verändern werden. Der Wettlauf um die führende Technologie hat erst begonnen. Die Ukraine experimentiert mit noch billigeren und damit in grösseren Mengen herstellbaren Drohnen.
Sacharow und Zala Aero haben ihrerseits bereits den nächsten Quantensprung angekündigt: die Entwicklung einer neuen Generation von Lanzet-Drohnen namens «Produkt 53». Sie sollen in Schwärmen einsetzbar sein, untereinander kommunizieren und das militärische Ziel selbständig erfassen können – ein Schreckensszenario, das auch manchen westlichen Militärplanern schlaflose Nächte bereiten dürfte.